Bayernkurier: Sie bezeichnen sich als „Ergebnis der deutschen Gesellschaft“. Warum hat die Integration bei Ihnen funktioniert?
Düzen Tekkal: Weil sich die Solidargemeinschaft eingesetzt hat. Dafür ist Bayern auch bekannt: das Wurzel- und Flügelprinzip. Wissen, wo man her kommt, wissen, wo man hin will. Und dies setzt voraus, dass man weiß, wo man im Leben steht. In Augsburg gibt es einen höheren Migrationsanteil als in Berlin und trotzdem funktioniert das Zusammenleben weitgehend. Darauf kann man stolz sein, das muss und darf man auch richtig kommunizieren.
Bayernkurier: Anfang Oktober haben Sie gemeinsam mit UN-Sonderbotschafterin Nadia Murad die Kanzlerin getroffen. Worüber haben Sie mit ihr gesprochen?
Tekkal: Ich habe meinen Dank zum Ausdruck gebracht, eine Kanzlerin zu haben, die mir das Gefühl gibt, dass ich, aus einer Flüchtlingsfamilie stammend, Teil dieser Gesellschaft bin. Was trotzdem nicht heißt, dass ich nicht auch Schwierigkeiten benennen muss. So habe ich auf die Situation der Christen und Jesiden in den Flüchtlingsunterkünften hingewiesen. Ich habe mit vielen Jesiden gesprochen, die ihren Glauben aus Angst vor Übergriffen verleugnen, und das in Deutschland! Wenn man sich selbstbewusst dazu bekennt, kommt es sogar zu körperlichen Übergriffen durch Muslime.
Wenn mitten im 21. Jahrhundert Kinder im Beisein der Mütter gefoltert werden, wenn Babys das Genick gebrochen wird, wenn achtjährige Mädchen vergewaltigt werden, dann müssen diese Geschichten erzählt werden, damit sie nie vergessen werden.
Düzen Tekkal
Was ich daran auch schwierig finde, ist die Tatsache, dass Menschen, die sich auf den weiten Weg zu uns gemacht haben und hier das erste Mal in Frieden und Sicherheit leben können, es trotzdem nicht schaffen, diese kulturellen Probleme und Vorurteile an der Grenze abzugeben. Auch ich, die hier geboren und aufgewachsen ist, habe mit diesen Vorurteilen schon in der Schule zu kämpfen gehabt. Dann war das jahrzehntelang vorbei. Und jetzt bekomme ich über die Sozialen Medien mit, dass nicht nur Fremde mich als Teufelsanbeterin bezeichnen, sondern auch ehemalige Schulkameraden. Da müssen wir wirklich eine Toleranzgrenze von Null ziehen, da müssen wir mehr Zähne zeigen, was heißt, dass wir konsequent sind, dass wir hinter unseren Minderheiten stehen. Ich glaube, dass genau an solchen Punkten die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie verhandelt wird.
Bayernkurier: Was haben Sie während Ihres Einsatzes im IS-Gebiet erlebt?
Tekkal: Gerade als deutsche Jesidin war es ein ganz seltsames Gefühl zu wissen, dass Teile der IS-Kämpfer aus Deutschland kommen, die sich an den Verbrechen beteiligt haben. Der Einsatz in der Krisenregion hat mein ganzes Leben verändert. Wenn mitten im 21. Jahrhundert Kinder im Beisein der Mütter gefoltert werden, wenn Babys das Genick gebrochen wird, wenn achtjährige Mädchen vergewaltigt werden, dann müssen diese Geschichten erzählt werden, damit sie nie vergessen werden. 4000 Jesiden sind noch in den Händen des IS. Und das Schlimme ist, dass die Jesiden zunehmend als lebende Schutzschilder etwa in Mossul genutzt werden. 1000 Kinder wurden zu Soldaten gemacht.
Bayernkurier: Wie war die Situation Ende 2013 im Sindschargebirge, in das viele Jesiden geflohen sind?
