Irre Psychopathen sind die Ausnahme: Der Mörder ist meistens ein Nachbar. (Bild: Imago/master1305/ Panthermedia)
Kriminalität

Bis in die unterste Hölle

Ungelöste Verbrechen sind ihre Arbeit: Die Operative Fallanalyse Bayern rekonstruiert das Tatgeschehen und analysiert Tat und Täter. Mit ihrem Leiter Alexander Horn sprach der BAYERNKURIER über Erfolg und Misserfolg.

BAYERNKURIER: Herr Horn, Sie sind seit 21 Jahren operativer Fallanalytiker, der Sonderkommissionen von Polizei und Staatsanwaltschaft bei ihren Ermittlungen berät. In welchen Fällen werden Sie gerufen?

Alexander Horn: Wir werden nur auf Anforderung tätig. Das macht auch Sinn: Wir sind Berater und beraten auch nur die, die beraten werden wollen. Wir werden in allen Fällen gerufen, in denen eine Verhaltensbeurteilung des Täters notwendig und hilfreich sein könnte. Also Tötungsdelikte, darunter auch Serienmorde, dann Sexualstraftaten, Kindesmissbrauch, aber auch Terrorismus. Gut 70 Prozent der Fälle sind jedoch Tötungsdelikte. Insgesamt sind es 45 bis 60 Fälle im Jahresdurchschnitt.

Oft sind die ersten 48 Stunden entscheidend für die Klärung eines Falles, das schreiben Sie in ihrem Buch „Die Logik der Tat“. Werden Sie schon innerhalb dieser Zeitspanne gerufen?

Ja, oft schon einige Stunden bis wenige Tage nach dem Leichenfund. Meistens werden wir mittlerweile relativ zeitnah gerufen, das war aber nicht immer so. Je früher, umso besser, diese Regel gilt auch für uns. Bei Tötungsdelikten ist es auch besser, wenn wir noch bei der Obduktion der Opfer dabei sein und uns die Verletzungen selber anschauen können.

Sie stießen anfangs in den eigenen Reihen auf Kritik und Ablehnung. Hat sich das geändert?

Ja, durch unseren engen Austausch mit den Ermittlern, durch Vorträge und die Erfahrungen mit unserer Arbeit. Ablehnung ist aber ein ganz normaler Prozess, wenn neue Methoden oder Instrumente zum Einsatz kommen. Die Kollegen haben aber festgestellt, dass es ihnen einen Mehrwert bringt, ein vertieftes Fallverständnis zu erhalten.

Wie wird man Fallanalytiker?

Polizeibeamte im gehobenen Dienst müssen zunächst zur Schutzpolizei, dann zur Kriminalpolizei. Nach jahrelanger Erfahrung in der Ermittlungsarbeit gibt es dann ein Auswahlverfahren und danach dreieinhalb Jahre Lehrgänge im Ausbildungsgang zum polizeilichen Fallanalytiker. Darin geht es unter anderem um Kriminalistik, Kriminologie, Psychologie, Psychiatrie und Rechtsmedizin. Diese Ausbildung zum Fallanalytiker findet nach bundesweit einheitlichen Qualitätsstandards beim Bundeskriminalamt statt. Wir wollten nicht, dass das so unterschiedlich gehandhabt wird wie in den USA, wo der Begriff „Profiler“ nicht geschützt ist. Eine bundesweite Vernetzung macht ja auch Sinn, denn Serientäter machen an Ländergrenzen nicht halt. Darum muss man grenzüberschreitend vernünftig arbeiten können.

Warum wurden Sie Fallanalytiker?

