Entwicklungshilfeminister Gerd Müller bei der Hanns-Seidel-Stiftung: "Wenn wir warten oder nur kurzfristige Politik machen, dann wird uns das Afrika-Problem überrollen." (Bild: Christian Müller, Hanns-Seidel-Stiftung)
Hanns-Seidel-Stiftung

„Europa braucht intelligentes Grenzmanagement“

Vor 40 Jahren begann die Hanns-Seidel-Stiftung ihr internationales Engagement. Zum Jubiläum hat sie ein Symposium organisiert über: Entwicklungszusammenarbeit im Zeichen von globalen Krisen und Herausforderungen. Entwicklungsminister Gerd Müller kündigt einen großen Afrika-Marshall-Plan an. Hans-Peter Uhl rät Europa zu intelligentem und striktem Grenzmanagement.

Afrika kann Europas Schicksals-Kontinent werden. Jeden Tag wächst Afrikas Bevölkerung um über 200.000 Menschen, um 1,5 Millionen jede Woche – einmal München. Jedes Jahr sind es über 80 Millionen neue Afrikaner – einmal Deutschland. Bis zum Jahr 2050 wird sich Afrikas Bevölkerung von heute 1,2 Milliarden auf 2,4 Milliarden verdoppeln (1950: 230 Millionen). Im Sahelzonenland Niger, dessen Bevölkerung sich bis 2050 von heute knapp 20 Millionen auf 70 Millionen mehr als verdreifachen wird (1950: 2,5 Millionen), beträgt das Durchschnittsalter 15 Jahre. Mädchen sind dort mit 15 schon zum zweiten Mal schwanger und werden insgesamt bis zu zehn Kinder bekommen.

Großer Afrika-Marshall-Plan

Afrikas Bevölkerungszahlen bedeuten vor allem eines: Wenn nichts geschieht, dann ist der Migrantenstrom aus Afrika, den Europa heute erlebt und der es schon jetzt an seine Grenzen führt, nur ein ganz harmloser Vorgeschmack dessen, was sich da in den nächsten Jahren und Jahrzehnten in Bewegung setzen und auf Europa zukommen kann. Eines können sich die Europäer darum nicht leisten: abzuwarten und den afrikanischen Dingen einfach nur zuschauen. Aus dem Grund wird Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) in den nächsten Wochen einen großen „Afrika-Marshall-Plan“ vorstellen. Müller: „Wenn wir warten oder nur kurzfristige Politik machen, dann wird uns dieses Problem überrollen.“

Wenn wir warten oder nur kurzfristige Politik machen, dann wird uns dieses Problem überrollen.

Entwicklungsminister Gerd Müller

Afrika-Marshall-Plan – das Stichwort fällt auf einem spannenden Symposium über „die Entwicklungszusammenarbeit in Zeichen von globalen Krisen und Herausforderungen“, das sich die Hanns-Seidel-Stiftung zum 40. Geburtstag ihres Instituts für Internationale Zusammenarbeit spendiert. Vor 40 Jahren begann die Hanns-Seidel-Stiftung ihr internationales Engagement – mit einem Projekt in Afrika. Auch in China war die CSU-nahe Stiftung sehr früh vertreten – 1975 hatte Franz Josef Strauß mit seiner spektakulären Reise nach Peking Türen aufgestoßen. Heute ist die Stiftung in mehr als 60 Ländern aktiv und führt mit den lokalen Partnern Maßnahmen der politischen Beratung und Bildung durch: Demokratieaufbau und Demokratieförderung. Wobei man sich daran erinnern sollte, dass höchstens ein Drittel der knapp 200 Länder der Welt Demokratie und Menschenrechte pflegen. Und daran, dass sich heute mancherorts Rückschritte bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit abzeichnen.

Demokratie-Festigung

Wer wissen will, was jetzt etwa in Afrika zu leisten ist, der darf ruhig nach Europa schauen und sich an die Welt vor 40 Jahren erinnern, meint Minister Müller: In Spanien war gerade die Franco-Diktatur zu Ende gegangen. Spanien, Portugal und Griechenland waren Entwicklungsländer, mitten in Europa. Die osteuropäischen Länder waren von Freiheit, Demokratie und wirtschaftlicher Entwicklung weit entfernt.

