Alexander Horn, Leiter der operativen Fallanalyse des Polizeipräsidiums München. (Foto: Picture alliance/Sven Simon/Anke Waelischmiller)
Kriminalität

Den Tätern auf der Spur

Seit zwanzig Jahren leitet Alexander Horn die Operative Fallanalyse Bayern. Der Profiler und sein Team haben in dieser Zeit einige der schlimmsten Verbrecher des Landes zur Strecke gebracht. Aus dem BAYERNKURIER-Magazin.

„Kein Mensch hatte doch gedacht, dass der Mörder in Hainsacker wohnt und dass es Horst David ist“, sagte ein Nachbar fassungslos über den verheirateten Vater von zwei Kindern. Von 1975 bis 1994 hatte David mindestens sieben Morde begangen, weitere sieben werden vermutet. Der Maler aus dem Dorf bei Regensburg wurde 1994 mit Spuren seiner mutmaßlich ersten Tat überführt – durch das damals neue „Automatisierte Fingerabdruckidentifizierungssystem“. Der Fall Horst David war nicht nur ein Erfolg der modernen Technologie, er war zugleich der Startschuss für die neue Abteilung K16 des Polizeipräsidiums München: die Operative Fallanalyse (OFA), zuständig für ganz Bayern, manchmal auch bundesweit tätig.

Der damalige Leiter der Abteilung Verbrechensbekämpfung beim Polizeipräsidium München, Udo Nagel, später Hamburger Innensenator, hatte das Pilotprojekt einst angestoßen – wegen David, der so lange unerkannt töten konnte. Serientaten frühzeitiger erkennen, das war die Hoffnung.

Das Profil der Tat

Der erste, der sich zum operativen Fallanalytiker – so heißen die Profiler offiziell – ausbilden ließ, war Alexander Horn, heute Erster Kriminalhauptkommissar und seit zwanzig Jahren Leiter der OFA Bayern. Nachdem er beim FBI, in Kanada, England und Österreich mit Profilern Erfahrungen gesammelt hatte, kam er zusammen mit Nagel zu dem Ergebnis, dass ein vertieftes Fallverständnis für die Ermittlungsarbeit hilfreich sein könne. „Nicht für die große Masse der Tötungsdelikte, die Beziehungstaten, dafür braucht man kein Täterprofil“, sagt er selbst. Aber für Fälle, in denen beispielsweise zwei Fremde aufeinander träfen oder in denen sexuelle Motive eine Rolle spielten.

„Wir erstellen Profile nicht nur vom Täter und seinem möglichen Motiv, sondern vom gesamten Fall, von Tatort, Tatzeit, Tatablauf und Täterverhalten. Wir arbeiten operativ nah an den Fällen und analysieren sie“, erklärt Horn. Daher die Berufsbezeichnung. Wer zur OFA will, muss erst jahrelang als Ermittler tätig sein, ein Auswahlverfahren und schließlich dreieinhalb Jahre Lehrgänge beim BKA durchlaufen. Zehn Jahre Erfahrung brauche es, so Horn, um ein guter Fallanalytiker zu werden.

Eine Dämonisierung der Täter hilft nicht weiter, auch weil niemand als Verbrecher geboren wird.

Alexander Horn

Zu Beginn seiner Tätigkeit stieß Horn noch auf Ablehnung –„wie bei allen neuen Methoden“, erklärt er selbst. Das hat sich dank der Erfolge schnell geändert, auch wenn sein erster Fall bis heute ungelöst ist: ein Mord ohne erkennbares Motiv an einem holländischen Ehepaar bei Traunstein im Jahr 1997. Wie dieser sind 189 Mordfälle in Bayern seit 1986 noch nicht aufgeklärt. Auch solche „Cold Cases“ sind fester Bestandteil der OFA-Arbeit. „Wann immer Ermittler Luft haben, einen Altfall neu aufzurollen, werden wir hinzugezogen“, berichtet Horn.

Die OFA wird nur auf Anforderung tätig und nur dann, wenn die Verhaltensbeurteilung eines Täters sinnvoll erscheint. Gut 70 Prozent der jährlich 45 bis 60 OFA-Fälle sind Tötungsdelikte, aber auch Sexual- und Terrortaten gehören dazu. Die ersten 48 Stunden nach einer Tat sind für Ermittler entscheidend, darum wird die OFA meist rasch hinzugezogen.

