Flüchtlingsboot vor der Küste der italienischen Insel Lampedusa. Foto: Italian Navy
Migranten-Krise

Völkerwanderung über die Ägäis

Die Zahl der Migranten, die über die Balkan-Route über die Türkei, Griechenland und die Westbalkan-Länder nach Mitteleuropa einwandern, wächst dramatisch. Von 124.000 Migranten, die dieses Jahr Griechenland schon erreicht haben, kamen 50.000 allein im Juli. Auf den griechischen Ägäis-Inseln entgleitet die Situation.

Der dramatische Alarmruf kommt vom Bürgermeister des Ägäis-Urlaubsparadieses Kos: „Wir haben hier die Gefahr unkontrollierbarer Situationen. Ich warne davor, die Gefahr eines Blutvergießens ist real.“

Weil die kleine Insel nur fünf Kilometer von der türkischen Küste entfernt liegt, ist sie jetzt einer der Orte in Griechenland, wo sich Europas eskalierende Zuwanderungskrise zuspitzt – und außer Kontrolle zu geraten droht. Die 290 Quadratkilometer große Insel hat ungefähr 30.000 Einwohner. Derzeit sind dort etwa 7000 Migranten gestrandet. Viele kommen aus Syrien, aber in Berichten aus Kos werden ebenso häufig auch Ankömmlinge aus Afghanistan und Somalia genannt. Der Anteil pakistanischer Migranten sei deutlich gestiegen, heißt es.

Wenn das Europa ist, dann gehe ich zurück nach Syrien.

Syrien-Migrant auf der Ägäis-Insel Kos

Die Migranten campieren auf den Straßen, Plätzen und in den Parks der Hauptstadt Kos. Jeden Tag kommen Hunderte weitere Migranten auf der Insel an. Allein während der frühen Morgenstunden des vergangenen Montags landeten mindestens sechs Boote mit über 150 Migranten an den Stränden von Kos, berichtet die englische Tageszeitung The Daily Mail. Beobachter beschreiben „chaotische Zustände“. „Wenn das Europa ist, dann gehe ich zurück nach Syrien“, zitiert das Blatt einen der Europa-Einwanderer auf Kos.

Eine Völkerwanderung hat begonnen

Alle Migranten wollen so schnell wie möglich weiter, nach Athen und von dort nach Mitteleuropa. Aber Kos ist eine Insel. Die Weiterreise ist nicht einfach. Die Migranten auf Kos sind auf die Hilfe der Behörden angewiesen. Doch die Polizei ist mit der Registrierung der Massen völlig überfordert. Am Dienstag kam es zur Eskalation: Hunderte Migranten blockierten die Hauptuferstraße von Kos, berichtet The Daily Mail und  veranstalteten ein sit-in, eine Sitzblockade: „Wir wollen Papiere, wir wollen Essen.“ Einem Athener Bericht zufolge versuchten Migranten in Kos auch, sich Zutritt zur Polizeistation zu verschaffen. Die Polizei versuchte, die Migranten ins örtliche Fußballstadion zu geleiten, wo sich schließlich 1500 Personen in einer Schlange drängten. Einem AFP-Bericht zufolge entglitt die Situation, als die Menge sich durch das Eingangstor quetschte: Um den Ansturm zu stoppen, setzte die Polizei Knüppel und Schaumlöscher ein.

Inzwischen wurden etwa 1300 Migranten per Fähre von Kos nach Athen gebracht. Presseberichten zufolge wollen sie weiter nach Westeuropa reisen. An diesem Freitag wird eine andere Fähre in Kos etwa 2500 weitere Europa-Einwanderer aufnehmen, wo sie zunächst registriert werden.

Beängstigende Dynamik: Von 124.000 Migranten, die in den ersten sieben Monaten Griechenland erreicht haben, sind etwa 50.000 allein im Monat Juli angekommen.