Spanien, Portugal, Griechenland und Osterweiterung − das Gleiche muss uns nun mit Afrika gelingen.

Gerd Müller

Demokratiefestigung in Spanien, Portugal und Griechenland und eben die Osterweiterung nennt Müller denn auch als die große Leistung der europäischen Politik, der Arbeit Berlins und anderer Hauptstädte sowie von Institutionen wie der Hanns-Seidel-Stiftung und ihres Instituts für internationale Zusammenarbeit. Als der Eiserne Vorhang fiel, hatten die Westeuropäer Angst, von osteuropäischen Arbeitskräften überschwemmt zu werden. Heute haben etwa Polen und Tschechen ein wirtschaftliches Niveau erreicht, dass sich 1990 keiner für sie vorstellen konnte – und brauchen Arbeitskräfte. Müller: „Das Gleiche muss uns nun mit Afrika gelingen.“ Darum demnächst Müllers Afrika-Marshall-Plan. Auf die Details darf man gespannt sein.

Wir können in Deutschland nicht die Probleme der Welt lösen. Ein Jahr wie 2015 lässt sich nicht wiederholen.

Gerd Müller

Europa stellt heute sechs bis sieben Prozent der Weltbevölkerung, Deutschland etwas über ein Prozent – in beiden Fällen Tendenz sinkend. In Zeiten der Globalisierung können die Europäer kaum 95 Prozent der Weltbevölkerung „draußen lassen“, meint Müller. Genauso richtig sei allerdings: „Wir können in Deutschland nicht die Probleme der Welt lösen.“ Ein Jahr wie 2015 lasse sich nicht wiederholen. Aus dem Grunde, so Müller, „müssen wir in die Krisenregionen gehen, das ist jetzt unsere Aufgabe“. Müller konzentriert sich mit seinem Ministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (Etat: knapp acht Milliarden Euro) auf praktische Dinge: etwa in Flüchtlingslagern im Libanon Strukturen zu schaffen für Schulen oder Abfallbeseitigung.

„Die Themen Flucht und Bevölkerungsentwicklung werden uns die nächste Generation beschäftigen“, warnt Müller und meint, dass da europäischerseits noch viel zu wenig passiert: „Die EU wird ihrer Verantwortung nicht gerecht.“ Der Minister wünscht sich, dass in Zukunft in Brüssel für alle Entwicklungshilfe-Fragen „ein einziger EU-Kommissar federführend die Verantwortung übernimmt, statt vier Kommissaren“.

Gerd Müllers erfolgreiches Textilbündnis

Was kann bei der Afrika-Entwicklungshilfe der Beitrag der Europäer sein? Die reichen Industrieländer „müssen neu lernen, Wohlstand zu teilen“, meint Müller. Sie müssen sich auf das „Fundament unserer christlichen Werte“ besinnen: „Der Starke übernimmt Verantwortung für den Schwachen, der Reiche trägt Verantwortung für den Armen.“ Zehn Prozent der Menschheit besäßen 90 Prozent des Vermögens, und 20 Prozent beanspruchten 80 Prozent der Ressourcen, so Müller, „und die Schere geht immer weiter auseinander“. Müller: „Es muss gerecht zugehen. Aber wenn es sich heute so auseinander entwickelt, dann ist das nicht gerecht.“ In Afrika gebe es keinen „Entwicklungssprung“, „weil wir Europäer kein Interesse daran haben“.

Wir müssen die Wertschöpfungskette gerecht gestalten, sonst zahlen auch wir drauf.

Gerd Müller

Für den dringend nötigen Entwicklungssprung brauche es einen partnerschaftlichen Ansatz und Wertschöpfung vor Ort. „Wir müssen die Wertschöpfungskette gerecht gestalten.“ Müller erinnert an die Blue Jeans „in meiner Größe“, die in der Produktion in Bangladesch sechs Dollar kosten – „und hier in München 100 Euro“. Die Wertschöpfungskette ließe sich gerechter gestalten, „ohne dass uns das weh tut“. Mit seinem sogenannten Textilbündnis, das in Niedriglohnländern die Arbeits- und Lebensbedingungen in der Textilindustrie verbessern will, ist Minister Müller da im Oktober 2014 voran gegangen – gegen weitverbreitete Skepsis. Inzwischen haben sich fast 200 zumeist deutsche Unternehmen und Organisationen seiner Initiative angeschlossen. Müller: „Wir müssen das gerecht gestalten, sonst zahlen auch wir drauf.“ Und noch einmal: „Wir müssen neu teilen lernen.“