Tekkal: Es war wie aus einer anderen Zeit. Biblische Bilder, Bilder, die sich eingebrannt haben. Es war die Hölle, mit der keiner etwas zu tun haben wollte. Und es waren dann vor allem viele Christen, die sich eingesetzt haben für uns Jesiden unter dem Aspekt der Nächstenliebe. Dazu gehörte auch, dass CDU- und CSU-Politiker dafür gesorgt haben, dass mein Dokumentarfilm über diesen Völkermord im Deutschen Bundestag gezeigt worden ist – und danach wendete sich das Blatt. Denn dass der IS so groß werden konnte, hatte etwas damit zu tun, dass dessen Opfer nicht unsere Toten waren. Aber man kann nicht nur warten, bis es einen selber trifft, sondern muss schon vorher handeln, auch wenn wir am liebsten die Augen zudrücken wollen. Auch dort unten werden unsere christlichen Werte verteidigt: Säkularismus, Frauenrechte, Menschenrechte und vieles mehr. Ich habe immer geglaubt, München wäre eine Insel der Seligen, aber diese Inseln gibt es nicht mehr. Die Anschläge finden überall statt.
Unsere Aufgabe ist es, säkulare Muslime zu stärken, damit sie den sehr konservativen Islamverbänden die Stirn bieten können.
Düzen Tekkal
Bayernkurier: Jesiden werden „Teufelsanbeter“ genannt, obwohl sie gerade nicht an einen Teufel glauben. Warum verachtet ein Teil der Muslime die Jesiden?
Tekkal: Die Tatsache, dass wir keine Heilige Schrift, wie die Bibel oder den Koran besitzen, und dass man nicht zum jesidischen Glauben konvertieren kann, hat uns zur Zielscheibe der Muslime gemacht. Es gibt auch noch einen großen Unterschied: Jesiden haben die Möglichkeit zur Selbstkritik. Unser Engel Melek Taus hat das gottgegebene Wort hinterfragt. Und das war ein Affront für eine Religion, die zu Teilen einer Unterwerfungsideologie unterliegt und wo man eben nicht hinterfragen darf. Das heißt, für mich und meine Arbeit ist es wichtig, dass ich mit der innerjesidischen Kritik anfange und dann gesellschaftskritisch werde, um dann auch islamkritisch sein zu dürfen. Der zentrale Fehler in unserem System ist doch, dass Islamkritik als Schimpfwort gilt – und davon müssen wir weg.
Bayernkurier: Wie ermöglichen wir denn einen kritischen Umgang mit dem Islam?
Tekkal: Unsere Aufgabe ist es, säkulare Muslime zu stärken, damit sie den sehr konservativen Islamverbänden die Stirn bieten können. Wir müssen auch dafür sorgen, dass die Arbeit der Islamverbände auf dem Grundgesetz fußt und dass wir da nicht die Kontrolle verlieren. Imame müssen selbstverständlich Deutsch sprechen und hier ausgebildet werden, wie es gegenwärtig teilweise schon passiert. Wir müssen uns generell alle mal hinterfragen und aus unserer Komfortzone ausbrechen. Auch mal Haltung zeigen, Haltung bewahren. Das heilige Buch ist für mich das Grundgesetz und dem haben wir alles unterzuordnen – und zwar jede Religion.
Bayernkurier: In unserer beliebigen Multi-Kulti-Gesellschaft ist es aber besonders schwer, nicht von unseren Werten abzurücken. Und wer das tut, gilt gleich als rechtsradikal oder mindestens rückwärtsgewandt.
Tekkal: Genau deshalb ist für mich Multi-Kulti gestorben. Wo stehen wir denn? Wir stehen doch vor großen Herausforderungen, gerade in der Flüchtlingsfrage. Es geht hier beispielsweise auch darum, dass die Union sich ihre Themen zurückholen muss. Wir sind das Original. Die CDU hat schon 2003 über das Kopftuchverbot diskutiert. Wir müssen die Menschen mitnehmen, müssen erklären und nichts verschweigen. Es macht die Menschen wütend, wenn nicht darüber geredet wird.
Bayernkurier: Wie soll das im Islam in Sachen Gleichberechtigung von Mann und Frau überhaupt funktionieren, wenn unser Grundgesetz der Maßstab ist?
Tekkal: Die Gleichberechtigung ist für mich nicht verhandelbar. Dafür müssen wir kämpfen, das haben wir in den letzten 40 Jahren versäumt und die Frauen im Stich gelassen. Und die Integrationsfrage hängt für mich ganz entscheidend an der Frauenfrage. Die Debatte um die Burka zeigt doch: in dem Moment, wo ich über das Thema spreche, ist meine Verhandlungspartnerin nicht die Frau in der Burka, sondern der Mann, der dafür gesorgt hat – denn der ist das Integrationshemmnis. Wenn es uns gelingt, die Rechte der Frauen zu stärken, gelingt uns auch die Integration.
