In Deutschland wird es 2015 mehr Asylanträge als jemals zuvor geben. (Bild: Fotolia/Trueffelpix)
Prognose

800.000 Asylbewerber nach Deutschland

Die Bundesregierung rechnet im laufenden Jahr mit bis zu 800.000 Flüchtlingen und Asylbewerbern in Deutschland. Das teilte Innenminister Thomas de Maizière (CDU) mit. So viele Asylbewerber, wie sie nun erwartet werden, kamen noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik in einem Jahr ins Land.

Der Bund korrigierte seine Prognose damit wie erwartet erheblich nach oben. Bislang war das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge von 450.000 Asylanträgen bis zum Jahresende ausgegangen. Den bisherigen Höchststand an Asylanträgen hatten die Behörden 1992 während der Bürgerkriege in Ex-Jugoslawien mit etwa 440.000 Asylanträgen registriert. De Maizière sprach von einem „Allzeithoch“ und einer großen Herausforderung, versicherte aber gleichzeitig: „Überfordert ist Deutschland mit dieser Entwicklung nicht.“ Nach de Maizières Schätzungen werden schnellstmöglich 100.000 bis 150.000 zusätzliche Plätze in Erstaufnahmeeinrichtungen benötigt. Notwendig seien darüber hinaus Gesetzesänderungen, um kurzfristig wintersichere Quartiere anstelle von Zelten anbieten zu können.

40 Prozent werden bleiben

Gründe für den Flüchtlingszuwachs gebe es mehrere, so der Bundesinnenminister. Die Zugänge in der zweiten Jahreshälfte fielen gewöhnlich immer höher aus. Außerdem habe sich die Situation in Griechenland drastisch verschärft, ebenso in Syrien und Nordafrika. Eine Trendwende im West-Balkan ist noch nicht in Sicht. 40 Prozent der Flüchtlinge werden laut dem Innenminister vermutlich in Deutschland bleiben. Daher seien nun ihre Integration, mehr Wohnungsbau, sowie Arbeitsplätze und Essen für diese neuen Einwanderer unabdingbar.

Vertreter von Bund, Ländern und Gemeinden wollen nun am 24. September zu einem sogenannten Flüchtlings-Gipfel zusammenkommen, um das weitere Vorgehen zu verabreden, wie de Maizière ankündigte. Dabei gehe es auch darum, wie die derzeitigen Zeltstädte winterfest gemacht werden könnten. Ausdrücklich wandte sich der Innenminister zudem gegen Angriffe auf Asylbewerberheime: „Wir werden dem in aller Härte entgegen treten.“

„Das sprengt alle Vorstellungen.“

„Die neue Prognose sprengt alle Vorstellungen. Sie bedeutet, dass wir in Bayern über 120.000 Asylbewerbern in diesem Jahr unterbringen und versorgen müssen“, so Bayerns Sozialministerin Emilia Müller. „Die Zahl der im Freistaat ankommenden Asylbewerber wird nochmals deutlich höher sein, da Bayern an zwei Hauptfluchtrouten liegt. Dieser exorbitant hohe Zugang stellt uns nicht nur organisatorisch, sondern auch finanziell vor große Herausforderungen. Wir können diese Last nicht mehr alleine stemmen. Der Bund muss sich nicht nur in diesem Jahr, sondern strukturell und dauerhaft an den Unterbringungs- und Versorgungskosten für die Asylbewerber beteiligen.“ Müller ergänzte: „Der Bund muss den Ländern aber auch bei der Wohnraumförderung stärker finanziell unter die Arme greifen. Bayern investiert bereits viel in die Wohnraumförderung. Aber wir brauchen noch deutlich mehr preisgünstigen Wohnraum. Denn wir wollen keine Konkurrenzsituation zwischen auszugsberechtigten Asylbewerbern oder Flüchtlingen und beispielsweise einkommensschwachen Familien in Bayern aufkommen lassen.“

Entschlossenes Handeln notwendig

Rund 40 Prozent aller Asylantragsteller in diesem Jahr kamen aus dem Balkan. Ihre Anerkennungsquote liegt bei nahezu null Prozent, da sie in ihren Heimatländern nicht politisch verfolgt werden. „Zwar ist die Zahl der Asylbewerber aus dem Balkan hoch, aber wir haben bereits Maßnahmen in die Wege geleitet. im September gehen unsere beiden Aufnahmezentren für Menschen aus dem Westbalkan in Betrieb. Nach beschleunigten, rechtstaatlichen Asylverfahren können wir die Asylbewerber wieder rasch in ihre Heimat zurückführen. Damit setzen wir ein deutliches Zeichen, dass wir Asylmissbrauch nicht tolerieren“, so die Ministerin und ergänzte: „Aber auch vom Bund fordern wir entschlossenes Handeln ein.“ Folgende Maßnahmen seien notwendig:

  • Ausweitung der Liste der sicheren Herkunftsländer auf alle Westbalkanstaaten,
  • Aussetzung der Visafreiheit für diese Staaten,
  • Ausweitung der Leistungskürzungen für Menschen aus sicheren Herkunftsländern und für diejenigen, deren Asylanträge als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden.

Darüber hinaus sieht Müller alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union in der Pflicht. „Es ist einer europäischen Gemeinschaft nicht würdig, dass sich hier nur einige wenige Länder engagieren und Asylbewerber aufnehmen. Ich fordere eine gerechte Verteilung der Asylbewerber innerhalb der EU, so dass die Belastung auf viele Schultern verteilt wird. Außerdem ist es notwendig, die Fluchtursachen in den Herkunftsländern stärker zu bekämpfen. Der Außen- und Entwicklungspolitik der EU muss dafür mehr Gewicht verliehen werden“, so die Ministerin abschließend.

Die Warnungen haben sich bewahrheitet

„Wenn sich tatsächlich bis Jahresende die Zugangszahlen bei den Flüchtlingen gegenüber dem Vorjahr nahezu verdreifachen, erwarten wir bei der Unterbringung erhebliche Vollzugsprobleme, wenn der Bund nicht endlich durchgreifende Maßnahmen anpackt!“, erklärte auch der Präsident des Bayerischen Landkreistags, Deggendorfs Landrat Christian Bernreiter. „Hinter diesen Zahlen stecken Menschen – auf Seiten der Schutzsuchenden, aber auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sich Tag für Tag aufreiben“, so Bernreiter. Ohne den übermenschlichen Einsatz von Bundespolizei, Erstaufnahmeeinrichtungen, Landratsämtern, Jugend- und Ausländerbehörden hätte schon der bisherige Ansturm an Flüchtlingen nicht bewältigt werden können, erklärte er.

Hinter diesen Zahlen stecken Menschen – auf Seiten der Schutzsuchenden, aber auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sich Tag für Tag aufreiben.

Christian Bernreiter, Bayerischer Landkreistagspräsident

„Schon seit dem vergangenen Winter müssen die Landkreise im Rahmen eines Notfallplans die überlaufenden staatlichen Erstaufnahmeeinrichtungen mit der Errichtung von Notunterkünften unterstützen. Damals wurde uns Alarmismus vorgeworfen. Jetzt zeigt sich: Unsere Warnungen vor einem Notstand haben sich bewahrheitet.“ Die Übernahme dieser staatlichen Aufgabe durch die Landratsämter koste die Mitarbeiter erhebliche Kraft und führe dazu, dass andere Arbeiten in den Landratsämtern unerledigt bleiben. „Wenn wir diese Erfahrung auf den kommenden Winter übertragen bei den zu erwartenden Fallzahlen, wissen wir nicht, wie wir das schaffen sollen. Wir brauchen Kapazitäten für die Menschen, die unsere Hilfe brauchen.“ Dafür müsse eine wirksame Handhabe in Sachen Flüchtlinge aus sicheren Herkunftsländern geschaffen werden.

Mehr Freiräume statt Bürokratie

Für Präsident Bernreiter besteht das Problem vor allem darin, dass von politischer Seite der Verwaltung mehr Handlungsspielräume verschafft werden müssen: „Wegen der späteren Rechnungsprüfung verkämpfen sich die Vollzugsbehörden schon heute. Da wird sich zu sehr mit Fragen der Einhaltung der Wirtschaftlichkeit von Ausgaben sowie mit Belegführung beschäftigt. Das kostet unendlich viel Zeit und Ressourcen. Bei allem Verständnis für die Notwendigkeit einer geordneten Verwaltung müssen hier dringend von oben Vorkehrungen getroffen werden, so dass vor Ort schneller gearbeitet werden kann. Nur wenn hier mehr Freiräume, etwa im Bauplanungsrecht für Unterkünfte, geschaffen werden, können wir die Herausforderungen im kommenden Winter bewältigen!“

(dpa)