Für 60 Prozent der AfD-Wähler war die Bundespolitik entscheidend, für die meisten darunter wiederum die Flüchtlingspolitik. (Graphik: Infratest-dimap/ARD)
Wahlanalyse

Das Thema Flüchtlinge dominierte

Alle Parteien einschließlich des „Nichtwählerlagers“ verlieren in Mecklenburg-Vorpommern an die AfD, und das vor allem aus einem Grund: Die Flüchtlingspolitik auf Bundesebene. Ministerpräsident Sellering (SPD) kann nun zwischen CDU und Linkspartei wählen, tendiert indes zur Fortsetzung von Rot-Schwarz.

Ein Blick auf die Wählerwanderungen zeigt: Alle Parteien haben massiv Wähler an die AfD verloren – einschließlich des Nichtwählerlagers. Der Zuspruch zur AfD kam aus allen gesellschaftlichen Schichten. Wer allerdings die meisten Wähler an die AfD abgeben musste, darüber gibt es Diskussionsbedarf. Insbesondere die SPD ist bemüht, die AfD hauptsächlich als Problem der CDU darzustellen – aber das greift zu kurz.

SPD-Politiker beriefen sich schon früh am Wahlabend auf eine Analyse von Infratest-dimap, also das Institut, das die Wahlforschung im Auftrag der ARD betreibt. Demnach kamen von den 153.000 AfD-Stimmen 22.000 aus dem CDU-Lager, 20.000 von der NPD, 16.000 von der Linkspartei, „nur“ 15.000 von der SPD und 3000 von den Grünen. Der größte Anteil der AfD-Stimmen, 55.000, stammt von bisherigen Nichtwählern. Bei 22.000 Stimmen wird als Herkunft „Sonstige“ angegeben – es ist unklar, was sich dahinter verbirgt.

Alle Parteien verlieren Anteile an die AfD

Demgegenüber meldete die FAZ unter Berufung auf „Berechnungen“ ohne nähere Quellenangabe, der größte Anteil von AfD-Wählern, nämlich 17 Prozent, habe noch 2011 die SPD gewählt. Der zweitgrößte Anteil der AfD-Wähler (16 Prozent) habe 2011 die NPD gewählt, 15 Prozent die CDU, 12 Prozent die Linkspartei. Das würde sich noch eher mit der Größenordnung der Gesamtverluste decken, denn die SPD verlor von allen Parteien am zweitmeisten Prozentpunkte: Die Linkspartei verlor insgesamt 5,3 Prozentpunkte, die SPD 5,0, die CDU 4,0, die Grünen 3,9 und die NPD 3,0 Prozent.

Die AfD-Wähler beziehen ihre Motivation vor allem aus dem Protest gegen die Flüchtlingspolitik auf Bundesebene. 78 Prozent der Wähler insgesamt gaben an, dass Merkels Flüchtlingspolitik der CDU geschadet habe, auch bei den CDU-Wählern waren es immer noch 69 Prozent. Weiterer Kritikpunkt: Die CDU im Bund habe zu viele Positionen aufgegeben, für die sie früher gekämpft habe – 62 Prozent aller Wähler und sogar 52 Prozent der CDU-Wähler unterstützen diese Kritik.

AfD sahnte Protestwähler aus allen Lagern ab

Eine Erhebung von Infratest-dimap zeigt, dass die Wähler der AfD sich beinah vollständig mit deren Kernaussagen identifizieren. Dem Satz „Ich finde es gut, dass sie den Zuzug von Ausländern und Flüchtlingen begrenzen will“ stimmten 100 Prozent (!) der befragten AfD-Wähler zu, ebenso dem Satz „Die AfD spricht aus, was andere Parteien nicht offen sagen.“ Dem Satz „Ich finde es gut, dass die AfD die Ausbreitung des Islam in Deutschland verhindern will“ stimmten 95 Prozent der AfD-Wähler zu, dem Satz „Die AfD versteht besser als andere Parteien, dass sich viele Bürger nicht mehr sicher fühlen“ schlossen sich 94 Prozent der AfD-Wähler an.

Wahlentscheidend für die AfD-Wähler war zu 60 Prozent die Bundespolitik und zu 54 Prozent das Thema Flüchtlingspolitik – jeweils der mit Abstand höchste Wert aller Parteien. Gefragt nach ihren Sorgen stimmten 100 Prozent (!) der AfD-Wähler dem Satz zu „Die Zahl der Flüchtlinge sollte auf Dauer begrenzt werden“, 86 Prozent stellten sich hinter die Aussage „Es macht mir Sorge, dass so viele Flüchtlinge zu uns gekommen sind“, und 83 äußerten die Befürchtung „Für Flüchtlinge wird mehr getan als für die einheimische Bevölkerung“.