Es gab Ende der 90er Jahre ein Pilotprojekt bei der Münchner Mordkommission, angestoßen von Udo Nagel, der später Hamburger Polizeipräsident und Innensenator wurde. Ausschlaggebend war der Serienmörder Horst David, der in München und Regensburg über 20 Jahre mindestens sieben Morde begangen hat. Es stellte sich damals die Frage, wie wir solche Serientaten frühzeitiger erkennen können. Ich habe mir das damals beim FBI, in Kanada und in England angeschaut, wo es solche Abteilungen schon gab. Wir hatten außerdem mit Thomas Müller gearbeitet, der in Österreich eine solche Abteilung führte und den Fall des mutmaßlichen Serienmörders Jack Unterweger bearbeitete. Wir kamen dann zum Ergebnis, dass dieses Fallverständnis durchaus sinnvoll sein kann. Nicht für die große Masse der Tötungsdelikte, das sind Beziehungstaten, dafür braucht man kein Täterprofil. Aber für Fälle, in denen zwei Fremde aufeinander treffen, wenn eine sexuelle Motivlage eine Rolle spielt. Da gibt es andere Schwierigkeiten bei der Ermittlung.

Sie suchen den „Schlüssel zum Täter“. Wie das?

Kernstück der Fallanalyse ist die Tathergangsanalyse, die gedankliche Rekonstruktion des Verbrechens: Wie hat der Täter sich dem Opfer genähert, wie, wann und wo geschah der Angriff, wie hat der Täter die Kontrolle gewonnen, wie verlief das Verbrechen, was geschah danach. Ein Täterprofil ist aber eine Mischung aus zwei Dingen, dem gezeigten Verhalten des Täters bei der Tat und empirischen Daten. Dazu hat uns etwa eine Studie zu allen 137 geklärten Tötungsdelikten mit sexueller Komponente in Bayern von 1979 bis 2008 wichtige Erkenntnisse geliefert. Wie selten, wie häufig ist bestimmtes Verhalten bei Sexualmorden? Was sagt es über den Täter aus?

Sie sprechen von der Forschung von Professor Sven Litzcke der FH Hannover. Welche Erkenntnisse waren das?

Viele Täter stammen aus der Region ihrer Taten und verfügen oft über einen niedrigen Bildungsgrad. Ein hoher Planungsgrad ist auch eher die Ausnahme, fast 50 Prozent waren Spontantaten. Die meisten Täter sind außerdem schon polizeibekannt, aber sehr viele nicht wegen ähnlicher Taten, sondern wegen Eigentums- oder Körperverletzungsdelikten. Das wussten wir auch schon aus einer BKA-Studie, wonach das auf 79 Prozent der Sexualmörder und 74 Prozent der Vergewaltiger zutraf. Und lediglich 20 Prozent der Sexualmörder in Bayern litten wirklich an einer psychischen Erkrankung, 80 Prozent waren voll schuldfähig. Wir können auch feststellen: der Anteil der Sexualmorde ist im Vergleich zu den Neunziger Jahren rückläufig. Es verändern sich also solche Zahlen. Da spielt natürlich das Internet eine Rolle, das eine große Zahl sexuell abweichender Fantasien „bedient“. Es gibt dafür aber eine Reihe anderer Effekte, die jetzt nach vorne kommen.

Nehmen wir den bekannten Fall Hinterkaifeck aus dem Jahre 1922: In einem abgelegenen Haus auf dem Land werden nachts sechs Menschen ermordet, darunter eine Siebenjährige und ein Zweijähriger, indem der oder die Täter sie nacheinander brutal mit einer Hacke erschlagen. Es ergab sich, dass der oder die Täter sich noch längere Zeit nach der Tat im Haus aufhielten und dort sogar die Vorräte verzehrten. Die Leichen wurden nebeneinander positioniert und abgedeckt, Geld aus einem offensichtlich durchsuchten Schrank nicht mitgenommen. Was lässt sich daraus auf den oder die Täter schließen, wie es auch die damaligen Ermittler versuchten?

Genau solche Schnellschüsse vermeiden wir, wenn wir nicht genau alle Umstände des Falles kennen. Was unsere Arbeit ausmacht, ist: erst rekonstruieren, dann interpretieren. Dazu müsste ich mir erst alle Fallunterlagen anschauen. Die Hypothese der damaligen Ermittler, es habe sich wegen der Tötung der Kinder um eine Tat mit persönlichem Hintergrund gehandelt, ist naheliegend, da ein zweijähriges Kind ja nicht als Zeuge taugt, eine Verdeckungsabsicht also eher unwahrscheinlich ist. Aber ist diese Hypothese die einzige, die wahrscheinlichste Lösungsmöglichkeit? Und dass der Täter noch in aller Ruhe etwas gegessen hat, müsste auch aus Sicht der damaligen Zeit beurteilt werden, in der nicht überall Essen zur Verfügung stand. Zu dem nicht entwendeten Geld: Es gibt ein Element, das die Menschen immer unterschätzen, den Stress. Unter Stress handeln Menschen anders. So einfach ist das also alles nicht.

