„In Zeiten von flexiblen Arbeitszeiten und home office wirkt das Urteil wie aus der Welt gefallen“, kritisiert der CSU-Bundestagsabgeordnete Hans-Michelbach das „Stechuhr-Urteil“ des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), demzufolge alle Arbeitgeber in Europa die Arbeitszeit aller Arbeitnehmer künftig wieder genau erfassen müssen.
Die Folge dieses Urteils wird ein neuerliches Beispiel für unnötige und sinnlose Bürokratie sein.
Hans Michelbach, CSU-Bundestagsabgeordneter
„Während sich Gewerkschaften und Arbeitgeber etwa in Deutschland in vielen Bereichen um bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie und damit mehr Flexibilität bemühen, orientiert sich der EuGH offenbar an der Arbeitswirklichkeit des vorvergangenen Jahrhunderts“, erklärt der CSU-Wirtschafts- und Finanzpolitiker gegenüber dem BAYENRKURIER. Auch angesichts der bevorstehenden Europawahl hält Michelbach, der auch Unions-Obmann im Bundestags-Finanzausschuss ist, das Urteil für ein verheerendes Signal: „Die Folge dieses Urteils wird ein neuerliches Beispiel für unnötige und sinnlose Bürokratie sein, die die Unternehmen belastet.“
Arbeitszeit genau aufzeichnen
Das EuGH in Luxemburg urteilte, dass Arbeitgeber verpflichtet werden sollen, die gesamte Arbeitszeit ihrer Beschäftigten systematisch zu erfassen. Alle Arbeitgeber müssten Systeme zur Arbeitszeiterfassung einrichten, alle EU-Staaten müssen dies durchsetzen. Nur so lasse sich überprüfen, ob zulässige Arbeitszeiten überschritten würden. Und nur das garantiere die im EU-Recht zugesicherten Arbeitnehmerrechte (Rechtssache C-55/18), so die obersten EU-Richter. Das Urteil könnte große Auswirkungen auf den Arbeitsalltag auch in Deutschland haben, denn längst nicht in allen Branchen werden Arbeitszeiten systematisch erfasst. Anlass für das Urteil war eine Klage einer spanischen Gewerkschaft.
Die Tarifparteien sind viel näher am Wirtschaftsleben.
Hans Michelbach
„Natürlich haben Beschäftigte einen Anspruch auf Bezahlung von Überstunden oder entsprechenden Freizeitausgleich. Dafür steht unser Arbeitszeitgesetz“, stellt Michelbach klar. „Hinzukommen Vereinbarungen der Tarifparteien. Und das ist gut so“, bricht der renommierte Mittelstandspolitiker eine Lanze für die Tarifparteien, also auch für die Gewerkschaften. „Denn die Tarifparteien sind viel näher am Wirtschaftsleben und können die unterschiedlichen Verhältnisse in den verschiedenen Branchen besser beurteilen als der Gesetzgeber. Das macht es auch leichter, in Zeiten grundsätzlicher Umwälzungen in vielen Bereichen des Arbeitslebens passende Lösungen zu finden.“
Urteil für die Stechuhr?
Seine Kritik am Urteil fasst Michelbach so zusammen: „Statt sich zum Lobbyisten der Stechuhr zu machen, wäre der EuGH besser beraten gewesen, Antworten zu finden, die der sich rasch verändernden modernen Arbeitswelt gerecht werden.“
Auch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände übte Kritik am EuGH. Das Urteil sei wie aus der Zeit gefallen, erklärte der BDA: „Wir Arbeitgeber sind gegen die generelle Wiedereinführung der Stechuhr im 21. Jahrhundert.“ Die Entscheidung dürfe keine Nachteile für Arbeitnehmer mit sich bringen, die flexibel arbeiteten. Auch künftig kann der Arbeitgeber aus Sicht des Verbands seine Beschäftigten verpflichten, ihre Arbeitszeit selbst aufzuzeichnen.
Einen festen Standard bei der Arbeitszeiterfassung über alle Branchen hinweg setzen zu wollen, wäre praxisfremd.
Franz Josef Pschierer, Mittelstands-Union
Auch der Vorsitzende der CSU-Mittelstands-Union (MU), Franz Josef Pschierer, befürchtet neue Bürokratie, die jetzt vor allem auf kleine und mittlere Betriebe zukommt. „Neben dem Erfordernis umfassender Dokumentationspflichten wirft eine vollständige Erfassung der Arbeitszeiten mit Blick auf die Praxis viele Fragen auf. Was zählt eigentlich zur Arbeitszeit? Gehört hierzu etwa auch bereits der E-Mail-Abruf am Feierabend? Und wie sollte diese Zeit dann genau protokolliert werden können?“ Auf die Industrie sehe er hier keine gravierenden Veränderungen und Belastungen zukommen, so Pschierer – dagegen auf viele Mittelständler in Branchen, in denen die Arbeitnehmer mit ihrer Arbeitszeit bisher flexibel umgehen: insbesondere in der Kreativwirtschaft oder im Dienstleistungssektor.
MU fordert flexibles Arbeitszeitgesetz
Pschierer forderte den SPD-Bundesarbeitsminister Hubertus Heil auf, „sich bei der Umsetzung dieses Urteils in nationales Recht genau zu überlegen, für welche Unternehmen welche Lösungen vorgeschrieben werden“. Der Mittelstands-Chef stellt klar: „Der deutsche Gesetzgeber muss hier flexibel sein in seinen Vorgaben, je nach Art des Tätigkeitsbereichs der Arbeitnehmer. Einen festen Standard bei der Arbeitszeiterfassung über alle Branchen hinweg setzen zu wollen, wäre praxisfremd, nicht adäquat umsetzbar und für viele kleine und mittlere Firmen letztlich nur ein weiteres bürokratisches Monster.“
Abgesehen von dem neuen Urteil des EuGH sei es für die Zukunft generell wichtiger, das deutsche Arbeitszeitgesetz endlich den Erfordernissen der Digitalisierung anzupassen, so Pschierer. So fordere die Mittelstands-Union schon seit längerem eine flexiblere Verteilung der Arbeitszeit, die sich mehr an den wöchentlichen Arbeitsstunden orientiert als an den täglichen. Dazu müsse die EU-Arbeitszeitrichtlinie einer zeitgemäßen Revision unterzogen werden.
Insbesondere Start-ups arbeiten nicht nach der Stechuhr wie vor 100 Jahren.
Florian Nöll, Bundesverband Deutsche Start-ups
„Diese Entscheidung geht in die völlig falsche Richtung“, erklärte auch der Arbeitgeberverband Gesamtmetall. „Insbesondere Start-ups arbeiten nicht nach der Stechuhr wie vor 100 Jahren“, ergänzte der Vorsitzende des Bundesverbands Deutsche Start-ups, Florian Nöll. „Die Flexibilität, die Arbeitnehmer selbst einfordern, wird durch solche Vorgaben eingeschränkt.“ Die Unternehmen befürchten Bürokratie, aber auch weniger flexiblen Einsatz ihrer Mitarbeiter.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sagte dagegen: „Die Aufzeichnung von Arbeitszeit ist notwendig, um die Rechte der Beschäftigten zu sichern.“ Es gehe schließlich um Löhne und Rechte, das sei „keine überflüssige Bürokratie.“ Vor einer möglichen Gesetzesänderung werde er das Gespräch mit Gewerkschaften und Arbeitgebern suchen, „damit wir das Richtige tun und nicht übers Ziel hinausschießen“.