Den Charakter der AfD als Protestpartei unterstreicht auch folgendes Ergebnis: Befragt nach ihrer Wahlentscheidung gaben 66 Prozent der AfD-Wähler an, ihre Stimme aus Enttäuschung über die anderen Parteien den Rechtspopulisten gegeben zu haben. Nur 25 Prozent sagen, dass sie von der AfD überzeugt sind. Die Menschen erwarten von der AfD also nicht ernsthaft eine Lösung der Probleme, sondern vor allem ein Signal an die anderen Parteien, den Kurs zu ändern. Daher lassen sich die AfD-Wähler auch nicht von den massiven innerparteilichen Führungsstreitigkeiten abschrecken.

AfD-Wähler: Schwerpunkt bei Arbeitern und Arbeitslosen

Ein Blick auf die soziale Herkunft der AfD-Wählerschaft zeigt, dass diese zwar aus allen Schichten stammt. Die Verteilung ist ziemlich ausgeglichen – keine soziale Gruppe dominiert hier eindeutig. Ein gewisser Schwerpunkt liegt allerdings bei Männern mittleren Alters aus der unteren Mittelschicht und mit mittlerem Bildungsabschluss. Die AfD wurde – sogar vor der SPD – stärkste Partei bei den Arbeitern (33 Prozent), Arbeitslosen (29 Prozent) und Selbständigen (27 Prozent).

Gefragt nach dem Bildungsabschluss schnitt die AfD am besten bei den Inhabern der Mittleren Reife ab (27 Prozent). Männer wählten die AfD stärker (25 Prozent) als Frauen (16). 50 Prozent der AfD-Wähler stammen aus der beruflich aktiven Altersgruppe zwischen 35 und 59 Jahren. Die SPD-Wähler hingegen waren im Schnitt deutlich älter: Die führende Regierungspartei schnitt bei den über 60-Jährigen am besten ab, und hier wiederum bei den Frauen.

Protest gegen die Flüchtlingspolitik aller Parteien

Diese Wahl indes nur einen „Protest gegen die CDU mit Bundeskanzlerin Merkel“ zu nennen, der allein die Flüchtlingskrise angelastet würde, wäre zu kurz gegriffen. Denn die Wähler haben sehr wohl verstanden, dass alle Bundestagsparteien (mit Ausnahme der CSU) den Kurs teilen und dass ein Großteil von möglichen wirksamen Gegenmaßnahmen – wie Ausweitung der sicheren Herkunftsländer und schnellere Abschiebungen – am Widerstand der SPD in der Koalition und der Grünen im Bundesrat scheiterten oder stark verzögert wurden. Daher ist es folgerichtig, dass auch diese Parteien stark verloren haben.

Die SPD präsentiert sich zwar als großer Wahlgewinner, aber mit Verlusten von 5,0 Prozent darf man da ein Fragezeichen setzen. Immerhin hat es Amtsinhaber Sellering geschafft, die befürchteten Verluste zu begrenzen und die SPD über der psychologisch wichtigen Marke von 30 Prozent zu halten. Es zeigt sich – wie auch bei den drei Landtagswahlen im März – der Trend, dass die Partei des Ministerpräsidenten im Endspurt in den allerletzten Tagen vor dem Wahltag noch stark zulegt, während der Juniorpartner in der Koalition an Zustimmung verliert. Das könnte für die CDU/CSU einen gewissen Hoffnungsschimmer für die Bundestagswahl 2017 bedeuten.

61 Prozent mit Arbeit der Landesregierung zufrieden

Das zeigt sich auch in der objektiv eigentlich nicht erklärbaren Unzufriedenheit der CDU-Anhänger mit der Arbeit der rot-schwarzen Koalition im Land: 60 Prozent der CDU-Wähler äußerten sich unzufrieden mit der Bilanz, nur 36 Prozent zufrieden. Genau umgekehrt das Bild bei den SPD-Wählern: Sie waren zu 57 Prozent zufrieden mit der Arbeit der Landesregierung, nur 39 Prozent waren unzufrieden.

In der Gesamtbevölkerung zeigten sich 61 Prozent mit der Arbeit der Landesregierung zufrieden, es gab also keine wirkliche Wechselstimmung. Auch äußerten sich 56 Prozent zufrieden mit der wirtschaftlichen Lage, nur 43 Prozent unzufrieden – ungewöhnlich zumal in Ostdeutschland.

