Anhänger der Kuomintang-Partei (KMT) schwenken in der Hauptstadt Taipeh taiwanesische Staatsflaggen. (Foto: imago/ZUMA-Press)
Taiwan

Machtwechsel steht bevor

Seit einigen Jahren nähert sich Taiwan der Volksrepublik China an. 23 bilaterale Verträge wurden unterzeichnet, Tourismus und Handel über die Taiwanstraße florieren. Doch vielen Taiwanesen wird die Annäherung an den machtbewussten großen Bruder langsam unheimlich. Bei der Neuwahl könnte die KMT-Regierung dafür die Quittung bekommen.

Stolz verweist Taiwans Staatspräsident Ma Ying-jeou auf die Wachstumsraten in Tourismus und Handel mit der Volksrepublik China: Mittlerweile gibt es 120 Direktflüge zwischen Taiwan und dem Festland pro Tag, und zwar mit 60 verschiedenen Städten, erzählte er kürzlich in einer Videokonferenz  mit den Spitzen des Europaparlaments. Das sei eine Zahl, die man sich noch vor wenigen Jahren nicht habe vorstellen können, als noch Eiszeit herrschte zwischen der kommunistischen Volksrepublik und der Republik China, wie Taiwan offiziell heißt.

Früher mussten Reisende zwischen Taiwan und dem Festland zwangsweise in Hongkong oder Singapur umsteigen. Mittlerweile besuchen vier Millionen Festlandschinesen Taiwan jedes Jahr als Touristen, insgesamt über 15 Millionen mittlerweile. Bei ihren Besuchen sollen die Festlandschinesen am lebenden Beispiel lernen, dass chinesische Kultur und Demokratie durchaus zusammenpassen – was die offizielle Pekinger Propaganda bekanntlich immer leugnet.

Beim 23. Vertrag kochte die Volksseele über

Ma erwähnt auch, er habe seit seinem Amtsantritt 2008 ganze 23 bilaterale Verträge mit der Volksrepublik unterzeichnet. Doch beim letzten dieser Verträge, einem Dienstleistungsabkommen, hapert es. Es wurde immer noch nicht ratifiziert, und es ist fraglich, ob es je dazu kommt. Aus Protest gegen diesen Vertrag – und aus Angst vor zu starker Annäherung an den überaus machtbewussten großen Bruder auf dem Festland – stürmten hunderte Studenten im März 2014 das Parlament in der Hauptstadt Taipeh und hielten es 24 Tage lang besetzt.

Diese „Sonnenblumen-Bewegung“ der Studenten ist nur ein Symptom für ein weitverbreitetes Unbehagen im ganzen Land. Zwar finden die meisten Bürger, Präsident Ma – der jetzt nach zwei Amtsperioden nicht mehr kandidieren darf – habe das Land sehr gut repräsentiert: Immerhin ist er ein sehr kluger Kopf, hat in Harvard promiviert und ist bei solchen Gelegenheiten wie der Videokonferenz mit dem EU-Parlament (der Bayernkurier berichtete) ganz in seinem Element. Da referierte Ma mehr als eine Stunde lang in druckreifem und akzentfreiem Englisch, angereichert mit zahlreichen Statistiken, über die Wirtschaftsentwicklung Ostasiens, kündigte neue Friedensinitiativen im Ost- und Südchinesischen Meer an, lobte die Europäische Einigung und speziell die deutsch-französische Aussöhnung als Vorbilder, appellierte für besseren Klimaschutz, an dem Taiwan ein vitales Interesse habe, denn immerhin sei Taiwan selbst ja eine Insel im Pazifik.

Angst vor der Volksrepublik und wachsende soziale Spannungen

Doch trotz guter Wirtschaftsentwicklung, Weltmarktführung auf vielen Hightech-Gebieten, einem hohen Technisierungsgrad, modernster Transportsysteme und hoher Umweltstandards drohen Mas Kuomintang-Partei (KMT) Niederlagen bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Gerade der Kernpunkt von Mas Politik, der Kurs der Annäherung und Aussöhnung mit Festlands-China, hat zu erheblichen Sorgen in der Bevölkerung geführt. Mit dem stark angewachsenen bilateralen Handel wächst nämlich auch die Abhängigkeit vom großen Bruder auf dem Festland. Die Besorgnis lautet, dass die Volksrepublik das kleine Taiwan irgendwann sozusagen wirtschaftlich schlicht eingemeinden könnte.

