Der Weiße Ring setzt sich für die Belange von Kriminalitätsopfer ein. (Bild: Imago/Westend61)
Kriminalität

Das Trauma nach der Tat

Immer mehr Trickbetrüger weisen sich als falsche Polizisten aus und locken vor allem Senioren in die Falle. Deutschlands größte Hilfsorganisation für Opfer von Kriminalität setzt sich mit Kampagnen für Prävention und Opferbelange ein.

Das Telefon klingelt. Die 74-Jährige nimmt ab, am anderen Ende der Leitung ist ein Kriminalbeamter. Er spricht von einem Notfall. Die Dame müsse sofort sämtliche Türen und Fenster schließen, ein Einbruch bei ihr sei geplant, die Täter seien gefährlich. Ihre Wertsachen sollte sie in einem Karton vor die Wohnung legen und sich verbarrikadieren – die Polizei sei auf dem Weg zu ihr. Dass sie auf einen Betrug hereingefallen war, stellte die Dame erst fest, als ihr Sohn einige Stunden später vorbeikam.

Trickbetrüger nutzen Höflichkeit aus

Der Fall ereignete sich vergangen Woche in München, die Beamten sind immer noch auf der Suche nach dem Täter. Die Masche, sich als falscher Polizist auszugeben, nimmt unter Trickbetrügern derzeit zu. Seit Beginn des Jahres wurden in München rund 100 Versuche aktenkundig. Die Polizei vermutet bei den Straftaten Hintermänner in der Türkei, seit Erdogans Säuberungswellen ein schwieriges Terrain. „Unsere Kontaktmöglichkeiten dorthin haben sich pulverisiert. Und ohne Zusammenarbeit können wir keine Erfolge verzeichnen“, sagte Polizeipräsident Hubertus Andrä der Münchner Abendzeitung. Was Senioren aber bleibt: eine gesunde Skepsis und im Zweifelsfall ein Rückruf bei der Polizei. Denn Tricktäter setzen vor allem auf die Hilfsbereitschaft und die Höflichkeit älterer Menschen, sagt Andreas Mayer, Geschäftsführer des Programms Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes ProPK.

Die Angst, im Alter Opfer zu werden, spielt eine große Rolle.

Andreas Mayer, Geschäftsführer der ProPK

Andere Betrugsmaschen, von denen Senioren häufig betroffen sind, sind Gewinnversprechen, Haustürgeschäfte und der besonders hinterhältige Enkeltrick. Hierbei rufen die Täter gezielt ältere Menschen an, behaupten, mit ihnen verwandt und in einer dringenden Notlage zu sein. Ziel ist, ihre Opfer dazu zu bringen, ihnen einen größeren Geldbetrag zu übergeben. Opfer schmerzt nicht nur der Verlust des Geldes. Noch schlimmer wiegen oft Scham und Angst. Die Scham darüber, zu gutgläubig gewesen zu sein und Angst, die Täter könnten wiederkommen.

Bewusstsein für die Opferperspektive

In solchen Fällen bieten ehrenamtliche Mitarbeiter der Organisation Weißer Ring Hilfe. Der Verein hat sich zu Deutschlands größter Hilfsorganisation für Opfer von Kriminalität entwickelt. Im vergangen Jahr feierte er sein 40-jähriges Jubiläum. Seit 1991 macht die Organisation mit dem Tag der Kriminalitätsopfer am 22. März auf Menschen aufmerksam, die durch Kriminalität und Gewalt geschädigt wurden.

Anteilnahme und Finanzspritze

In vielen Fällen entsteht der Kontakt durch die Polizei. Denn ihr fehlt gerade bei Gewalt- und Sexualdelikten oft das Personal für traumatisierte Opfer. Beistand und Anteilnahme sind eine unverzichtbare Hilfe in den ersten Momenten nach der Tat. Dann geht es darum, Anwälte zu vermitteln und für juristische sowie psychotraumatologische Erstberatung zu sorgen. Die Organisation übernimmt auch Anwaltskosten, insbesondere zur Wahrung von Opferschutzrechten im Strafverfahren und um Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz geltend zu machen. Hauptanlaufstelle ist das Telefon: Rund 14.100 Gespräche führten die Berater im vergangen Jahr. Zu den Aufgaben der aktuell 76 Opfer-Telefonberater gehört es, zuzuhören, erste Orientierung nach einer Straftat zu geben und die Personen beispielsweise an eine Traumaambulanz zu vermitteln.

Berater sprechen häufig über Vergewaltigungen

Am häufigsten sprachen die Berater im Jahr 2016 über Sexualdelikte wie Vergewaltigung und sexueller Kindesmissbrauch. Der Anteil dieser Deliktsgruppe an der Gesamtzahl aller geführten Gespräche beträgt 19 Prozent. Es folgt die Gruppe der Eigentums- und Vermögensdelikte wie Wohnungseinbruch, Trickdiebstahl und Betrug mit etwa 17 Prozent. An dritter Stelle steht Körperverletzung mit rund 15 Prozent – die Hälfte davon häusliche Gewalt. Ebenfalls stark vertreten ist Nachstellung und Stalking mit rund zwölf Prozent.

