SPD will Bundeswehr nicht üben lassen
Das Grundgesetz erlaubt bei Naturkatastrophen und schweren Unglücksfällen den Einsatz der Bundeswehr. Das neue Verteidigungsweißbuch, dem im Kabinett auch die SPD-Bundesminister zugestimmt haben, zählt zu schweren Unglücksfällen auch „terroristische Großlagen”. Jetzt soll die Bundeswehr den gemeinsamen Einsatz mit der Polizei üben. Aber die SPD will das verhindern.
Bundeswehr im Innern

SPD will Bundeswehr nicht üben lassen

Das Grundgesetz erlaubt bei Naturkatastrophen und schweren Unglücksfällen den Einsatz der Bundeswehr. Das neue Verteidigungsweißbuch, dem im Kabinett auch die SPD-Bundesminister zugestimmt haben, zählt zu schweren Unglücksfällen auch „terroristische Großlagen”. Jetzt soll die Bundeswehr den gemeinsamen Einsatz mit der Polizei üben. Aber die SPD will das verhindern.

Einsätze der Bundeswehr im Innern sind längst Normalität, selbstverständlich, kaum jemand nimmt es noch wahr. Seit einem Jahr etwa ist die Bundeswehr mit bis zu 9000 Soldaten – was fast einer kleinen Division entspricht – bei der Bewältigung der Migrantenkrise im Einsatz. Die Bundeswehr unterstützt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BaMF) bei Transport und Unterbringung von Flüchtlingen. In ihren Kasernen stellt sie etwa 50.000 Betten zur Verfügung. Hunderte von Soldaten helfen bei der Registrierung von Flüchtlingen. 2,2 Millionen Mannstunden haben die Soldaten bei alledem geleistet. Gesteuert wird das alles vom Bundeswehr-Kommando Territoriale Aufgaben im Norden Berlins.

Wiederum ein eigenes Lagezentrum der Bundeswehr in Berlin steuert Hilfseinsätze bei Naturkatastrophen oder großen Unglücksfällen. Fast regelmäßig kommt die Bundeswehr bei Hochwasserkatastrophen zum Einsatz, wenn Tausende Soldaten Sandsäcke schleppen.

Das Grundgesetz klärt: Amtshilfe und Katastrophenschutz

Das alles ist in zwei Artikeln des Grundgesetzes geregelt: Artikel 35, Absatz 1, sieht die gegenseitige Amtshilfe aller Behörden vor. Genau das leistet die Bundeswehr, die eben auch eine Bundesbehörde ist, derzeit bei der Unterstützung des BaMF.

Nach Artikel 35, Absatz 2 kann ein Land „zur Hilfe bei einer Naturkatastrophe oder bei einem besonders schweren Unglücksfall“ Kräfte und Einrichtungen „anderer Verwaltungen sowie der Streitkräfte“ anfordern. Laut Absatz 3 des gleichen Artikels kann die Bundesregierung den Einsatz der Streitkräfte anordnen, wenn die Naturkatastrophe oder der Unglücksfall das Gebiet mehr als eines Landes gefährdet.

Gemäß Artikel 87a, Absatz 3, können die Streitkräfte „im Verteidigungsfall und im Spannungsfall“ auch zum Schutz ziviler Objekte und zur Unterstützung polizeilicher Maßnahmen eingesetzt werden – „die Streitkräfte wirken dabei mit den zuständigen Behörden zusammen“.

Nach Artikel 78, Absatz 4, kann die Bundesregierung „zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes“ ebenfalls Streitkräfte einsetzen – zur Unterstützung der Polizei, zum Schutz von zivilen Objekten und „bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer“.

SPD-Minister stimmen dem neuen Weißbuch zu

Großterror islamischer Terroristen in Europa haben die Väter des Grundgesetzes sich 1948 und 1949 noch nicht vorstellen können. Aber heute muss die Politik auf die neue Herausforderung eine Antwort geben. Das neue „Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“ reiht darum Terroranschläge unter Unglücksfällen und Katastrophen ein: „Das Vorliegen eines besonders schweren Unglücksfalles kommt auch bei terroristischen Großlagen in Betracht.“ Damit könnte bei der Reaktion auf Terroranschläge die Bundeswehr ins Spiel kommen. Das neue Verteidigungsweißbuch und das Verteidigungsministerium wissen bei dieser Formulierung das Bundesverfassungsgericht auf ihrer Seite. Denn 2012 klärten die Verfassungsrichter, dass auch ein Terroranschlag ein „besonders schwerer Unglücksfall“ nach Artikel 35 sein könne.

Das Vorliegen eines besonders schweren Unglücksfall kommt auch bei terroristischen Großlagen in Betracht.

