Westafrikaner, die versuchen, illegal von Libyen nach Italien überzusetzen, werden von libyschen Sicherheitskräften in Tripoli festgesetzt. Insgesamt warten laut EU derzeit 500.000 Westafrikaner auf die Überfahrt nach Europa. (Foto: Xinhua/imago)
Flüchtlingskrise

500.000 Afrikaner in Libyen auf dem Sprung

Nach Erkenntnissen der EU warten 500.000 Westafrikaner in Libyen auf die Überfahrt nach Italien. Die Schlepper haben hier leichtes Spiel, weil in Libyen seit dem Sturz des Diktators Gaddafi keine Zentralregierung mehr besteht. Die EU will hier ansetzen und die neue Regierung unterstützen. Gleichzeitig könnten heuer 40.000 Wirtschafts- und Sozialmigranten vom Westbalkan nach Deutschland kommen.

Die europäischen Außen- und Verteidigungsminister beraten bei einem Treffen in Luxemburg über mögliche EU-Einsätze im Bürgerkriegsland Libyen. Unter anderem geht es um die Frage, ob die EU-Marineoperation vor der libyschen Küste in die Hoheitsgewässer des Staates ausgeweitet werden kann. Die Marineoperation ist bislang auf das Seegebiet außerhalb der libyschen Hoheitsgewässer begrenzt. Dies führt dazu, dass die Besatzungen der beteiligten Kriegsschiffe gegen die an der Küste bleibenden Schleuser bislang kaum etwas ausrichten konnten.

Die EU erwartet mehr als eine halbe Million Flüchtlinge aus Afrika, die heuer auf der „Südroute“ über Libyen und Italien nach Europa drängen. Sie stammen vor allem aus Westafrika – aus Gambia, Nigeria, der Elfenbeinküste und dem Senegal. Viele dieser Migranten sind klassische Wirtschafts- und Sozialmigranten. Sie wandern wegen Überbevölkerung, Armut und Perspektivlosigkeit aus. Nach europäischem Recht sind sie weder Kriegsflüchtlinge noch politisch Verfolgte und erhalten deshalb kein Asylrecht.

EU will nordafrikanische Staaten unterstützen

Wenn nun, wie die EU schätzt, ein halbe Million dieser Menschen über Italien nach Europa drängt, könnte sich die sowieso schon sehr angespannte Flüchtlingslage drastisch verschärfen. Diejenigen, die kein Recht auf Asyl oder internationalen Schutz haben, müssen zurückgeschickt werden, forderte die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini.

Wir wollen bald mit der Ausbildung der libyschen Küstenwache beginnen.

Federica Mogherini, EU-Außenbeauftragte

Die EU will nun nordafrikanische Länder unterstützen, zum Beispiel Ägypten und Libyen, damit weniger Menschen über das Mittelmeer nach Europa kommen und Schlepper festgenommen werden können. „Wir werden Geld investieren, um mit den Libyern Informationen über Schleuser auszutauschen und Behörden auszubilden“, sagte Mogherini im ARD-Hörfunk.

Schwierige Staatsbildung in Libyen

Libyen ist ein dringender Fall: Nach dem Sturz des Diktators Gaddafi war es in mehrere, von konkurrierenden Stammesverbänden regierte Blöcke zerfallen und gilt bis heute als „failed state“. Gerade erst entwickelt sich eine Einheitsregierung, die unter Vermittlung der Vereinten Nationen zustande kam. Schon bevor diese neue Regierung offiziell an der Macht ist, bekommt sie bereits Rückendeckung und Hilfsangebote von der EU: „Wir wollen bald mit der Ausbildung der libyschen Küstenwache beginnen“, so Mogherini.

Zur Unterstützung der neuen Einheitsregierung in Libyen war in der vergangen Woche auch Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier zu einem Überraschungsbesuch nach Tripolis gereist. Gemeinsam mit seinem französischen Kollegen Jean-Marc Ayrault traf er während der nur wenige Stunden dauernden Visite den Ministerpräsidenten Fajis al-Sarradsch. Der Weg zu Frieden und Stabilität in Libyen führe über die Umsetzung des Friedensabkommens und die Regierung der nationalen Einheit, sagte Steinmeier.

