„Ich schäme mich für die Verbrechen, die Menschen durch Amtspersonen der Kirche angetan wurden“: Kardinal Reinhard Marx. (Foto: Imago/ZUMA-Press)
Kirche

Erschütterung über Ausmaß des sexuellen Missbrauchs

1670 katholische Kleriker haben über Jahrzehnte 3677 Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht. Eine Studie dokumentiert das Ausmaß des Missbrauchs. Kardinal Marx gestand schwere Fehler der Kirche ein und bat die Opfer um Vergebung.

Der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Marx, hat die Opfer des massenhaften sexuellen Missbrauchs unter dem Dach der Kirche in aller Form um Entschuldigung gebeten. „Allzulange ist in der Kirche Missbrauch geleugnet, weggeschaut und vertuscht worden. Für dieses Versagen und für allen Schmerz bitte ich um Entschuldigung“, erklärte Marx in Fulda bei der bei der Vorstellung einer Studie, die den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch katholische Kleriker von 1946 bis 2014 umfangreich dokumentiert.

Viele Menschen glauben uns nicht mehr. Und ich habe dafür Verständnis.

Kardinal Reinhard Marx

Marx fügte an: „Ich schäme mich für das Vertrauen, das zerstört wurde; für die Verbrechen, die Menschen durch Amtspersonen der Kirche angetan wurden; und ich empfinde Scham für das Wegschauen von vielen, die nicht wahrhaben wollten, was geschehen ist und die sich nicht um die Opfer gesorgt haben.“ Das gelte auch für ihn selbst. „Wir haben den Opfern nicht zugehört. All das darf nicht folgenlos bleiben.“ Marx konstatierte: „Viele Menschen glauben uns nicht mehr. Und ich habe dafür Verständnis.“ Gegen nicht einmal die Hälfte aller Beschuldigten hat die Kirche ein internes Verfahren eingeleitet, und wenn, dann meist mit milden Sanktionen.

Viele pädophile und homosexuelle Täter

Die sexuell missbrauchten Minderjährigen werden in der Studie auf insgesamt 3677 beziffert. 1670 Kleriker waren beschuldigt, das sind 4,4 Prozent aller Geistlichen, deren Personalakten ausgewertet wurden. Aufgeschlüsselt nach dem Status der Kleriker sind die Geistlichen im Gemeindedienst („Weltpriester“) überrepräsentiert (5,1 Prozent), deutlich weniger belastet sind Ordensgeistliche (2,1 Prozent) und hauptamtliche Diakone (1,0 Prozent). Professor Harald Dreßing vom Mannheimer „Zentralinstitut für Seelische Gesundheit“ stellte die Studie in Fulda vor. An ihr haben Forscher aus Mannheim, Heidelberg und Gießen gearbeitet, daher wird sie auch „MHG-Studie“ genannt.

Rund 54 Prozent der beschuldigten Kleriker haben sich einmal des mutmaßlichen sexuellen Missbrauchs schuldig gemacht, 42,3 Prozent gelten als „Mehrfachbeschuldigte“. Das Durchschnittsalter der Opfer lag – je nach Datengrundlage – bei 10,6 bis zwölf Jahren. 28 Prozent der Täter gelten als pädophil, da sie sich an Kindern unter 13 Jahren vergangen haben. Allerdings sind gleichzeitig mehr als die Hälfte (51,6 Prozent) der Opfer unter 13 Jahre alt – woraus sich schließen lässt, dass gerade die pädophilen Täter mehrere Kinder missbraucht haben. Der durchschnittliche Zeitrahmen der Missbrauchshandlungen durch Mehrfachtäter ersteckte sich je nach Datengrundlage von 15 bis 23 Monate.

63 Prozent der Opfer sind Buben

Beim Blick auf die Opfer fällt auf, dass die weitaus meisten, nämlich 62,8 Prozent, Buben sind – gegenüber 34,9 Prozent Mädchen. Bei 2,3 Prozent der Fälle fehlen Angaben zum Geschlecht des Opfers. Das Gutachten bestätigt, dass die meisten Beschuldigten homosexuell orientiert sind: „In Teilprojekt 2 fanden sich bei 72 Prozent der interviewten beschuldigten Kleriker Hinweise auf eine homosexuelle Orientierung und bei 12 Prozent der interviewten nicht beschuldigten Kleriker.“ Wobei „Teilprojekt 2“ bedeutet, dass hier Interviews mit Opfern sowie beschuldigten und nichtbeschuldigten Klerikern als Grundlage dienten. Bei diesen Interviews ergab sich ein Anteil von 76,6 Prozent männlicher Opfer, bei der Analyse von Strafakten sogar 80,2 Prozent.

