Um einen Studienplatz für Medizin zu bekommen, ist eine Abiturnote von 1,2 oder besser nötig. Ein zweiter Weg führt über eine Wartezeit. (Bild: Imago/Science Photo Library)
Urteil

Nicht die Note macht den Arzt

Das Verfahren zur Vergabe von Studienplätzen im Fach Humanmedizin ist teilweise verfassungswidrig und muss bis Ende 2019 neu geregelt werden. Gerade Bayern wird davon profitieren: Die Qualität des Abiturs muss künftig berücksichtigt werden.

Seit Jahrzehnten sorgt der Numerus Clausus, also die Zulassungsbeschränkung für das Studium, für Ärger. Nun muss sich zumindest im Bereich Medizin etwas ändern. Mit dem aktuellen Verfahren werde der grundrechtliche Anspruch der Studienplatzbewerber auf gleiche Teilhabe am staatlichen Studienangebot verletzt, entschied das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Grundsätzlich ist Auswahl zulässig

Auch wenn das Urteil nur für den Teilbereich Humanmedizin gesprochen wurde, dürften auch andere medizinische Bereiche, etwa Zahnmedizin oder Psychologie, davon betroffen sein (nicht zwingend jedoch andere NC-Fächer). Grundsätzlich ist die Vergabe nach den besten Abiturnoten, nach Wartezeit und nach einer Auswahl durch die Universitäten mit dem Grundgesetz zu vereinbaren, so das Urteil.

Wer ein guter Arzt ist, bestimmt nicht alleine die Abiturnote.

Lukas Jäger, Kläger

Bund und Länder müssen aber nach dem Urteil bis zum 31. Dezember 2019 verschiedene Mängel beheben:

  • So muss bei der Vergabe nach Wartesemestern der Zeitraum begrenzt werden. Das Gericht machte in seinem Urteil keine Vorgabe, deutete aber an, dass vier Jahre eine Grenze sein könnten. Aktuell sind etwa 15 Halbjahre – also 7,5 Jahre – nötig, um zum Zuge zu kommen. Die Bewerber werden also mehr als sieben Jahre daran gehindert, akademisch zu arbeiten, weil sie in der Zwischenzeit auch kein anderes Studium aufnehmen dürfen. Wer lange gewartet hat, bricht das Medizinstudium aber statistisch häufiger ab.
  • Auch der Zwang zur Festlegung auf bis zu sechs gewünschte Studienorte muss geändert werden: Aktuell kann es sein, dass ein Student, der ein Abitur von 1,1 hat, keinen Studienplatz an seiner gewählten Uni bekommt, wo der NC bei 1,0 liegt. An anderen Unis aber würde vielleicht eine Note 1,1 reichen. Auch sind bestimmte Unis besonders begehrt, so dass auch hier Ungerechtigkeiten auftreten.
  • Besonders wichtig für Bayern: Im Auswahlverfahren bei den Hochschulen muss laut Urteil eine Vergleichbarkeit der Abiturnoten über Landesgrenzen hinweg sichergestellt werden, weil das Abitur nicht überall gleich schwer ist. Auch bei den Fächerkombinationen, die für das Abitur ausreichen, haben es andere Studenten leichter. „Ich habe Leute kennengelernt, die haben ihr Abi in Sport und Kunst gemacht und studieren jetzt hier in München Medizin“, berichtet im BR etwa Maximilian Richter, ein seit langem Wartender. Diese Fächerkombination wäre an einem bayerischen Gymnasium gar nicht erlaubt.
  • Zudem muss es ein standardisiertes und strukturiertes Verfahren (das heißt objektiv nachvollziehbar und überprüfbar) geben, indem die Abiturnote nicht das einzige Kriterium sein darf. Hier könnte etwa die besondere persönliche Qualifikation für den Arztberuf berücksichtigt werden. Bayern hat seinen Universitäten die Möglichkeit gegeben, weitere Auswahlkriterien festzulegen. Künftig aber muss der Freistaat diese Kriterien festlegen.