Europäischer Investment-Fonds für Afrika

Neven Mimica, kroatischer EU-Kommissar für Internationale Zusammenarbeit und Entwicklung spricht viel von „nachhaltiger Entwicklung“ im Sinne der Agenda 2030 der UN. Der Begriff fällt fast ein Dutzend Mal. „Entwicklung ist das, was wir tun, nicht das, was wir zu tun versprechen.“ 20 Milliarden Euro geben EU-Länder jedes für Entwicklungshilfe in Afrika aus. Nicht genug, meint der EU-Kommissar, wenn man die Migrationsursachen ernsthaft angehen wolle. Die Kommission hat darum angekündigt, für Afrika einen Europäischen Investmentfonds aufzulegen. Privatinvestoren sollen billige Kredite und Garantien für Kredite erhalten. Brüssel erwartet, dass der Fonds ein Investitionsvolumen von 45 Milliarden Euro generiert – 88 Milliarden, wenn die europäischen Länder zum Fonds beitragen. Die Europäer, rät Mimica, sollen sich bei Hilfe für Afrika auf Ausbildung und Arbeitsplatzbeschaffung konzentrieren, koordinierter auftreten und gegenüber den afrikanischen Ländern einen partnerschaftlichen Ansatz pflegen.

Brüssel erwartet sich ein Investitionsvolumen von 45 Milliarden Euro – 88 Milliarden, wenn die europäischen Länder zum Fonds beitragen.

Wäre es möglich, in der EU-Kommission alle Entwicklungshilfe-Verantwortung zu bündeln und einem einzigen Kommissar zu übertragen? Eher nicht. Denn für die Auffächerung der Ressortzuständigkeiten und der Verantwortung ist niemand anderes als Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker verantwortlich. Der wollte zu Beginn seiner Präsidentschaft ganz bewusst die „vertikale Mentalität“ in der Kommission überwinden, um alle Kommissare einzubinden. Aber Brüssel werde seine Entwicklungshilfe-Tätigkeit besser koordinieren, verspricht Mimica.

Entwicklungshilfe nicht von Migranten-Rücknahme abhängig machen

Sein Kabinettschef Nils Behrndt sieht in der Fokussierung auf die Migrationsproblematik und in der europäischen Debatte darüber eine Gefahr: Immer häufiger wird die Forderung erhoben, Herkunftsländern, die abgewiesene Migranten nicht zurücknehmen, den Entwicklungshilfe-Geldhahn zuzudrehen. Das könne nicht funktionieren, erläutert der EU-Funktionär. Denn über die Geldüberweisungen der Migranten in die Heimat erhalten die Länder sehr viel mehr Geld als durch Entwicklungshilfe. Behrndt: „Jeder zurückgenommene Migrant ist für die Herkunftsländer ein schlechtes Geschäft.“ Brüssel wird darum seine Entwicklungshilfe nicht an solche Bedingungen knüpfen. Behrndt: „Wir wollen keine konditionierte Entwicklungspolitik. Mit der EU und deren Hoher Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik, Federica Mogherini, wird es keine konditionierte Entwicklungspolitik geben.“

Jeder zurückgenommene Migrant ist für die Herkunftsländer ein schlechtes Geschäft.

Nils Behrndt, Kabinettschef von EU-Kommissar Neven Mimica

Christoph Beier, stellvertretender Vorstandssprecher der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), hält die Vorstellung von der partnerschaftlichen Entwicklungszusammenarbeit für sympathisch, weist aber auf ein Problem hin: Auf dem afrikanischen Kontinent breitet sich das Phänomen der „fragilen Staaten“ aus, die kein Gewaltmonopol mehr haben und nicht in der Lage sind, ihren Bevölkerungen grundlegende staatliche Dienstleistungen anzubieten: „Wie gestalten wir staatliche Zusammenarbeit, wo es den Staat gar nicht mehr gibt?“

