Viele Opfer von Kriminalität leiden jahrelang an den psychischen Folgen. (Bild: Imago/Gerhard Leber)
Weißer Ring

Die Stimme der Opfer

Es fing ganz klein an und entwickelte sich zu Deutschlands größter Hilfsorganisation für Opfer von Kriminalität: Der Weisse Ring feiert in diesem Jahr sein 40-jähriges Jubiläum. Auch sieben Tatort-Kommissare engagieren sich, um mehr Menschen für das Thema zu sensibilisieren.

Wenn alle den Täter jagen, wer kümmert sich dann um die Opfer?

Eduard Zimmermann, Vereinsmitgründer Weißer Ring

Sonntagnachmittag in Norddeutschland. Hans Jürgen Strohbach wird nicht nur Zeuge eines Mordes. Er wird auch selbst lebensgefährlich verletzt, liegt tagelang auf der Intensivstation im Koma. In den Zeitungen und im Fernsehen macht das „Messerstecher-Drama“ Schlagzeilen. Autoren schildern den Tathergang, spekulieren über die Motive des Täters. Dass Strohbach irgendwann außer Lebensgefahr ist, ist in den Berichten nebensächlich. Hauptthema ist das Ehedrama. Unglücklicherweise spielte es sich in seiner untervermieteten Einliegerwohnung ab – und er war zu dem Zeitpunkt vor Ort. So wurde Strohbach zu einem sogenannten „Opfer von Kriminalität“. Viele von ihnen leiden jahrelang körperlich, psychisch und finanziell an den Folgen einer Straftat.

Mehr Rechte für die Opfer

In solchen Fällen bieten ehrenamtliche Mitarbeiter der Organisation Weißer Ring Hilfe. Der Verein hat sich zu Deutschlands größter Hilfsorganisation für Opfer von Kriminalität entwickelt. In diesem Jahr feiert er sein 40-jähriges Jubiläum. In den Jahren seines Bestehens habe der Verein enorm dazu beigetragen, die rechtliche und soziale Situation von Kriminalitätsopfern zu verbessern und das Umfeld, in dem sich Kriminalitätsopfer bewegen, zum Positiven zu verändern, sagte Roswitha Müller-Piepenkötter, Bundesvorsitzende des Weißen Rings, im Rahmen eines Festaktes des Vereins in der Frankfurter Paulskirche. Beispielhaft nannte die Bundesvorsitzende die mit der Zeit ausgebaute staatliche Unterstützung für Opfer sowie die Tatsache, dass ihnen heutzutage im Strafprozess mehr Rechte zustehen als früher.

Getan ist unsere Arbeit aber noch lange nicht. Nach wie vor sehen wir Verbesserungsbedarf, um Hilfesuchende wirklich gut und umfänglich versorgen zu können.

Roswitha Müller-Piepenkötter, Bundesvorsitzende des Weißen Rings

Opferentschädigungsgesetz in der Kritik

So kritisiert der Weiße Ring aktuelle Regierungspläne zum Opferentschädigungsgesetz (OEG). Zum einen sehen die Pläne deutliche Kürzungen der bisherigen Entschädigungsleistungen für Opfer vor, zum anderen soll ein neues Bundesamt geschaffen werden, das sich mit dem OEG und Entschädigungsleistungen für Opfer befassen soll. Müller-Piepenkötter befürchtet, dass damit unnötige Bürokratie entstehe. Opfer brauchen hingegen schnelle Verfahren und finanzielle Sicherheit, aber keine weitere Behörde, kritisiert sie. Mit der Einführung des OEG, das in diesem Jahr ebenfalls seit 40 Jahren besteht, habe der Gesetzgeber die Versorgungslage von Opfern prinzipiell verbessert. Allerdings müssen Opfer oft zu lange warten und zu viele bürokratische Hürden nehmen, um Hilfen wie finanzielle Leistungen und Therapien in Anspruch nehmen zu können. Denn häufig ziehen sich Entschädigungsverfahren von der Antragstellungsstellung bis zur Leistungsgewährung über Jahre hin.

Hilfe per Telefon

Der Weiße Ring konnte in seinen Bestehensjahren vielen hunderttausend in Not Geratenen helfen. Insgesamt wurden mehr als 353.000 materielle Hilfeleistungen für die Opfer erbracht. Für Betreuungsmaßnahmen wie Hilfeschecks für anwaltliche oder psychotraumatologische Erstberatungen sowie rechtsmedizinische Untersuchungen wurden rund 141 Millionen Euro bereitgestellt. Hauptanlaufstelle ist das Telefon mit der Nummer 116 006. Im März 2016 knackte das Opfer-Telefon des Vereins die 100.000-er Marke der geführten Telefonate. Insgesamt rund 687.000 Minuten haben die ehrenamtlichen Mitarbeiter des Opfer-Telefons von August 2009 bis Juni 2016 am Telefon mit Kriminalitätsopfern, ihren Angehörigen und Vertrauten gesprochen. Im August 2016 hat der Weiße Ring auch eine Onlineberatung eingerichtet.

Anteilnahme und Finanzspritze

Oft entsteht der Kontakt durch die Polizei. Denn ihr fehlt gerade bei Gewalt- und Sexualdelikten oft das Personal für traumatisierte Opfer. Beistand und Anteilnahme sind eine unverzichtbare Hilfe in den ersten Momenten nach der Tat. Dann geht es darum, Anwälte zu vermitteln und für juristische sowie psychotraumatologische Erstberatung zu sorgen. Die Organisation übernimmt auch Anwaltskosten, insbesondere zur Wahrung von Opferschutzrechten im Strafverfahren und um Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz geltend zu machen.