Die Frauen können dieses rückständige Gesellschaftsverständnis zum Einsturz bringen. Das fordert Haltung. Wenn Flüchtlinge in den Unterkünften das Essen verweigern, weil sie es von einer Frau gereicht bekommen, muss man wehrhaft bleiben und sagen: „Von der Frau oder gar nicht.“ Da darf man keine Übertoleranz an den Tag legen. Beispielsweise sollte auch der Schwimmunterricht für alle Mädchen verpflichtend werden. Die Mädchen aus Zuwandererfamilien haben ohnehin weniger Probleme, hier anzukommen, weil sie von Anfang an für ihre Rechte kämpfen mussten. Eine perfekte Vorbereitung für unsere Leistungsgesellschaft.
Bayernkurier: Was ist neben der Gleichberechtigung für eine erfolgreiche Integration erforderlich?
Tekkal: Ich setze mich ein für Belohnung nach Anstrengung. Damit bin ich aufgewachsen. Mein Vater und mein Onkel haben 30 Jahre lang in den Fabriken malocht, sich angepasst, untergeordnet und etwas geleistet. Dieses Leistungsprinzip vermisse ich in der Politik. Wir befördern die soziale Hängematte. Wir gewöhnen die Bürger an Transferleistungen, ebenso die Flüchtlinge. Und wundern uns dann, wenn sie immer weitere Forderungen stellen. Es ist ganz wichtig, dass wir vom ersten Tag an dafür sorgen, den Menschen beizubringen, hier erreicht man nur etwas, wenn man auch etwas dafür tut. Man kann nur Brötchen backen, wenn man auch genug Mehl hat. Deshalb brauchen wir die richtigen Strukturen dafür, dass Flüchtlinge hier arbeiten können. Die haben wir leider immer noch nicht. Uns muss klar sein: Das Thema ist in den nächsten 20 Jahren nicht mehr losgelöst von unserer Lebenswirklichkeit zu verstehen. Also müssen wir doch ein Interesse daran haben, die Gesellschaft zu gestalten, wenn nicht für uns, dann wenigstens für unsere Kinder.
Wenn mir ein Jugendlicher erzählt, er habe keinen Job bekommen, weil er Achmed heiße, antworte ich: Nein, weil du morgens nicht aufstehst. Ausreden darf man nicht gelten lassen.
Düzen Tekkal
Bayernkurier: Gibt es denn einen Weg, die Kinder der Zuwanderer zu erreichen?
Tekkal: Wir können doch nicht ernsthaft glauben, wenn wir die Erziehung der jungen muslimischen Kinder nur den Islamverbänden und den Eltern überlassen, dass das keine hinreichenden Konsequenzen hat. Wichtig ist eine werteorientierte Bildung, da müssen wir viel selbstbewusster sein. Wir müssen den Nahostkonflikt in die Lehrpläne aufnehmen. Die Themen Rassismus und Antisemitismus in Zuwandererfamilien diskutieren. Wir sollten im Schulwesen auch über Lotsen nachdenken, über Vorbilder, die es geschafft haben in Deutschland. Da haben wir viele Möglichkeiten, wenn wir wollen. Und ich appelliere an die Selbstverantwortung der Menschen. Wenn mir ein Jugendlicher erzählt, er habe keinen Job bekommen, weil er Achmed heiße, antworte ich: Nein, weil du morgens nicht aufstehst. Ausreden darf man nicht gelten lassen. Das hat man viel zu lange zugelassen, sodass sich Parallelstrukturen gebildet haben, und das nicht erst seit der Flüchtlingskrise. Wir haben den Dschihadismus längst exportiert, mit Menschen, die hier sozialisiert worden sind.
Bayernkurier: Wie sollten wir Einwanderung steuern?
Tekkal: Wir brauchen eine vernünftige Einwanderungspolitik. Wir müssen natürlich mit entscheiden dürfen, wer hier rein darf und wer nicht. Und das sage ich als Kind von Flüchtlingen. Wir brauchen diesen „German Dream“ und den gibt es. Deutschland ist das zweibeliebteste Land der Welt, das müssen wir doch sinnvoll nutzen. Es gilt aber auch: In dem Moment, wo ich als Rechtsstaat den Menschen alle Möglichkeiten gebe und feststelle, dass er dennoch mit den Füßen getreten wird, muss ich auch Sanktionen verhängen können.