Was folgt, ist tagelange Detailarbeit, Lesen von Polizeiberichten, Obduktionsgutachten und Zeugenaussagen. Es dient der gedanklichen Rekonstruktion des Verbrechens: Wie hat der Täter sich dem Opfer genähert? Wie, wann und wo geschah der Angriff? Was geschah danach? Am Ende müssen die OFA-Beamten die wahrscheinlichste Hypothese herausfiltern. „Wir sind Dienstleister für die Ermittler, wir weiten den Blick“, so der OFA-Chef. Wahrsager sind sie nicht.

Wiederkehrende Muster

Auch jahrelange Erfahrung und empirische Daten helfen den Fahndern. „Eine Studie zu allen 137 geklärten Tötungsdelikten mit sexueller Komponente in Bayern von 1979 bis 2008 hat uns wichtige Erkenntnisse geliefert“, sagt Horn. Es zeigte sich: Ein ausgefeilter Tatplan ist eher die Ausnahme, fast 50 Prozent waren Spontantaten. Die meisten Täter waren schon polizeibekannt, meist wegen Eigentums- oder Körperverletzungsdelikten. „Das wussten wir schon aus einer BKA-Studie, wonach das auf 79 Prozent der Sexualmörder und 74 Prozent der Vergewaltiger zutraf“, so Horn.

Es gibt die Täter, die in einer ‚doppelten Buchführung‘ leben.

Alexander Horn

Und es lassen sich noch weitere Muster erkennen. So ergab die bayerische Studie einen meist niedrigen Bildungsgrad bei den Tätern. Und nur 20 Prozent der Sexualmörder in Bayern litten an einer psychischen Erkrankung.

Und es mag manche überraschen, aber außerhalb der Beziehungstaten (Verwandte und nähere Bekannte) gilt: Der Mörder ist nicht wie in englischen Krimis der Gärtner oder der Butler, sondern sehr oft ein Nachbar. Laut BKA-Analysen kommen 62 Prozent der Vergewaltiger und Sexualmörder aus dem Nahraum des Opfers – innerhalb von nur fünf Kilometern Umkreis. Die OFA spricht von „regionalen Tätern“. Andere Studien kommen zu noch höheren Werten. „Es gibt nur wenige überregionale Täter – außer Menschen, bei denen Mobilität eine große Rolle spielt, wie Lkw-Fahrer beispielsweise“, berichtet Horn.

So eine Ausnahme war der „Maskenmann“, ein Sexualmörder mit großem Aktionskreis, der viele Rätsel aufgab. Er entführte in Norddeutschland jahrelang kleine Jungen aus Landschulheimen, Zeltlagern und Wohnungen, missbrauchte mehr als 40 und ermordete mindestens drei. „14 Jahre hat mich der Maskenmann beschäftigt“, berichtet Horn nüchtern. „Der längste Fall meiner Karriere.“ Meist spricht der Kommissar von „uns“ und „wir“, denn die Teamarbeit ist bei der OFA entscheidend. Beim Maskenmann jedoch wird er persönlich, der Fall hat ihn intensiver verfolgt als andere. Erst 2011 wurde der Täter, Martin N., überführt, obwohl er zuvor schon öfter ins Fahndungsraster geraten war. Er legte gegenüber Alexander Horn ein Geständnis ab, weinend, nach stundenlangen Verhören: „Ja, ich bin der schwarze Mann.“ Die Indizien allein hätten für eine Verurteilung wohl nicht gereicht.

Der freundliche Nachbar

„Es gibt die Täter, die in einer ‚doppelten Buchführung‘ leben“, erklärt der Polizist. „Die sind in der Lage, ein gewisses Maß an Normalität aufrechtzuerhalten, schaffen Schule, Berufsausbildung, führen ein scheinbar angepasstes, ‚normales‘ Leben.“ Als liebender Vater und Ehemann, als sympathischer Nachbar. „Aber nebenbei leben sie ihre abweichenden Fantasien aus und stabilisieren damit sogar ihre Persönlichkeit“, so Horn. Wie auch der Maskenmann. Den beschrieben seine Freunde als nett, freundlich und hilfsbereit. Die Wahrheit blieb verborgen. „Er hat mit seiner schwarzen Maske die Option des ‚Schwarzen Mannes‘, den es nicht gibt, perfide ausgenutzt. Wenn die Kinder dann Eltern oder Betreuern von der Tat berichteten, haben diese zuerst gesagt, ‚Du hast schlecht geträumt, leg Dich wieder hin‘“, beschreibt Horn die Pein der Opfer.