In einem halben Jahr 68 nur Schlepper festgenommen

Das soll zunächst in internationalen Gewässern geschehen, denn noch dürfen Militärschiffe, wie die der europäischen Mission „Sophia“, nicht in libysche Hoheitsgewässer eindringen. Eine neue libysche Regierung müsste dem zustimmen. Und sie müsste auch erlauben, dass europäische Soldaten in Libyen an Land gehen dürfen, um Behörden vor Ort dabei zu unterstützen, gegen Schlepper vorzugehen.

Unterdessen hat sich im Mittelmeer offenbar erneut eine Flüchtlingskatastrophe ereignet. Genau ein Jahr nach der Tragödie in libyschen Gewässern habe man es wieder mit einer Tragödie zu tun, sagte der italienische Außenminister Paolo Gentiloni. Konkrete Opferzahlen nannte er nicht. Nach Angaben der somalischen Regierung befanden sich auf den Booten rund 500 Migranten, viele Somalis seien ums Leben gekommen. Die verunglückten Menschen waren nach Angaben des italienischen Außenministers in Ägypten aufgebrochen.

Ziel der EU: Geschäftsmodell der Schlepper zerstören

Das Geschäftsmodell der Schleuser zu zerstören, das ist das erste Ziel der europäischen Mission „Sophia“, an der sich 24 EU-Länder beteiligen mit Schiffen, Flugzeugen und Hubschraubern. Es wurden im vergangenen halben Jahr 68 Menschenschleuser festgenommen und den italienischen Justizbehörden übergeben, betonte die Außenbeauftragte. Dass nur 68 Schlepper festgenommen wurden, liege daran, dass die meisten Schlepper nicht an Bord der Flüchtlingsboote sind, so Mogherini. Sie bleiben dort, wo sie sicher sind – an Land, in Libyen. „Genau aus diesem Grund bestehe ich so sehr darauf, dass wir mit den libyschen Behörden zusammenarbeiten“, so die EU-Außenbeauftragte.

Frieden hat viele Feinde, deswegen ist das Problem auch so dringlich.

Federica Mogherini, EU-Außenbeauftragte

Auch grundsätzlich hält Mogherini die Entschärfung der Konflikte in Nordafrika und im Nahen Osten die „größte Aufgabe“ der europäischen Außenpolitik. Mit dem Waffenstillstand in Syrien und einem möglichen nationalen Dialog in Libyen gebe es nun einige zerbrechliche Ergebnisse, sagte sie bei einer Grundsatzdebatte über die EU-Außenpolitik. „Frieden hat viele Feinde, deswegen ist das Problem auch so dringlich.“ Geduld und Zusammenarbeit hätten aber beispielsweise die Einigung im Atomstreit mit dem Iran ermöglicht.

Heuer wieder 40.000 Wirtschaftsmigranten vom Westbalkan?

Unterdessen gibt es schlechte Nachrichten von der Balkanroute: Bis zu 40.000 Wirtschafts- und Sozialmigranten aus den Westbalkanstaaten könnten heuer nach Deutschland kommen. Wie die Welt unter Berufung auf Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) meldete, wurden im ersten Quartal 2016 von Menschen aus Albanien, dem Kosovo, Mazedonien, Montenegro, Serbien und Bosnien-Herzegowina 10.206 Asylanträge gestellt.

Das sind rund 100.000 weniger als im selben Zeitraum 2015. Dennoch zeigt diese Zahl, dass das Problem der Wirtschafts- und Sozialmigranten vom Westbalkan noch nicht gelöst ist, obwohl alle sechs Länder der Region zu sicheren Herkunftsländern erklärt wurden. Die innenpolitische Einigung – unter anderem mit den Grünen – auf die Definition als sichere Herkunftsländer forderte 2014 und 2015 unter anderem Kompromisse, die wiederum als Magnet auf Menschen aus der Region wirken.

So wirkt das deutsche Sozialsystem immer noch sehr einladend, da – wie unter anderem der serbische Ministerpräsident Aleksandar Vučić im November 2015 vorrechnete – allein Sozialhilfe und Kindergeld pro Monat in Deutschland für eine kinderreiche Roma-Familie mehr Einkommen in einem Monat bedeuten, als sie in Serbien in drei bis fünf Monaten erzielen könnte. Wenn Deutschland diese Fehlanreize, die auf Druck der Grünen eingeführt wurden, streichen würde, so Vučić, dann kämen 80 Prozent weniger Migranten vom Balkan.

(dpa/ARD/Welt/wog)