Weißbuch zur Sicherheit und zur Zukunft der Bundeswehr

Mitte Juli hat das gesamte Bundeskabinett der Großen Koalition in Berlin, also auch die SPD-Minister, dieses neue Weißbuch verabschiedet – und eben auch jene Seite 110 über „Einsatz und Leistungen der Bundeswehr im Innern.“  Interessant: Bei jenem Münchner Amoklauf vor zwei Wochen hat das Verteidigungsministerium entsprechend der neuen Richtlinie im Münchner Raum 100 Feldjäger und Sanitäter in Bereitschaft versetzt. Denn tatsächlich war die Polizei zunächst von einer „akuten Terrorlage“ ausgegangen.

Einsätze brauchen Übung

Soweit, so banal. Amtshilfe unter Behörden und über Ländergrenzen hinweg, erst recht wenn es um Unglücksfälle oder Katastrophen geht, müssen geübt werden. Auch das ist längst eingefahrene Praxis. Seit 2004 werden etwa alle zwei Jahre Lükex genannte Länderübergreifende Krisenmanagementübungen durchgeführt – große Katastrophenschutzübungen. Dabei geht es darum, mit Polizei, Rettungsdiensten, Feuerwehr, Technischem Hilfswerk und eben der Bundeswehr länderübergeifend die Reaktion auf außergewöhnliche Krisen- und Katastrophenszenarien zu üben – von der Virusepidemie über Cyber-Terror bis zum Terror mit atomaren, biologischen oder chemischen ABC-Waffen. 2015 wurde eine Lükex-Übung, bei der es um eine Nordsee-Sturmflut gehen sollte, wegen der Migrantenkrise abgesagt. Die Bundeswehr in solche Übungen mit einzubeziehen, ist vernünftig: Denn die Bundeswehr verfügt nicht nur etwa über ABC-Abwehrmittel in großer Zahl, sondern auch über fünf Bundeswehrkrankenhäuser in Ulm, Koblenz, Berlin, Hamburg und im niedersächsischen Westerstede.

Wenn es eintreten sollte, dann müssen wir gut vorbereitet sein. Deshalb ist es jetzt auch für uns wichtig, dass wir solche Szenarien üben.

Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen

Mit Blick auf die neue Lage und den über das neue Verteidigungsweißbuch erzielten Konsens will Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen nun die Zusammenarbeit von Polizei und Bundeswehr regelmäßig üben lassen. Ende August will sie mit Innenministern von Bund und Ländern über Einsatz-Szenarien für eine Stabsrahmenübung sprechen, die im Herbst die Koordinierung von Polizeibehörden mehrerer Länder und dem Bund durchspielt. Im Ernstfall müssen Alarmketten stehen und Zuständigkeiten klar sein. Von der Leyen: „Wenn es eintreten sollte, dann müssen wir gut vorbereitet sein. Deshalb ist es jetzt auch für uns wichtig, dass wir solche Szenarien üben.“ Drei Bundesländer – Saarland, Sachsen und Baden-Württemberg – haben schon Interesse daran angemeldet und sich als Ausrichter beworben.

Zustimmung von CSU und CDU

Aus unionsgeführten Bundesländern erhält Ministerin von der Leyen für ihre Pläne ungeteilte Zustimmung. Die Bundeswehr müsse „in Fällen akuter, extremer Bedrohung auch im Inneren zum Schutz der Bürger eingesetzt werden können“, fordert etwa Bayerns Innenminister Joachim Herrmann und fügt hinzu: „wohlgemerkt immer unter Federführung der Länder, die für die innere Sicherheit zuständig sind“. Herrmann weiter: „Es wäre völlig unbegreiflich, wenn wir eine Terrorlage wie in Brüssel in Frankfurt, Stuttgart oder München hätten, und wir dürften die gut ausgebildeten Kräfte der Bundeswehr nicht einsetzen, obwohl sie bereit stehen.“ Es gehe auch nicht darum, der Polizei die Alltagsarbeit abzunehmen, sondern die Bundeswehr in Krisenlagen beispielsweise zum (erlernten) Objektschutz einzusetzen. Die dadurch freigesetzte Polizei könne dann wichtigeren Aufgaben nachkommen.

Es wäre völlig unbegreiflich, wenn wir eine Terrorlage wie in Brüssel in Frankfurt, Stuttgart oder München hätten, und wir dürften die gut ausgebildeten Kräfte der Bundeswehr nicht einsetzen, obwohl sie bereit stehen.