Sie schreiben, bei der Fallanalyse müsse man vor allem lernen, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen und wissen, was zusammen gehört und was nicht. Wie lernt man das?

Vor allem in der Praxis. Wir haben nach Straftaten ja oft eine chaotische Informationslage, Zeugenaussagen passen nicht zur Tat oder sind schlicht falsch. Bei uns gibt es da die nur teilweise scherzhafte Frage „Wo ist der weiße Van?“. Ein Autotyp, der öfter mal von Zeugen fälschlicherweise bei unterschiedlichen Taten „gesehen“ wird. Wir Fallanalytiker haben außerdem gelernt, mit der Unsicherheit bei unseren Entscheidungen professionell umzugehen, denn wir erstellen die wahrscheinlichste Hypothese für den Tathergang und den Täter. Wir sind Dienstleister für die Ermittler, als kriminalistisches Werkzeug, wir weiten den Blick.

Der aus Filmen bekannte Begriff „Profiler“ greift für Sie zu kurz. Warum?

Wir erstellen Profile nicht nur vom Täter und seinem möglichen Motiv, sondern vom gesamten Fall, von Tatort, Tatzeit, Tatablauf und Täterverhalten. Wir arbeiten operativ nah an den Fällen dran und wir analysieren die Fälle, deshalb lag dieser Begriff näher. Profiler ist auch kein geschützter Begriff, darum wollten wir uns bewusst davon abgrenzen.

In amerikanischen Filmen wie „Schweigen der Lämmer“ läuft oft ein einsamer Profiler dem Serienmörder hinterher, daneben gibt es aber auch die Team-Serien wie „CSI“. Was entspricht eher der deutschen Realität?

Die Teamlösung ist näher, aber man sollte sich schon klar sein, dass es fiktionale Unterhaltung ist. In der Realität suchen Sie nicht nur 90 Minuten nach einer Lösung. Detailarbeit kommt natürlich zu kurz, dass sie 60, 70 Seiten Obduktionsgutachten durcharbeiten müssen.

Sie schreiben, das Täterprofil sollte nicht mystifiziert werden, es sei lediglich ein Fahndungshilfsmittel, um den großen Kreis der Verdächtigen auf ein überprüfbares Ausmaß zu reduzieren. Ob jemand wie der Killer Norman Bates aus dem Film „Psycho“ Probleme mit einer übermächtigen Mutter hatte, lässt sich ja nicht überprüfen, da es entsprechende Datensammlungen gar nicht gibt. Nach was suchen Sie dann?

Die Persönlichkeitsbeschreibung ist schon wichtig. Und wir versuchen auch herauszufinden, ob der Täter normale Bindungsstrukturen, ein normales Familienleben hat. Und nach der Einengung des Täterkreises auf beispielsweise fünf Personen, dann kann man sich auch anschauen, wie sind diese Personen aufgewachsen. Aber das Täterprofil ist eben nur einer der möglichen Ansatzpunkte. Wir suchen auch nach überprüfbaren Dingen wie dem Alter oder dem möglichen „Ankerpunkt“ des Täters und nach der wahrscheinlichsten Hypothese für Tatmotiv, Tathergang und Täter.

Wie oft liegen Ihre Fallanalysen denn komplett daneben?

Komplett falsch lagen wir noch gar nicht. Manchmal gehörten Fälle, die wir einem Täter zuordneten, nicht zusammen, weil das Verhalten sich ähnelte, oder die Alterseinschätzung war falsch. Gerade beim Alter aber haben wir aber eine hohe Trefferquote von 80 bis 90 Prozent. Unser Teamansatz ist da ein Korrektiv. In einer Welt von Hypothesen ist die kritische Prüfung dieser Hypothesen durch andere gut ausgebildete Spezialisten wichtig. Man kann sich die Hypothese dann nicht passend machen. Und wir haben es bisher noch nicht erlebt, dass bei der Vorstellung unserer wahrscheinlichen Fall-Hypothesen jemand aufstand und sagte, aber diese Möglichkeit könnte es doch auch noch geben.