Vom ZDF-Moderator zum Gründungsmitglied

In den vergangenen 40 Jahren hat die Polizei immer mehr Straftaten aufgedeckt. So hat sich die Zahl der Gewaltdelikte seit 1976 knapp vervierfacht. Die polizeiliche Aufklärungsquote ist dabei gestiegen. Lag sie im Jahr 2014 bei etwa 55 Prozent, waren es in den 1990er-Jahren noch etwa zehn Prozent weniger. Hinter der Statistik stecken tausende Opfer. „In den 1970er Jahren war es so, dass jeder nur über die Täter redete, wie man ihnen helfen kann – aber an die Opfer dachte niemand“, erinnert sich Eduard Zimmermann. Die Stimmung ging sogar noch weit darüber hinaus, in einer Phase, in der Justiz und Strafvollzug mit links-schwärmerischen Resozialisierungs-Ideologien überfrachtet waren. „Man musste aufpassen, dass man nicht in die falsche Ecke gestellt wurde, wenn man die täterfreundliche Stimmung angriff und Rechte für die Opfer einforderte“, so Zimmermann weiter.

Man musste aufpassen, dass man nicht in die falsche Ecke gestellt wurde, wenn man die täterfreundliche Stimmung angriff und Rechte für die Opfer einforderte.

Eduard Zimmermann

Der Journalist und Moderator der ZDF-Sendungen „Vorsicht Falle“ und „Aktenzeichen xy … ungelöst“ trieb folgende Frage um: „Wenn alle den Täter jagen, wer kümmert sich dann um die Opfer?“ So initiierte er die Gründung des Weißen Ring am 24. September 1976. Zu den 17 Gründungsmitgliedern gehörten auch der damalige Frankfurter Oberbürgermeister, spätere Bundesumweltminister und hessische Ministerpräsident, Walter Wallmann (CDU), der SPD-Bundestagsabgeordnete und Berliner Polizeipräsident Klaus Hübner, BKA-Chef und RAF-Bekämpfer Horst Herold sowie Münchens Polizeipräsident Manfred Schreiber.

Die Unterstützung wuchs schlagartig: So rief bereits Hanns-Eberhard Schleyer, Sohn des 1977 von der RAF ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, zu dessen Begräbnis erfolgreich um Spenden zugunsten von Terroropfern auf. Er erhielt dafür den Ehrenpreis des Weißen Rings.

Opferhilfe statt Tatortbegehung

Das Jubiläumsjahr hat sieben bekannte Tatort-Kommissare dazu bewegt, eine Kampagne ins Leben zu rufen, um deutschlandweit mehr Aufmerksam auf das Thema zu lenken. Im Fernsehen ermitteln sie nach einem Mord, um den Täter zu überführen – in der Realität unterstützen sie die Opferhilfe. Schauspielerin Adele Neuhauser, bekannt als Wiener Tatort-Kommissarin Bibi Fellner, bedauert, dass in den Medien viel zu selten die Psyche der Opfer zum Thema gemacht werde.

Leider sprechen wir in den Medien viel zu selten über die Opfer und ihre psychische Verletztheit.

Adele Neuhauser, Schauspielerin bei Tatort

Mit dabei sind Klaus J. Behrendt und Dietmar Bär (Tatort Köln), Adele Neuhauser und Harald Krassnitzer (Tatort Wien), Anna Schudt (Tatort Dortmund), Wolfram Koch (Tatort Frankfurt) sowie Ulrike Folkerts (Tatort Ludwigshafen). Teil der Kampagne sind neben Motiv-Plakaten mit den sieben bekannten Tatort-Kommissaren in zehn deutschen Großstädten auch Video-Statements. Sie können auf der Internetseite des Vereins sowie über seine Social-Media-Plattformen wie Facebook und YouTube abgerufen werden.

Engagement für den Weißen Ring

Der Weiße Ring ist in 18 Landesverbände gegliedert und unterhält bundesweit 420 Außenstellen für Kriminalitätsopfer. Dort arbeiten rund 100 hauptamtliche und 3200 ehrenamtliche Helfer. Insgesamt zählt der Verein inzwischen etwa 50.000 Mitglieder. Damit hat sich die Mitgliederzahl seit der Gründung des Vereins verzehnfacht und ist damit Deutschlands größte Hilfsorganisation für Opfer von Kriminalität. Der Verein leistet seine Hilfe unabhängig von einer Mitgliedschaft oder sonstigen Verpflichtungen. Der Weiße Ring erhält die Mittel für seine Arbeit aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden, Nachlässen sowie durch Geldbußen, die von Gerichten und Staatsanwaltschaften verhängt und an den Verein weitergegeben werden. 2015 hat der Weiße Ring rund 4,3 Millionen Euro an direkten Hilfen für Opfer ausgegeben.

Unter denen, die im Weißen Ring aktiv sind, gibt es Vertreter der unterschiedlichsten Berufsgruppen. In Seminaren lernen sie unter anderem, wie sie Opfer in Strafverfahren begleiten und was das Opferentschädigungsgesetz bedeutet. Möglich ist etwa auch, sich in Bereichen wie Kriminalprävention, Öffentlichkeitsarbeit oder Fundraising fortzubilden.

Informationen hier: http://www.weisser-ring.de/