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann

Genauso sieht es der saarländische Innenminister und derzeitige Chef der Innenministerkonferenz Klaus Bouillon (CDU): „Wir brauchen die Bundeswehr in Situationen, in denen feststeht, dass die Polizei irgendwann an ihre Grenzen stößt.“ Es wäre „paradox und absurd“, wenn die Bundeswehr dann hilflos zusehen müsste.

SPD will Bundeswehr nicht üben lassen

Doch plötzlich knackt der Koalitionskonsens. SPD-Granden wollen von Bundeswehrübungen für den Einsatz im Inneren nichts wissen. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier löst sich sogar vom kaum drei Wochen alten Weißbuch-Konsens: „Der Einsatz der Bundeswehr im Inneren ist nach Grundgesetz begrenzt auf Amtshilfe und Großkatastrophen.“ Auffällig: Der Hinweis auf Terror oder „terroristische Großlagen“ fehlt bei ihm. Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz insinuiert gar eine Verletzung des Grundgesetzes: „Wir haben aus gutem Grund sehr hohe verfassungsrechtliche Hürden für einen solchen Einsatz der Streitkräfte.“ Wer die Hürden absenken wolle, müsse das Grundgesetz ändern – „dafür gibt es keine Mehrheit.“

Wenn es Lagen gibt, die einen Einsatz der Bundeswehr im Inneren rechtfertigen, dann muss man darauf auch vorbereitet sein.

Hans-Peter Bartels (SPD), Wehrbeauftragter des Bundestages

SPD-Generalsekretärin Katarina Barley redet von der „Militarisierung unserer öffentlichen Sicherheit“, die es mit ihrer Partei nicht geben werde. Zur Erinnerung: Es geht um eine Anti-Terror-Übung und die Koordinierung von Länderpolizeien und Bundeswehr. „Anstatt über einen Einsatz der Bundeswehr im Inneren zu sprechen, sollten wir weiter daran arbeiten, unsere Polizei zu stärken“, sagt Barley und rät Verteidigungsministerin von der Leyen, auf die Polizisten zu hören. Tatsächlich hatte der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei angebliche Diskussionen über einen erweiterten Einsatz der Bundeswehr im Inneren kritisiert. Aber vielleicht sollte nun Barley auf ihren Parteifreund Hans-Peter Bartels hören. Der ist Wehrbeauftragter des Bundestages, also vom Fach. Bartels findet die geplante Stabsrahmenübung richtig und zwingend notwendig: „Wenn es Lagen gibt, die einen Einsatz der Bundeswehr im Inneren rechtfertigen, dann muss man darauf auch vorbereitet sein.“

Das Grundgesetz und der Einsatz der Bundeswehr im Inneren

Das Grundgesetz erlaubt den Bundeswehreinsätze im Inland durchaus.  Es geht dabei um Ausnahmefälle, die in den Artikeln 35 und 87a geregelt sind.

AMTSHILFE, Artikel 35, Absatz 1:

„Alle Behörden des Bundes und der Länder leisten sich gegenseitig Rechts- und Amtshilfe.”

Das ist Grundlage etwa für die jetzige Flüchtlingshilfe. Die Bundeswehr ist seit mehr als einem Jahr an der Unterbringung, Versorgung und Registrierung von Flüchtlingen beteiligt. Zu Spitzenzeiten waren 9000 Soldaten im Einsatz, heute sind es noch etwa 900. Wenn eine Behörde in einer Situation überfordert ist, können andere Behörden einspringen – und die Bundesweher ist eben eine Bundesbehörde.

KATASTROPHENHILFE, Artikel 35, Absatz 2:

„(…) Zur Hilfe bei einer Naturkatastrophe oder bei einem besonders schweren Unglücksfall kann ein Land Polizeikräfte anderer Länder, Kräfte und Einrichtungen anderer Verwaltungen sowie des Bundesgrenzschutzes und der Streitkräfte anfordern.”

Bei der Flutkatastrophe in Hamburg 1962 und bei den Hochwasserkatastrophen an Oder und Elbe bauten tausende Soldaten Dämme und halfen bei Evakuierungen. Solche Einsätze können sowohl unter Amts- als auch unter Katastrophenhilfe laufen. Ein „besonders schwerer Unglücksfall” kann nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch ein Terroranschlag sein.

NOTSTAND, Artikel 87a, Absatz 4:

„Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes kann die Bundesregierung, wenn die Voraussetzungen des Artikels 91 Abs. 2 vorliegen und die Polizeikräfte sowie der Bundesgrenzschutz nicht ausreichen, Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer einsetzen. Der Einsatz von Streitkräften ist einzustellen, wenn der Bundestag oder der Bundesrat es verlangen.”

Einen solchen Einsatz der Bundeswehr hat es noch nicht gegeben. (dpa/H.M.)