Die Kläger

Dem Verfassungsgericht lagen zwei Fälle von Bewerbern aus Schleswig-Holstein und Hamburg vor, die keinen Studienplatz für Humanmedizin bekommen hatten. Kläger Lukas Jäger, der 2010 in Hamburg Abitur gemacht hatte und inzwischen einen Studienplatz bekommen hat, war zufrieden. „Wer ein guter Arzt ist, bestimmt nicht alleine die Abiturnote.“

Das richtige Signal zur richtigen Zeit.

Frank Ulrich Montgomery, Ärztekammer-Präsident

Es gibt aber auch warnende Stimmen. „Eine Garantie, zumindest irgendwann einen Studienplatz zu bekommen, gibt es nach der heutigen Entscheidung nicht mehr“, sagte etwa Rechtsanwalt Wilhelm Achelpöhler, der einen der abgelehnten Bewerber juristisch vertreten hatte, der SZ.

Fünf Bewerber pro Studienplatz

Auf jeden Studienplatz für Humanmedizin in Deutschland kommen nach aktuellen Zahlen 4,7 Bewerber. Die Verteilung läuft zu 20 Prozent über die besten Schulnoten, zu 20 Prozent über Wartezeit und zu 60 Prozent über ein Auswahlverfahren direkt bei den Hochschulen – aber auch da entscheidet vor allem die Note. Vorab wird schon ein Teil der Studienplätze nach speziellen Kriterien vergeben – etwa Härtefällen oder dem Bedarf des öffentlichen Dienstes an Medizinern.

Überwiegend positiv

Verbände und Politik reagierten meist positiv auf die Entscheidung. Ärztekammer-Präsident Frank Ulrich Montgomery nannte das Urteil „das richtige Signal zur richtigen Zeit“. Bei der überfälligen Reform des Medizinstudiums müsse nun Tempo gemacht werden, sagte auch Bundesbildungsministerin Johanna Wanka. „So genannte weiche Faktoren wie Empathie, soziale Kompetenz und Kommunikationsfreudigkeit können durch ein persönliches Auswahlgespräch festgestellt werden“, sagte der Bundesvorsitzende des NAV-Virchow-Bundes, Dirk Heinrich.

Bayern begrüßt Urteil

„Nunmehr wird bestätigt, dass die Regeln zur Vergabe von Studienplätzen am Kriterium der Eignung für das Medizinstudium und Anforderungen an ärztliche Tätigkeiten ausgerichtet werden müssen“, so Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml. Denn klar sei, dass nicht jeder Einser-Abiturient auch zwingend in der Patientenversorgung ein guter Arzt sei.

Die Ministerin ergänzte: „Darüber hinaus schafft Bayern zusätzliche Medizinstudienplätze. So entsteht in Augsburg zum Wintersemester 2018/2019 eine neue medizinische Fakultät.“ Das bedeute: schrittweise 252 weitere Studienplätze für Medizin. Im Vollausbauzustand werden in Augsburg bis zu 1500 angehende Mediziner studieren. Auch die neue Landesregierung von Nordrhein-Westfalen wolle ebenfalls eine neue medizinische Fakultät einrichten. „Zu einer Verbesserung der medizinischen Versorgung in Deutschland wird aber all das nur führen, wenn endlich alle Bundesländer daran gehen, die Zahl der Studienplätze deutlich zu erhöhen“, erklärte der hochschulpolitische Sprecher der CSU-Fraktion im Bayerischen Landtag, Oliver Jörg.

Zu wenig Studienplätze

Derzeit bewerben sich laut Bundesstatistikamt in Deutschland rund 57.700 Abiturienten auf 13.600 Ausbildungsplätze in den Bereichen Human-, Tier- und Zahnmedizin sowie Pharmazie, nur 8 Prozent brechen ihr Studium ab. Aber: 1990 wurden allein in West-Deutschland schon 12.000 Medizinstudenten im Jahr ausgebildet, dazu die DDR – das heißt, es wurden viele Medizin-Studienplätze abgebaut. Der Grund: Im Jahr 2015 kostete den Staat der billigste Student aus dem Bereich Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften rund 3900 Euro pro Jahr, der teuerste Student – aus der Humanmedizin – 30.870 Euro.

Mehr Medizin-Studienplätze könnten am Ende aber die einzige Lösung sein, um das Urteil gerecht für alle Bewerber umzusetzen.