Afrikanisches Geschäftsmodell: Drohung mit Migranten

Schärferes Nachdenken, wenn von „nachhaltiger Entwicklung“ die Rede sei, wünscht sich in der Podiumsrunde der Hanns-Seidel-Stiftung Sid Peruvemba, Vorstandsmitglied des  Dachverbands Venro von 120 entwicklungspolitischen und humanitären Nichtregierungsorganisationen in Deutschland. Denn die 169 Forderungen der UN-Agenda 2030 verbergen gewaltige Zielkonflikte: „China hat 200 Millionen Menschen aus der Armut befreit – aber nicht mit Umweltpolitik im Sinne nachhaltiger Entwicklung.“ Arbeitsplätze für hunderte Millionen schaffen wollen und zugleich die Dekarbonisierung der Energiewirtschaft zu betreiben – „das wird irgendwann kollidieren“.

China hat 200 Millionen Menschen aus der Armut befreit – aber nicht mit Umweltpolitik im Sinne nachhaltiger Entwicklung.

Sid Peruvemba, Vorstandsmitglied VENRO

Auch die Fokussierung der Entwicklungspolitik auf die sogenannte Bekämpfung von Migrationsursachen könne zu paradoxen Wirkungen führen, warnt NGO-Koordinator Peruvemba: Dadurch kommen jene Länder zu kurz, die bisher noch nicht mit Migration und Migranten Drohpolitik gegenüber Europa entfalten. Und kommen dann womöglich auf falsche Gedanken. Denn das hätten inzwischen viele Länder verstanden: „Migranten-Drohpolitik kann man kapitalisieren, zu Geld machen.“ Peruvemba rät darum, nicht mehr von der Bekämpfung der Fluchtursachen zu reden, sondern von „fluchtbezogener Entwicklungspolitik“.

Verbot und Angebot

Das Jahr 2015 dürfe sich nicht wiederholen, betont auch Hans-Peter Uhl, Münchner Bundestagsabgeordneter und Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags. Einen positiven Effekt hätte das Völkerwanderungsjahr immerhin gehabt: „Alle haben jetzt verstanden: Diese Herkunftsländer sind auch unser Problem. Und wenn wir Europäer das nicht gemeinsam angehen, dann werden wir scheitern.“ Fluchtursachen bekämpfen – das klänge schon gut. Nur: „Das wird so schnell nicht funktionieren.“ Zumal zu den Ursachen eben auch das Element des Bösen gehört. Uhl: „Das Böse auf dieser Welt beseitigen, da wünsche ich viel Erfolg.“

Wir wollen Europa nicht zur Festung ausbauen, aber wir können die segensreiche Wirkung von Grenzen erkennen.

Hans-Peter Uhl, Bundestagsabgeordneter

Neben der Bekämpfung der Fluchtursachen werden sich die Europäer auf andere, ganz traditionelle Mittel besinnen müssen, um diese Völkerwanderung mit ihrer ganz neuen Dynamik abzuwehren. Niemand wolle Europa zur Festung ausbauen, „aber wir können die segensreiche Wirkung von Grenzen erkennen“. Uhl: „Grenzen schaffen Frieden.“ Europa brauche ein „intelligentes Grenzmanagement“. Dazu gehöre die richtige Mischung aus Verbot und Angeboten an die Herkunftsländer. Uhl: „Diese beiden Dinge zusammenzuführen, das ist jetzt unsere Aufgabe.“

Migranten und Schlepper müssen das Signal erhalten: Ihr habt keine Chance.

Hans-Peter Uhl

Etwa bei den EU-Rettungsaktionen auf dem Mittelmeer vor der libyschen Küste. Natürlich müsse man die schiffbrüchigen Migranten retten, betont Uhl. „Aber wir müssen uns darüber klar sein, dass wir damit letztlich das perfide Geschäft der verbrecherischen Schlepper zu Ende bringen.“ Schon hier, auf dem Meer, müssten die Europäer darum ihre Verbote durchsetzen, „bevor die Migranten in See stechen“. Migranten und Schlepper müssten das Signal erhalten: „Ihr habt keine Chance.“ Wenn das gewährleistet sei, so Uhl, könnten die Europäer nach dem Verbot gegenüber Migranten und Herkunftsländern auch zu den Angeboten kommen.