Kos ist kein Einzelfall. Auf den Nachbarinseln Chios (7 Kilometer vor der türkischen Küste), Samos (1,7 Kilometer), Agathonisi (18 Kilometer) oder Lesbos (9 Kilometer) sieht es wenig anders aus. Der UN-Flüchtlingsagentur UNHCR zufolge haben in den ersten sieben Monaten dieses Jahres 124.000 Migranten Griechenland erreicht, mehr als sieben Mal so viele wie im vergangenen Jahr. Erschreckende Zahlen. Aber erst eine weitere Zahl zeigt, was sich in der Ägäis gerade abspielt und wie es weiter gehen wird: Von diesen 124.000 Migranten sind etwa 50.000 allein im Monat Juli angekommen. „Es werden noch mehr Migranten kommen“, warnt die Neue Zürcher Zeitung: „Ein nicht enden wollender Strom von Migranten versucht von Afrika nach Europa zu gelangen, durch die Wüste und übers Meer nach Italien und weiter. Hinzu kommen noch mehr, die von der Türkei aus nach Europa drängen.“ Eine Völkerwanderung hat begonnen.

600 Afghanen campen mitten in Athen

Im ersten Halbjahr 2015 sind außerdem 98.000 Migranten von Libyen aus in Sizilien und Italien eingetroffen, zehn Prozent mehr als im Vorjahr. Aber inzwischen ist die der Weg über die Türkei und Griechenland zur Hauptroute der Europa-Einwanderer geworden, erläutert die NZZ und nennt einen Grund: Der Weg in andere EU-Länder ist leichter geworden, weil nach einem Spruch des Europäischen Gerichtshofes Asylbewerber nicht mehr nach Griechenland zurückgeschickt werden dürfen.

Das Problem übersteigt unsere Möglichkeiten.

Alexis Tsipras, griechischer Ministerpräsident

Griechenland, wo es kaum noch funktionierende Institutionen gibt, ist von der Situation völlig überfordert. Die Tsipras-Regierung hat unlängst ein großes Auffanglager in Athen geschlossen und die Migranten einfach in die Stadt geschickt. Schon vor vier Jahren berichtete die Presseagentur dpa von 300.000 illegalen Migranten ohne Papiere im Athener Stadtzentrum. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb seinerzeit von Athener Stadtteilen mit der Anmutung von Mogadischu oder Karachi. Jetzt kampieren außerdem etwa 600 Afghanen im Pedion-Areos-Park mitten in Athen, berichtet ausführlich die Pariser Tageszeitung Le Monde. Die Afghanen hängen völlig von der Unterstützung Athener Wohltäter ab. Der griechische Staat ist völlig abwesend, so Le Monde. „Das Problem übersteigt unsere Möglichkeiten“, appellierte der Ministerpräsident jetzt an die EU-Kommission: „Griechenland ist ein Land, das eine Wirtschaftskrise durchmacht und jetzt einer humanitären Krise in der Krise gegenübersteht.“ Die EU-Kommission hat schon 260 Millionen Euro Unterstützung aus ihrem sogenannten Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds zugesagt.

Hilferuf aus Mazedonien

Der nächste Migrationskrisen-Hilferuf kommt aus Griechenlands Nachbarland Mazedonien. Innenminister Mitko Cavkov fordert dort EU-Unterstützung, „weil das Problem bei uns aus einem EU-Land importiert wird“. Von den 124.000 Migranten, die im vergangenen Halbjahr Griechenland erreicht haben, haben nur 6200 einen Asylantrag gestellt. Alle anderen wollen weiter nach Norden – über Mazdeonien. In dem kleinen Westbalkanland wurden seit 19. Juni über 27.000 Migranten registriert. Tatsächlich dürfte es um eine viel größere Zahl von Migranten gehen: Es kommen jetzt täglich über 2000 Personen illegal über die griechisch-mazedonische Grenze, heißt es aus Skopje. Und mazedonischen Berichten zufolge werden sie von der griechischen Polizei in ganzen Busladungen dorthin gefahren.

