Um ein aktuelles Problem zu lösen, lohnt sich häufig der Blick in die Vergangenheit. Wie sind bestimmte Entwicklungen in früheren Jahren verlaufen? Wie ging man damals mit ihnen um? Welche Lehren lassen sich daraus ziehen?
Vier wichtige Gründe
Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln hat sich mit dieser Methode der derzeitigen Flüchtlingskrise angenähert. Als historischer Bezugspunkt dient dem Institut die Migration in die USA im 19. Jahrhundert. 32 Millionen Menschen verließen in diesem Zeitraum Europa in Richtung USA. Allein aus Deutschland waren es teilweise 120.000 Menschen jedes Jahr. Beim Blick auf die Ursachen der massenhaften Auswanderung lassen sich interessante Parallelen zur Gegenwart erkennen. Vier wesentliche Gründe haben die Kölner Wissenschaftler herausgearbeitet:
- die Altersstruktur der Bevölkerung
- die absolute Höhe der durchschnittlichen Einkommen
- der Unterschied zwischen den zu erwartenden Einkommen im Herkunfts- und Gastland
- die Anzahl der sich bereits im Gastland befindlichen Migranten mit der gleichen Herkunft
Wie heute in vielen Ländern Afrikas und des Nahen Osten wuchs damals in Europa die Bevölkerung schnell. Sinkende Sterberaten und gleichzeitig hohe Geburtenraten führten zu einem rasanten Anstieg der jüngeren Bevölkerungsgruppen. Zudem konnten sich zunehmend mehr Menschen die Kosten der Reise in die USA leisten. Und, ähnlich wie heute, verstärkten die Informationen und Berichte der sich bereits im Land befindenden Landsleute den Zustrom. „Auch wenn dieser Effekt durch die elektronischen Medien heute schneller und einfacher erfolgt“, schreiben die IW-Forscher, „war der Informationsfluss im 19. Jahrhundert durch Briefe, Telegramme oder Zeitungsanzeigen in Lokalzeitungen auch schon sehr ausgeprägt“.
Finanzielle Anreize überwiegen
Wichtigster Anreiz war jedoch auch damals die Hoffnung auf finanzielle und materielle Verbesserung. Der Lohnunterschied zwischen Herkunfts- und Zielland hat demnach entscheidenden Einfluss auf die Wanderungsbewegung. Die IW-Studie zitiert Untersuchungen, wonach eine „zehnprozentige Steigerung des Lohnunterschieds die jährliche Auswanderungsrate um 0,7 Promille“ anhebe. Da die durchschnittlichen jährlichen Migrationsraten im 19. Jahrhundert bei meist zwischen ein und zwei Promille gelegen hätten, sei dieser Effekt groß gewesen, heißt es dazu. Ähnliche Ergebnisse hätten auch Daten für die 1970er bis 1990er Jahre ergeben.
Wer überleben wollte, musste arbeiten
Einen entscheidenden Unterschied zwischen der aktuellen Zuwanderung nach Deutschland und der Migrationsbewegung des 19. Jahrhunderts arbeiten die IW-Experten heraus: Im Amerika das 19. Jahrhunderts hätten keine staatlichen Sozialleistungen existiert. Migranten seien damals gezwungen gewesen, „sich möglichst schnell eine Existenz aufzubauen, die ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familie sicherte“. Auch das Nachholen weiterer Familienmitglieder sei erst möglich gewesen, nachdem die Zuwanderer die nötigen finanziellen Mittel erwirtschaftet hätten.
Das heutige Deutschland hingegen verfüge über einen ausgeprägten Sozialstaat. Das soziale Sicherungsniveau sei deutlich höher als das Durchschnittseinkommen in vielen weniger entwickelten Ländern. Für Flüchtlinge bestehe daher „keine existenzielle Notwendigkeit, sich schnell erfolgreich ins Erwerbsleben zu integrieren“. Dies habe zwar den Vorteil, analysiert das IW, dass die Zuwanderer zunächst eine Ausbildung durchlaufen und sich zu Fachkräften qualifizieren könnten, gleichzeitig seien aber die Anreize „für eine schnelle und erfolgreiche Integration ins Arbeitsleben Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen“ deutlich geringer.
Restriktiver Umgang mit Sozialleistungen
Ausgehend von den Erfahrungen der historischen Wanderungsbewegung empfiehlt das IW eine zweigleisige Vorgehensweise. „Auf der einen Seite sollten mit einem (unmittelbaren) Bezug von Sozialleistungen verbundene Formen der Zuwanderung möglichst restriktiv gehandhabt werden. So sollte insbesondere darauf hingewirkt werden, dass Personen, die die Voraussetzungen für Asyl oder Schutz nach Genfer Konvention in Deutschland nicht erfüllen, auch keine Asylbewerberleistungen gewährt werden.“ Gleichzeitig sollte Deutschland auf der anderen Seite Personen, die hierzulande erwerbstätig werden und sich eine Existenz aufbauen wollten, den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern.
Positives Beispiel Westbalkan-Länder
Das IW nennt als positives Beispiel den Umgang mit Menschen aus den Westbalkanländern. Ihre Heimatländer gelten als sichere Herkunftsstaaten, das heißt, sie haben so gut wie keine Aussichten auf Asyl in Deutschland. Gleichzeitig können sie unter bestimmten Bedingungen legal in Deutschland arbeiten.
Auf diese Weise, schreiben die IW-Experten, könne Deutschland beides gelingen: passende Fachkräfte gewinnen, und verhindern, die „Wanderungsanreize“ durch Transferleistungen noch zu verstärken.