Wie immer bei Opfern sexueller Straftaten dürfte es zudem noch eine hohe Dunkelziffer nicht angezeigter Taten geben. Auch die leitenden Forscher sagen: Das Aufgedeckte sei nur „die Spitze des Eisbergs“. Dreßing beklagte zudem einen mangelnden Aufklärungswillen in weiten Teilen der Kirche. Das Ausmaß des Missbrauchs als auch „der Umgang der Verantwortlichen damit“ sei „erschütternd“ gewesen. Den Autoren der Untersuchung sei kein Zugang zu Originaldokumenten in den Kirchenarchiven eingeräumt und Akten seien vernichtet und manipuliert worden. Zudem fehlten Aussagen von Opfern, auch seien Missbrauchsfälle etwa in katholischen Heimen, Anstalten und Psychiatrien oder in den zahlreichen Ordensgemeinschaften nicht berücksichtigt worden. Dabei zeigen gerade die Missbrauchsskandale im Klosterinternat Ettal oder bei den Regensburger Domspatzen, dass in solchen Einrichtungen das Missbrauchsrisiko besonders hoch war.

Insoweit könnten spezifische Strukturen und Regeln der katholischen Kirche ein hohes Anziehungspotential für Personen mit einer unreifen homosexuellen Neigung haben.

MHG-Studie zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche

Die weit verbreitete Meinung, dass der Pflichtzölibat, also die generelle Ehelosigkeit der Priester, Grund für den sexuellen Missbrauch Jugendlicher sei, dementiert das Gutachten grundsätzlich: „Allerdings sind weder Homosexualität noch Zölibat eo ipso Ursachen für sexuellen Missbrauch von Minderjährigen.“ Es gebe aber sehr wohl einen indirekten psychologischen Zusammenhang, betonen die Forscher: „Die Verpflichtung zu einem zölibatären Leben könnte Priesteramtskandidaten mit einer unreifen und abgewehrten homosexuellen Neigung als Lösung innerpsychischer Probleme erscheinen, die zusätzlich die Aussicht auf ein enges Zusammenleben ausschließlich mit Männern zumindest während der Priesteramtsausbildung mit sich bringt. Insoweit könnten spezifische Strukturen und Regeln der katholischen Kirche ein hohes Anziehungspotential für Personen mit einer unreifen homosexuellen Neigung haben. Homosexuelle Beziehungen oder Praktiken werden im offiziellen, nach außen hin sichtbaren Handeln der Kirche aber abgelehnt. Somit besteht die Gefahr, dass entsprechende Neigungen ‚versteckt‘ ausgelebt werden.“

Kirchliche Strukturen begünstigen den Missbrauch

Insgesamt handele es sich nicht nur um eine Anhäufung von Verfehlungen vieler einzelner Kleriker, sondern es gebe durchaus einen Zusammenhang mit den kirchlichen Strukturen, so die Forscher: „Die Untersuchungsergebnisse machen deutlich, dass es sich beim Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker der katholischen Kirche nicht nur um das Fehlverhalten Einzelner handelt, sondern dass das Augenmerk auch auf die für die katholische Kirche spezifischen Risiko- und Strukturmerkmale zu richten ist, die sexuellen Missbrauch Minderjähriger begünstigen oder dessen Prävention erschweren.“

Betroffene vermissen sowohl bei den Beschuldigten als auch bei der Institution Kirche ein glaubhaftes Bekenntnis zur eigenen Schuld und Reue.

MHG-Studie

So sei der Umgang der 27 deutschen Diözesen mit sexuellem Missbrauch sehr unterschiedlich, ebenso die Hilfsangebote für die Opfer sowie die Art der Führung der Personalakten, kritisieren die Forscher. „Eine einheitliche, koordinierte, authentische und proaktive Strategie und ein der Problematik angemessener, langfristig wirkender Maßnahmenkatalog der katholischen Kirche sind aus Sicht des Forschungskonsortiums angezeigt“, heißt es.

Offener Umgang mit Sexualität in der Priesterausbildung

„Betroffene vermissen sowohl bei den Beschuldigten als auch bei der Institution Kirche ein glaubhaftes Bekenntnis zur eigenen Schuld und Reue“, schreiben die Forscher weiter. Angesichts des Umstandes, dass viele Jahre lang in manchen Diözesen beschuldigte Kleriker weder straf- noch kirchenrechtlich belangt, sondern einfach in andere Gemeinden versetzt wurden, empfehlen die Forscher der Kirche für die Zukunft Gegenstrategien: „Das Vorgehen sollte vereinheitlicht und beschleunigt werden. Verfahrensschritte und getroffene Entscheidungen sollten transparent und nachvollziehbar sein und allen jeweilig Betroffenen und Beteiligten kommuniziert werden. Die Sanktionen sollten der Schwere des jeweiligen Delikts entsprechen.“

Die Verpflichtung zu einer zölibatären Lebensführung erfordert aber eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Emotionalität, Erotik und Sexualität.

MHG-Studie

Zwar sei der Zölibat an sich „kein Risikofaktor für sexuellen Missbrauch“. Allerdings fordern die Forscher Konsequenzen in der Priester-Aus- und Weiterbildung: „Die Verpflichtung zu einer zölibatären Lebensführung erfordert aber eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Emotionalität, Erotik und Sexualität. Ein vorwiegend theologischer und pastoraler Umgang mit diesen Entwicklungsanforderungen ist nicht ausreichend. Diese Auseinandersetzung erfordert vielmehr eine themengerechte, lebenslange professionelle Begleitung und Unterstützung.“