Im Menschen sind Tiefen, die bis in die unterste Hölle hinabreichen.

Thomas Carlyle, englischer Historiker

Der „Maskenmann“ gestand nicht alle Taten, ein Mord in Frankreich wird ihm ebenfalls noch zugerechnet. Und er verschwieg bis Ende 2016 die Passwörter seiner Festplatten. Warum, das Urteil lautete ja ohnehin lebenslänglich inklusive besonderer Schwere der Schuld und anschließender Sicherungsverwahrung (letztere wurde 2013 vom BGH aufgehoben)? Zudem wurde auf den Festplatten, die immer noch ausgewertet werden, bis heute nichts Entscheidendes gefunden. „Man hat eigentlich nie den Fall, dass ein Serienmörder alles preisgibt. Wir nennen das ‚Schatzkästchen-Phänomen‘“, erklärt Horn. „Bei Serienmördern geht es grundsätzlich um Macht, Dominanz und Kontrolle. Dieses Verhalten setzt sich über die Verhaftung hinaus fort.“

Macht und Kontrolle. Wie beim Lastwagenfahrer Volker E., mutmaßlicher Serienmörder, der in Hof lebte und sich 2007 noch vor seinem Prozess wegen sechsfachen Mordes im Gefängnis erhängte, schrieb laut einem AZ-Bericht über sein erstes Opfer in sein Tagebuch: „Sie starrte mich ungläubig an und ich fühlte zum ersten Mal diese geile Macht über Leben und Tod.“ Wie viele Frauen es genau waren, die er mutmaßlich vergewaltigte und ermordete, nahm er mit ins Grab. Das Tagebuch gab laut AZ Hinweise auf viele weitere Taten.

Der Gärtner

Manchmal ist aber eben doch der Gärtner der Mörder. Ende 2017 entdeckte die OFA Niedersachsen unter einer Garage in einer gediegenen Wohngegend die Leiche einer seit 1989 vermissten Frau. Dieser Fund führte zu einem der wahrscheinlich schlimmsten Serienmörder Deutschlands: dem Friedhofsgärtner Kurt-Werner W., der früher in dem Haus gewohnt hatte. Auch dieser Mann hatte sich 1993 in der Haft selbst das Leben genommen. Er kommt „möglicherweise für 24 weitere Todesfälle oder gar noch mehr als Täter infrage“, sagte ein Sprecher der Polizeidirektion Lüneburg. Ein Bewegungsbild, rund 200 Gegenstände von dem Grundstück sowie DNA-Treffer weisen möglicherweise auf Verbindungen zu weiteren Mordfällen hin. In rund 100 weiteren Fällen werden derzeit Übereinstimmungen überprüft.

Das von der OFA erstellte Täterprofil ist lediglich ein Fahndungshilfsmittel, um den großen Kreis der Verdächtigen auf ein überprüfbares Ausmaß zu reduzieren. Dabei geht es zunächst darum, überprüfbare Daten wie das ungefähre Alter oder den möglichen „Ankerpunkt“ des Täters herauszufiltern. Denn eine BKA-Analyse ergab 2004: In nahezu 90 Prozent aller Sexualmorde und Vergewaltigungen liegt der Kontaktort zum Opfer nicht mehr als 20 Kilometer Luftlinie vom Ankerpunkt des Täters entfernt. Bei anderen Delikten dürfte es ähnliche Werte geben.

„Wir versuchen auch herauszufinden, ob der Täter normale Bindungsstrukturen hat. Und nach der Einengung des Täterkreises auf wenige Personen kann man sich dann anschauen, wer am besten auf unsere diesbezügliche Hypothese passt“, so Horn. Komplett falsch lag die OFA bisher noch nie. „Unser Teamansatz ist da ein Korrektiv. In einer Welt von Hypothesen ist deren kritische Prüfung durch andere gut ausgebildete Spezialisten wichtig. Man kann sich die Hypothese dann nicht passend machen“, sagt Horn.