Mehr Psychotherapeuten für Traumatherapie

Laut einer Studie der Publikation „BPTK-spezial“ warten rund ein Drittel aller Patienten in Deutschland länger als drei Monate auf ein Erstgespräch bei einem Therapeuten. Die Versorgungslage sei also bereits für Menschen, die noch nicht zum Opfer einer Straftat geworden sind, denkbar schlecht, sagt Roswitha Müller-Piepenkötter, Bundesvorsitzende des Weißen Rings. Für Kriminalitätsopfer sei sie allerdings dramatisch. Dabei helfe gerade ihnen eine zügig startende Psychotherapie, Verzweiflung und Traumata zu verarbeiten.

Kriminalitätsopfer kämpfen nach einer Straftat nachweislich mit massiven Angstzuständen, Selbstzweifeln und großer Verunsicherung.

Roswitha Müller-Piepenkötter, Bundesvorsitzende des Weißen Rings

Krankenkassen sollen daher mehr Psychotherapeuten zulassen, damit Opfer schneller mit einer Therapie beginnen können, fordert Müller-Piepenkötter. Aber auch Therapeuten selbst könnten viel dafür tun, auf die Belange und Nöte von Kriminalitätsopfern besser einzugehen, stellt die Bundesvorsitzende heraus. Dazu zähle beispielsweise, Weiterbildungen im Bereich der Traumatherapie in ihren jeweiligen beruflichen Werdegang zu integrieren.

Polizei deckt immer mehr Straftaten auf

In den vergangenen 40 Jahren hat die Polizei immer mehr Straftaten aufgedeckt. So hat sich die Zahl der Gewaltdelikte seit 1976 knapp vervierfacht. Die polizeiliche Aufklärungsquote ist dabei gestiegen. Lag sie im Jahr 2014 bei etwa 55 Prozent, waren es in den 1990er-Jahren rund zehn Prozent weniger. Hinter der Statistik stecken tausende Opfer.

In den 1970er Jahren war es so, dass jeder nur über die Täter redete, wie man ihnen helfen kann – aber an die Opfer dachte niemand.

Eduard Zimmermann, Gründungsmitglied Weißer Ring

In Bayern nahm die Zahl der Straftaten 2016 zwar leicht zu, die Bürger im Freistaat leben aber immer noch sicherer als in allen anderen Bundesländern. Das zeigt die aktuelle Kriminalstatistik.

Vom Moderator zum Initiator

Gründer der Organisation war Eduard Zimmermann, Moderator der ZDF-Sendungen „Vorsicht Falle“ und „Aktenzeichen xy … ungelöst“. Ihn trieb damals folgende Frage um: „Wenn alle den Täter jagen, wer kümmert sich dann um die Opfer?“ So initiierte er die Gründung des Weißen Ring am 24. September 1976. Zu den 17 Gründungsmitgliedern gehörten auch der damalige Frankfurter Oberbürgermeister, spätere Bundesumweltminister und hessische Ministerpräsident, Walter Wallmann (CDU), der SPD-Bundestagsabgeordnete und Berliner Polizeipräsident Klaus Hübner, BKA-Chef und RAF-Bekämpfer Horst Herold sowie Münchens Polizeipräsident Manfred Schreiber.

Die Unterstützung wuchs schlagartig: So rief bereits Hanns-Eberhard Schleyer, Sohn des 1977 von der RAF ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, zu dessen Begräbnis erfolgreich um Spenden zugunsten von Terroropfern auf. Er erhielt dafür den Ehrenpreis des Weißen Rings.

Engagement für den Weißen Ring

Der Weiße Ring ist in 18 Landesverbände gegliedert und unterhält bundesweit 420 Außenstellen für Kriminalitätsopfer. Dort arbeiten rund 100 hauptamtliche und 3200 ehrenamtliche Helfer. Die beiden Landesverbände Bayern-Nord und Bayern-Süd haben insgesamt 74 Außenstellen. Von dort aus betreuen 388 ehrenamtlich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Opfer und ihre Familien.

Insgesamt zählt der Verein etwa 50.000 Mitglieder. Damit hat sich die Mitgliederzahl seit der Gründung des Vereins verzehnfacht und ist damit Deutschlands größte Hilfsorganisation für Opfer von Kriminalität. Der Weiße Ring erhält die Mittel für seine Arbeit aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden, Nachlässen sowie durch Geldbußen, die von Gerichten und Staatsanwaltschaften verhängt und an den Verein weitergegeben werden. 2015 hat der Weiße Ring rund 4,3 Millionen Euro an direkten Hilfen für Opfer ausgegeben.