Speziell bei den kurzentschlossenen Wählern verbuchte die SPD 35 Prozent, die CDU 17 und die AfD 14 Prozent. Das heißt, dass die SPD es im Wahlkampf schaffte, die objektiven Erfolge im Land – Wirtschaftsaufschwung, viele neue Arbeitsplätze, schuldenfreier Haushalt – allein auf ihr Konto zu verbuchen.

Persönlichkeitswertung: Klares Plus für Sellering

Wahlentscheidend war zuletzt wohl auch die persönliche Beliebtheit der Spitzenkandidaten. Während Ministerpräsident Erwin Sellering laut einer weiteren Infratest-dimap-Erhebung in einer theoretischen Direktwahl 65 Prozent der Stimmen verbuchen könnte, käme CDU-Herausforderer Innenminister Lorenz Caffier nur auf 20 Prozent. In allen Einzelwerten liegt Sellering ebenfalls deutlich vorn: 68 Prozent halten ihn für sympathischer, 55 Prozent für glaubwürdiger und 50 Prozent für wirtschaftskompetenter.

Positiv für die CDU ist der Umstand, dass auch sie in absoluten Zahlen an Wahlstimmen gewonnen hat. Die Wahlbeteiligung stieg nämlich von historisch schlechten 51,5 Prozent im Jahr 2011 auf 61,6 Prozent. Der größte Teil des CDU-Zuwachses stammt mit 21.000 von ehemaligen Nichtwählern – die Flüchtlingskontroverse hat also auch hier elektrisierend gewirkt, nach dem Motto „Konkurrenz belebt das Geschäft“. Im direkten Vergleich mit der SPD ergibt sogar eine kleine positive Wählerwanderung hin zur CDU (1000 Stimmen), ebenso 1000 Stimmen von den Grünen.

Auch die SPD holte ihren absoluten Stimmenzuwachs größtenteils aus dem Reservoir der Nichtwähler: 19.000 SPD-Wähler waren 2011 nicht zur Wahl gegangen. Der zweitgrößte Anteil stammt mit 10.000 Stimmen von ehemaligen Grünen-Wählern, 3000 SPD-Stimmen kommen aus dem Anteil der Linkspartei, 2000 von der NPD.

Regierungsbildung relativ einfach

Der Umstand, dass die Grünen mit 4,8 und die NPD mit 3,0 Prozent wieder aus dem Landtag verschwunden sind, macht diesen zum Vier-Parteien-Parlament. Das erleichtert die Regierungsbildung: Es sind zwei verschiedene Zweierbündnisse möglich, heikle Dreierbündnisse sind nicht nötig. Es kommt auch nicht zu einer Blockadesituation, die Beobachter im Fall eines Sechsparteienparlaments befürchtet hatten (der Bayernkurier berichtete).

Gegen die SPD kann nicht regiert werden, Amtsinhaber Sellering kann sich den Koalitionspartner aussuchen: Bei einer Fortsetzung der rot-schwarzen Koalition käme er auf eine satte Mehrheit von 42 Sitzen – nötig sind 36. Auch mit der Linkspartei würde es mit 37 Sitzen zu einer Mehrheit reichen.

Sellering hat keinen Grund, die Pferde zu wechseln

Auf landespolitischer und persönlicher Ebene gibt es keinen Grund für Sellering, den Regierungspartner zu wechseln. Während er mit seinem Koalitionspartner, Innenminister Caffier (CDU), vertrauensvoll und freundschaftlich verkehrt, beschreiben Landtagskenner sein Verhältnis zur Führung der Linkspartei (wie auch zu den Grünen) im Land als „schwierig“ bis „zerrüttet“. Außerdem haben SPD und CDU das Land in den vergangenen Jahren gemeinsam auf den Konsolidierungs- und Wachstumskurs gesetzt – wirtschaftlich, finanzpolitisch und innenpolitisch.

Ministerpräsident Sellering selbst kündigte an, erst einmal mit beiden denkbaren Koalitionspartnern, CDU und Linkspartei, zu sprechen und zu sondieren, in welcher Koalition der „bisherige Erfolgskurs fortgesetzt werden kann“. Schon das Verb „fortsetzen“ lässt aber seine Grundtendenz zur CDU erahnen. Es ist aber möglich, dass ein Jahr vor der Bundestagswahl die Strategen der Bundes-SPD bei ihm anklopfen und auf eine rot-rote Regierung drängen werden.