Der NSU

Seinen größten Fehler sieht er bei einer Fallanalyse aus dem Jahr 2006 zum rechtsradikalen NSU-Duo. Die damalige Annahme, dass deren Ankerpunkt Nürnberg war, erwies sich als falsch. Vieles hatte dafür gesprochen. „Die Mordserie begann dort, ging nach einer Pause dort weiter“, erklärt der Ermittler. Ansonsten war die OFA Bayern aber auf der richtigen Spur. Zwar hatten sie in ihrer ersten Analyse ebenfalls noch Organisierte Kriminalität als Hintergrund vermutet, in der zweiten aber wurde die Hypothese von zwei rechtsradikalen Türkenhassern, die sich auf einer „Mission“ sahen, aufgestellt. „Die Neonazi-These war die logischste Lösung, dafür sprach zum Beispiel das türkische Erscheinungsbild der Opfer, die Beibehaltung der Tatwaffe“, so Horn weiter. „Wenn wir von einem gewissen Maß an Austauschbarkeit der Opfer ausgingen, dann waren wir beim fremdenfeindlichen Hintergrund.“

Doch der OFA gelang es nicht, die ermittelnden Polizeibeamten davon zu überzeugen. Daran kaut Horn bis heute. Dennoch weist er den Vorwurf, die Polizei sei im NSU-Fall „auf dem rechten Auge blind“ gewesen, zurück. Es sei eher Mangel an Fantasie gewesen. „Es war eine schwierige Vorstellung: Da fahren Leute durch Deutschland, um ihnen unbekannte Menschen mit Migrationshintergrund zu erschießen.“

Mangel als Motiv

Die eigenartige Faszination des Bösen gibt es wohl immer schon. Aber egal wie unvorstellbar die Taten auch sein mögen, die Fallanalytiker versuchen, ihre Emotionen außen vor zu lassen. „Eine Dämonisierung der Täter hilft nicht weiter, auch weil niemand als Verbrecher geboren wird“, sagt Alexander Horn. Geniale Psychopathen wie der fiktive „Hannibal Lecter“ aus dem Film „Das Schweigen der Lämmer“ sind die absolute Ausnahme. Nur 20 Prozent der Sexualmörder in Bayern litten an einer psychischen Erkrankung, kaum einer war hochintelligent, das ergab die angesprochene Studie. Und von den 137 Fällen waren nur 16 überhaupt Serienmörder mit mindestens zwei Opfern. „Bei uns endet das zum Glück meistens auch nach zwei Taten, weil sie dann ermittelt werden“, sagt Horn.

„Im Menschen sind Tiefen, die bis in die unterste Hölle hinabreichen, und Höhen, die bis in den höchsten Himmel ragen“, schrieb einmal der englische Historiker Thomas Carlyle. „Wir erleben das teilweise in ein und derselben Person“, so Horn. „Aber welchen Weg man einschlägt, das hängt nach meinen Erfahrungen oft damit zusammen, ob man als Kind früh Bindungsstörungen zu den wesentlichen Bezugspersonen entwickelt hat.“ Viele Täter haben selbst Gewalt, Missbrauch oder Vernachlässigung erlebt, Verletzungen des Selbstwertgefühls. Horn: „Ein immerwährender Mangel entsteht. Viele Serienmorde dienen der Kompensation der empfundenen Minderwertigkeit.“

Horn ist mit dem Schlimmsten konfrontiert, das Menschen einander antun können. Wie er das aushält? „Das Wichtigste ist ein funktionierendes Team. Man weiß, es sind andere da, die machen dasselbe wie ich. Ich kann mit ihnen darüber sprechen.“ Auch ein glückliches Privatleben und feste Auszeiten vom Job seien wichtig – und eine gewisse Distanz zu den Fällen natürlich. Dennoch kann die Belastung zu groß werden. Manchmal verlässt dann ein Ermittler die Einheit. „Ganz plötzlich. Es war einfach der eine Fall zu viel, der etwas berührt hat“, sagt Horn leise. Keine Leichen mehr, keine blutigen Tatorte. Er kann das verstehen. Doch für ihn steht dem entgegen: „Wenn ein Mörder gefasst wird und man dann realisiert: Von dem geht keine Gefahr mehr aus.“

Wer mehr wissen will:

Lesen Sie nächstes Wochenende das Interview des BAYERNKURIER mit dem Münchner Fallanalytiker.

Über seine Fälle, seine Erfahrungen und auch seine Irrtümer hat Alexander Horn ein Buch geschrieben: „Die Logik der Tat – Erkenntnisse eines Profilers“ (Droemer Knaur, 256 Seiten, als Taschenbuch 9.99 Euro, gebunden 19.99 Euro). Horn schildert am Beispiel aufsehenerregender Kriminalfälle, wie die Fallanalyse systematisch arbeitet, und er erläutert, was im Kopf von Mördern vor sich geht – soweit man das eben herausfinden kann.