Beim niederbayerischen Briefbombenbauer Johann L., der sich 2004 schließlich selbst in die Luft sprengte, lagen sie aber falsch.

Ja, unsere Altersuntergrenze lag bei 28, da einige der für die Bomben verwendeten Materialien auf einen lebensälteren Menschen hinwiesen, und auch der Briefbombenbau eher auf einen älteren Menschen deutete. Der Täter war dann erst 22 Jahre alt, das Verhaltens-Alter war also höher als das biologische Alter. Hinzu kam: Es gibt keine empirischen Daten über Briefbombenbauer, da diese Taten nur sehr selten vorkommen.

Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Fall als Analytiker?

Ja, das war der Doppelmord an einem holländischen Ehepaar in der Nähe von Traunstein, der ist bis heute nicht geklärt. Sie wurden erschossen und ihre Kehlen durchtrennt, dann in ihrem Wohnmobil in die Nähe von Nürnberg transportiert und dort wurde das Fahrzeug angezündet. Das ist genauso ein Fall für die Frage, was ist da passiert – weil ein Motiv fehlt.

In Bayern sind 189 Mordfälle seit 1986 noch nicht aufgeklärt. Werden Sie auch zu solchen „Cold Cases“ hinzugezogen?

Ja, sie sind fester Bestandteil unserer Arbeit. Wann immer die Kollegen Luft und Gelegenheit haben, einen Altfall wieder in Angriff zu nehmen und neu aufzurollen, werden wir hinzugezogen.

Befürworten Sie eigene „Cold Case“-Einheiten bei der Polizei?

Das kann ein gewinnbringender Ansatz sein. Bisher ist es so, wenn ein aktueller Fall neben dem gerade wieder aufgerollten Fall reinkommt, dann hat der aktuelle Fall immer Priorität. In den USA hat sich aber gezeigt, dass solche Einheiten, die sich nur mit den unaufgeklärten Fällen beschäftigen müssen, erfolgreich arbeiten. Auch die Schwere dieser Delikte und die fehlende Gewissheit der Angehörigen sprechen dafür, solche Fälle durch ein eigenes Team untersuchen zu lassen.

Serientäter mit großem Aktionsradius geben besondere Rätsel auf. Der 2011 überführte „Maskenmann“, der in Norddeutschland jahrelang kleine Jungen aus Landschulheimen, Zeltlagern und Wohnungen entführte, missbrauchte und zum Teil ermordete, hielt sie 14 Jahre lang in Atem – der längste Fall ihrer Karriere. Der Täter gestand Ihnen im Verhör schließlich einige seiner Taten, aber nicht alle. Auch verschwieg er fünf Jahre lang die Passwörter seiner Festplatten. Warum behält er einen Teil der Wahrheit für sich?

Wir nennen das „Schatzkästchen-Phänomen“. Bei Serienmördern geht es grundsätzlich um Macht, Dominanz und Kontrolle. Dieses Verhalten setzt sich über die Tatbegehung und Verhaftung hinaus fort, einen letzten Rest von Wissen zu behalten. Man hat eigentlich nie den Fall, dass ein Serienmörder alles preisgibt. Auch gerade in den USA gab es Täter, die erst kurz vor der Vollstreckung der Todesstrafe beispielsweise weitere Fundorte von Leichen preisgaben.

Zum Fall des Neonazi-Duos NSU: Ihr 2006 erstelltes zweites Täterprofil auf zwei rechtsradikale Türkenhasser, die sich auf einer „Mission“ sahen, war richtig. Allerdings hatten Sie in Ihrem ersten Profil 2005 ebenfalls organisierte Kriminalität hinter den Morden vermutet. Sie konnten die Ermittler dann nicht von Ihrer zweiten Analyse überzeugen. Haben Sie mittlerweile diesen Fall für sich aufgearbeitet?