Bayernkurier: Integration ist durch sachliche Faktoren begrenzt, beispielsweise Wohnungen, Finanzen oder Personal wie Lehrer und Kindergärtner. Wie lässt sich Zuwanderung begrenzen, damit die Integration nicht scheitert?
Tekkal: Wir dürfen nur so viele Menschen aufnehmen, wie wir auch vernünftig integrieren können. Ich tue mich schwer damit, das an Zahlen festzumachen.
Das ist auch das Problem zwischen den beiden Schwesterparteien CDU und CSU. Es ist gar nicht inhaltlicher, sondern kommunikativer Natur. Allen ist klar, dass wir Zuwanderung regulieren müssen. Aber diese Begrenzung gemeinsam mit einer Stimme zu formulieren, wird die Herausforderung, deren Lösung ich mir wünsche – und zwar vor 2017. Wenn das geklärt ist und die Menschen damit ein Gefühl von Sicherheit haben, werden sie auch die Volksparteien als ihre Heimatparteien vergegenwärtigen. Die derzeitigen Wahlergebnisse erklären sich nicht dadurch, dass die AfD so gut, sondern dass wir so schlecht geworden sind. Und sie erklären sich auch nicht nur durch die Flüchtlingsproblematik, sondern auch durch die Realitätsverweigerung auf Bundesebene. Dass etwas anderes kommuniziert wird als das, was die Menschen fühlen und sehen, das nimmt sie nicht mit.
Bayernkurier: Wir haben jetzt Hunderttausende muslimische Syrer ins Land gelassen, die mit Antisemitismus, Antiamerikanismus und teilweise der Geringschätzung von Frauen aufgewachsen sind. Haben wir uns damit einen Gefallen getan? Diese Ansichten enden ja nicht beim Grenzübertritt.
Tekkal: Das können wir jetzt noch nicht beantworten, aber es liegt auch in unserer Hand. Wir müssen realisieren, dass Menschen aus dem Mittleren und Nahen Osten aufgrund der Tatsache, wie sie sozialisiert, erzogen, aber auch schulisch geprägt wurden, Antisemitismus befördern können. Das müssen wir enttabuisieren. Nur so können wir vernünftig darüber reden, wie wir hier gegensteuern können. Denn eins ist für mich auch nicht verhandelbar: das Existenzrecht Israels. Das ist auch der Grund, warum wir so eng mit den jüdischen Gemeinden zusammenarbeiten.
Bayernkurier: Bei welchen Projekten?
Tekkal: Mein Hilfsverein „HAWAR.help“ hat gemeinsam mit der jüdischen Gemeinde Programme gegen das Vergessen erstellt. Wir machen aber auch Sport-und Integrationsprojekte. Meine Schwester Tugba, Bundesligaspielerin beim 1.FC Köln, betreut das Projekt „Scoring Girls“ für Mädchen aus Flüchtlingsunterkünften, aber auch für deutsche Kinder aus sozial schwierigen Verhältnisse. Wir haben uns auf die Fahne geschrieben, über unsere Biographien Vorbilder zu sein. In dem Moment, wo wir die Mädchen aus den Flüchtlingsunterkünften herauskriegen, kommen sie in Kontakt mit neuen Rollenbildern, die nicht nur mit dem eigenen Umfeld verbunden sind. Meine Schwester hat sich damals emanzipiert, als sie die Fußballschuhe in die Hand genommen hat. So kann man über den Integrationsfaktor Sport, Leistung und Werte wie Teamgeist, Fairness und Disziplin vermitteln.
Das Interview führten Anja Schuchardt und Andreas von Delhaes-Guenther.
„Es ist Zeit, Probleme benennen zu dürfen“
Düzen Tekkal kam 1978 als eines von elf Kindern in Hannover zur Welt. Ihre Eltern sind Kurden und gehören der Religionsgemeinschaft der Jesiden an. Im vergangenen Jahr dokumentierte Tekkal in einem Film die Verbrechen des Islamischen Staates an den Jesiden. Im März erschien ihr Buch „Deutschland ist bedroht“. Lesen Sie mehr dazu im Interview mit dem Bayernkurier.