Die strikte wirtschaftsliberale Ausrichtung der KMT-Politik hat zwar zu einem jahrelangen Wirtschaftswachstum geführt. (der Bayernkurier berichtete). Doch gleichzeitig wachsen soziale Spannungen. Denn beispielswiese die Immobilienpreise im Großraum Taipeh sind dermaßen stark angestiegen, dass sich junge Familien auch bei guten Gehältern kein Wohneigentum leisten können. Viele junge Leute zögern daher sogar nach dem Eintritt ins Arbeitsleben die Familiengründung hinaus und wohnen regelmäßig bis zum Alter von 30 oder 35 bei den eigenen Eltern. Als Folge ist die Geburtenrate mit 1,16 Kindern pro Frau eine der niedrigsten in der ganzen Welt. Viele bleiben auch mit ihrem Wohnsitz auf dem Land und nehmen lange tägliche Anfahrten zur Arbeitsstelle in Kauf.

Taiwanisches Nationalbewusstsein ist entstanden

Dazu kommt noch eine Entwicklung, die die ursprünglich strikt antikommunistisch und nationalchinesisch ausgerichtete KMT nach der Niederlage im Bürgerkrieg gegen Mao Tse-Tungs Kommunisten und nach der Übersiedlung auf die Insel Taiwan 1949 zunächst nicht vorhergesehen hatte und dann jahrelang unterschätzte: Die nachgeborene Generation begreift sich immer weniger als Chinesen, sondern hat ein ausgesprochenes taiwanisches Nationalbewusstsein entwickelt. In Umfragen plädieren viele Taiwanesen dafür, etwa die Schulbücher stärker auf Taiwan auszurichten und weniger auf China insgesamt.

Gerade die jungen Leute sind für die Beibehaltung und Festigung des Status Quo, auch wenn Taiwan derzeit nur 22 diplomatische Partner hat – neben dem Vatikan zumeist mittelamerikanische Kleinstaaten und Inselreiche in der Südsee –, und würden eher für eine Unabhängigkeit Taiwans plädieren als für eine Vereinigung mit dem übermächtigen Festlandschina. Das militärische Säbelrasseln der Volksrepublik im Ost- und Südchinesischen Meer tut da sein Übriges. (der Bayernkurier berichtete).

Die Volksrepublik drohte der DPP schon einmal massiv

Deshalb stehen die Chancen der oppositionellen Democratic Progressive Party (DPP) und ihrer Präsidentschaftskandidatin Tsai Ing-wen recht gut, die anstehenden Wahlen zu gewinnen. Ein Machtwechsel wäre allerdings nicht ganz gefahrlos für Taiwan: Während der letzten DPP-Regierung, die den Annäherungskurs bereits einmal stoppte, erließ die Volksrepublik China ein Gesetz, das einen militärischen Angriff auf Taiwan erlaubt, falls sich Taiwan für unabhängig erklären sollte. Die Drohung hat Gewicht: Nach wie vor sind mehr als 1000 Raketen von der Volksrepublik auf Taiwan gerichtet.

Präsident Ma Ying-jeou wird dem Ausscheiden aus dem Amt immerhin eine positive Seite abgewinnen. Zwar dürfen taiwanische Staatsbürger grundsätzlich in 148 Ländern der Erde visumsfrei einreisen. Aber für den Staatspräsidenten, den Premierminister und mehrere Minister Taiwans gelten seit der Ein-China-Politik in den 1970-er Jahren Einreiseverbote in der EU und den USA. Daher könnte Ma – als Ex-Präsident und Privatmann – endlich einmal wieder diese Länder besuchen.