Wir haben versucht, unsere Lehren daraus zu ziehen. Es sind aber auch aus beruflicher Sicht noch viele offene Fragen, etwa die, wie die Täter ihre Opfer und die Tatorte ausgewählt haben.

In Ihrem Buch weisen Sie allerdings den Vorwurf, die Polizei sei im NSU-Fall „auf dem rechten Auge blind“ gewesen, zurück. Es sei eher Mangel an Phantasie. Weil sich viele eine jahrelange Mordserie von Rechtsradikalen nicht vorstellen konnten – trotz Oktoberfestattentat?

Ja, das ist mein Eindruck. Es war eine schwere Vorstellung, zu sagen, da fahren Leute durch Deutschland, um Menschen mit Migrationshintergrund zu erschießen. Aber wir sollten nicht vergessen: Auch die Medien erkannten diese Option bis etwa 2006 nicht. Es gab schließlich keine Bekennerschreiben wie bei der RAF, weil Rechtsradikale das in dieser Form nicht machen. Dennoch war die Neonazi-These die logischste Lösung, dafür sprach zum Beispiel das türkische Erscheinungsbild der Opfer, alle im Kleingewerbebetrieb, die Beibehaltung der Tatwaffe. Wir mussten uns lösen von der gezielten Auswahl der Opfer. Wenn wir von einem gewissen Maß an Austauschbarkeit der Opfer ausgingen, dann waren wir beim fremdenfeindlichen Hintergrund.

Der Mörder ist nicht wie in englischen Krimis der Gärtner oder der Butler, sondern in der Regel ein Nachbar – Sie sprechen von „regionalen Tätern“ –, der sich im engeren oder weiteren Umfeld des Opfers aufhält. Laut BKA-Analysen sind 62 Prozent der Vergewaltiger und Sexualmörder aus dem Nahraum des Opfers innerhalb von 5 Kilometern Umkreis, in amerikanischen Erhebungen auch 75 Prozent der Serienmörder.

Ja, Regionalität liegt bei den Tätern sehr oft vor, auch Ortsbezüge. Es gibt nur wenige überregionale Täter – außer Menschen, bei denen Mobilität eine große Rolle spielt, wie LKW-Fahrer beispielsweise. Oder auch den Maskenmann, der in Bremen lebte, für eine Tat in ein Zeltlager in Schleswig-Holstein fuhr, dort einen Jungen entführte und tötete, und den Leichnam dann in Dänemark vergrub. Unsere Datenbank ViCLAS macht aber die Verknüpfung bundesweit vergleichbarer Taten leichter möglich.

Manchmal ist es aber doch der Gärtner: In Lüneburg wurde Anfang September ein bereits verstorbener Friedhofsgärtner von der OFA Niedersachsen als einer der möglicherweise größten Serienmörder Deutschlands entlarvt. Wie kann ein solcher Täter solange unerkannt bleiben?

Es gibt die Täter aus dem klassischen dissozialen Milieu, früh auffällig geworden. Davon zu unterscheiden sind die anderen, die in einer „doppelten Buchführung“ leben, wie wir das bezeichnen. Das sind also problematische Persönlichkeiten mit Entwicklungs- oder Bindungsstörungen. Die sind aber sonst in der Lage, ein gewisses Maß an Normalität aufrecht zu halten, schaffen die Schule, eine Berufsausbildung, führen ein scheinbar angepasstes, „normales“ Leben. Als liebender, präsenter Vater und Ehemann, als sympathischer und hilfsbereiter Nachbar. Aber „nebenbei“ leben sie ihre abweichenden Fantasien aus und stabilisieren damit sogar ihre Persönlichkeiten. Wie auch der Maskenmann. Den beschrieben seine Freunde als nett, freundlich und hilfsbereit.

Echte Serientäter sind aber die seltene Ausnahme. Sie sind in der Regel auch keine genialen Psychopathen a la Hannibal Lecter, sondern meist durchschnittlich intelligente und „ganz normale“ Bürger.