Griechische Polizei geleitet die Migranten in ganzen Busladungen zur Grenze.

Aber auch die Mazedonier halten die Migranten nicht mehr auf. Wer registriert wird, hat 72 Stunden Zeit, einen Asylantrag zu stellen – oder eben, um in dieser Zeit das Land wieder zu verlassen. Die Mazedonier sind dabei behilflich: Registrierte Migranten dürfen öffentliche Verkehrsmittel benutzen und werden mit der Bahn so schnell wie möglich zur serbischen Grenze gebracht. In Serbien läuft es ähnlich: Die Migranten erhalten ein Transitpapier für 72 Stunden und jede Hilfe, um in dieser Zeit bis zur ungarischen Grenze und darüber hinaus zu gelangen.

Ende August soll der Zaun entlang der ungarischen Grenze fertig sein

Dort könnte die Balkan-Route demnächst enden: Bis Ende August will Budapest einen 175-Kilometer langen Zaun entlang der ungarisch-serbischen Grenze fertigstellen. Premierminister Viktor Orban will die „Balkan-Route“ schließen, zumindest für Ungarn. Er weiß warum: Seit Anfang des Jahres sind auf der ungarischen Seite schon 96.000 illegale Grenzübertritte gezählt werden. Dabei ist auch Ungarn für die Migranten nur ein Transitland. Die meisten wollen weiter nach Deutschland, „das neue Migrations-Eldorado“, wie Le Monde es formuliert.

Deutschland, das neue Eldorado für Migranten.

Le Monde

Aber als EU-Mitglied und Teil des Schengenraums kann Ungarn die Migranten nicht ganz so einfach weiter schicken, wie Griechenland (das eigentlich auch dem Schengenraum angehört), Mazedonien oder Serbien das tun. Nach dem Buchstaben des Schengener Abkommens und der Dublin-Verordnung muss Budapest damit rechnen, dass man ihm alle in Ungarn registrierten Migranten eines Tages wieder zurückschickt. Le Monde zitiert eine Migranten-Helferin in Budapest, die ausdrückt, was ihre Regierung vermutlich denkt: „Ehrlich, ich hoffe für sie (die Migranten), dass sie so schnell wie möglich in Deutschland ankommen.“

EU ohne Antwort

Das werden sie wohl auch und in immer größeren Zahlen. Mit Blick auf die dramatische Migranten-Situation am anderen Ende Europas, in Calais, beobachtet die Londoner Wochenzeitung The Economist, dass der Eindruck entsteht, die betroffenen Länder hätten keine Kontrolle mehr über ihre Landesgrenzen. Einmal im Schengenraum angekommen bewegen sich die Migranten praktisch ungehindert von einem Land zum anderen – „und aus Flüchtlingen werden effektiv  Wirtschaftsmigranten”, so das britische Wochenblatt.

Warum soll ich in einem armen Land leben wollen? Ich komm doch aus einem!

Migrant in Calais

In Brüssel, wo man gerade an Plänen brütet, Asylbewerber aus Syrien, Eritrea oder Irak gerecht auf ganz EU-Europa zu verteilen, solle man genau hinschauen, rät das Blatt. Denn die Migranten hätten ganz entschieden nicht die Absicht, sich in Länder verschicken zu lassen, „von denen sie noch nie gehört haben“. Sie seien unerschütterlich davon überzeugt, dass es Ihr Recht sei, ihre Wanderung bis nach Großbritannien fortzusetzen, berichtete kürzlich etwas verwundert ein Korrespondent der New York Times aus Calais. Ein Migrant, der es über Bulgarien bis dorthin geschafft hat und keinesfalls von Brüssel nach Bulgarien geschickt werden will, brachte es für den Economist auf eine simple Formulierung: „Warum soll ich in einem armen Land leben wollen? Ich komm doch aus einem!“