So ist es. Also von der Studie mit den 137 Fällen waren meiner Erinnerung nach 16 Serienmörder, die für mindestens zwei dieser Fälle verantwortlich waren. Bei uns endet das zum Glück meistens auch nach zwei Taten, weil sie dann ermittelt werden.

Sie sagen, eine Dämonisierung der Täter hilft nicht weiter, auch weil niemand als Verbrecher geboren wird. Dennoch: Welcher dieser Fälle hat sie am meisten erschreckt?

Wenn Kinder die Opfer sind, kann einen das nie kalt lassen. Wenn Eltern die Kinder von fremder Hand genommen werden, dann ist das der ultimative Schmerz. Erschreckend ist das immer. Nehmen Sie den Maskenmann: Er hat mit seiner schwarzen Maske gezielt die Option des „Schwarzen Mannes“ , den es nicht gibt, perfide ausgenutzt. Wenn die Kinder dann Eltern oder Betreuern von der Tat berichteten, haben diese zuerst gesagt: Du hast schlecht geträumt, leg Dich wieder hin. Aber auch die NSU-Fälle, bei denen aus Ideologie gemordet wurde, sind für mich erschreckend. Sie töteten jemand, den sie gar nicht kannten.

„Im Menschen sind Tiefen, die bis in die unterste Hölle hinabreichen“, sagte der englische Historiker Thomas Carlyle. „Und Höhen, die bis in den höchsten Himmel ragen.“ Wer oder was entscheidet ihrer Erfahrung nach, ob Menschen die Tiefen oder die Höhen erreichen?

Das ist ein sehr gutes Zitat. Wir erleben das teilweise in ein und derselben Person. Das Kind eines Serienmörders hat beispielsweise einen liebevollen Vater beschrieben. Das war beeindruckend, weil ich auf der anderen Seite wusste, was er getan hatte. Aber welchen Weg man einschlägt, das hängt nach meinen Erfahrungen oft damit zusammen, ob man als Kind früh Bindungsstörungen entwickelt hat zu den wesentlichen Bezugspersonen. Was für uns alle sehr wichtig ist, dass wir ein positives Selbstbild und ein positives Fremdbild entwickeln, wir sind etwas wert und die anderen sind uns nicht feindlich gesonnen, das funktioniert bei vielen dieser Täter nicht. Viele Täter haben selbst Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung oder Misshandlung erlebt, Verletzungen des Selbstwertgefühls. Ein immerwährender Mangel entsteht. Viele Serienmorde dienen dann der Kompensation von einer empfundenen Minderwertigkeit.

Ähnlich einem Feuerwehrmann oder einem Soldaten im Kampfeinsatz sehen Sie Dinge, die extrem belastend sein können. Wie gehen Sie damit um, das Schlimmste bearbeiten zu müssen, was Menschen einander antun können?

Das wichtigste ist, das wir ein funktionierendes Team sind, nicht nur in Bezug auf die Ergebnisse. Man weiß, es sind andere da, die machen dasselbe wie ich. Ich kann mit ihnen darüber sprechen, wenn mich ein Fall mitnimmt. Auch ein glückliches Privatleben und feste Auszeiten vom Job sind wichtig und eine gewisse Distanz zu den Fällen natürlich. Aber ich habe es auch erlebt, dass langjährige Kollegen gesagt haben, ich kann das nicht mehr. Ich will keine Leichen mehr sehen, keine blutigen Tatorte. Die mussten von einem Moment zum anderen aufhören. Ganz plötzlich, es war einfach der eine Fall zu viel, der etwas berührt hat. Auf der anderen Seite ist das Erfahrungswissen für uns aber ganz wichtig. Man braucht mindestens fünf Jahre Erfahrung, bis man versteht, was man hier tut. Und 10 Jahre, um gut darin zu sein.

Oft reichen die von ihnen angesprochenen Vortaten der Serientäter nicht, um in der DNA-Datenbank gespeichert zu werden. Aus DNA könnte man zudem einige Aspekte herauslesen, etwa Alter, Geschlecht und Herkunft. Was tun?

Das ist ein wesentlicher Eingriff und eine ganz schwierige Entscheidung. Das müssen die Gesellschaft und die Politik beantworten, nicht wir als Ermittler. Uns würde es die Ermittlungen natürlich sehr erleichtern. Aber es geht um das vernünftige Maß, es geht um die Fragen: Wann wollen wir solche DNA-Daten speichern und was daraus auswerten? Bei den Vorratsdaten sollten wir eine neue Diskussion führen, ob wir Opferschutz nicht höher bewerten sollten als Datenschutz. Denn das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes dazu ist aus dem Jahr 1982. Und heute ist es doch so: viele Menschen gehen in den sozialen Medien sowieso sorglos mit ihren Daten um. Es gilt zwar: Ein Mehr an Daten ist nicht immer besser, auch für uns als Ermittler nicht. Aber ich muss doch die Möglichkeit haben, bei gewissen Straftaten die Täter früher aus dem Verkehr ziehen zu können. Da müssen wir abwägen.

Ein Beispiel?

Kürzlich gab es einen Fall, bei denen über DNA-Abgleich einem Täter sieben Fälle sexuellen Missbrauchs nachgewiesen werden konnten. Aber da in diesem Deliktsbereich meist eine hohe Dunkelziffer zu vermuten ist, kam die Vergleichsdatenbank ViCLAS ins Spiel. Und konnte über das ähnliche Tatverhalten knapp 50 weitere Fälle ohne DNA mit dem Täter in Zusammenhang bringen, wofür er auch verurteilt wurde. Wichtig ist also immer das Gesamtarsenal, DNA-Vergleich, Fingerabdruck-Vergleich – und eben ViCLAS. Und jetzt die Frage: Lohnt sich eine solche Datenbank wegen dieses einen Falles? Ich glaube: ja!

Sie haben in ihrem Buch kritisiert, dass manche Beförderungen für OFA-Spezialisten aufgrund der geltenden Regeln nur dann stattfinden, wenn derjenige den Arbeitsbereich wechselt. Dadurch geht aber sein Spezialwissen verloren. Hat sich diese Situation geändert?

Nein, leider. Das Problem besteht weiter. Es ist ja grundsätzlich auch sinnvoll, wenn Polizisten in Führungspositionen Einblick in mehrere Fachbereiche erhalten. Aber es gibt aus meiner Sicht Fachgebiete, da wäre es sinnvoll, Spezialisten zu halten. Nicht nur wegen der zeit- und kostenintensiven Ausbildung, sondern auch wegen dem angesprochenen Erfahrungswissen. Beim FBI etwa werden alle Ermittler eines Profiling-Teams aufgrund ihrer Spezialisierung wie Führungsfunktionen eingruppiert. Das zeigt den Stellenwert, den man dort dem Erfahrungswissen zuspricht.

Das Interview führte Andreas von Delhaes-Guenther

Serientäter

In Deutschland gilt der als „Todespfleger“ bekannte Niels H. mit bis zu 106 Opfern als mutmaßlich schlimmster Serienmörder. Der durch den Film „Nachts, wenn der Teufel kam“ (mit Mario Adorf) bekannte Serienmörder Bruno Lüdtke (84 Opfer im Zeitraum 1924-1943) soll nach neuesten Recherchen nur ein Sündenbock der NS-Justiz gewesen sein. Zweifelhaft sind auch Berichte über zwei 1581 hingerichtete Serienmörder: Christman Gniperdoliga mit angeblich 964 und Peter Nirsch mit 520 Opfern. Andere Serienkiller wie Friedrich “Fritz” Haarmann („Werwolf von Hannover“, 27 Opfer von 1918 bis 1924) erlangten wesentlich größere Bekanntheit – etwa 1995 durch den Film „Der Totmacher“. Diesen Spitznamen trug eigentlich der Serienmörder Rudolf Pleil (25 Opfer). Die Medien waren bei Spitznamen kreativ, u.a.: Monster vom Niederrhein, Würger von Regensburg, Blaubart, Sandmann, Onkel Tick-Tack, Mittagsmörder, Bestie von Beelitz, Menschenfresser von Duisburg, Vampir von Düsseldorf, Ungeheuer vom Schwarzwald.