„Die zentrale Frage ist ganz einfach: Wer wollen Sie, daß unser Land regiert – die Leute, die dazu beigetragen haben unser Wirtschaft zu reparieren, oder jene, die geholfen haben, sie kaputt zu machen?“ Premierminister David Camerons aggressive Wahlkampfansage in der Londoner Tageszeitung The Daily Telegraph hat ihre Berechtigung. Im Mai 2010 hat er mit seiner Koalitionsregierung aus Konservativen und Liberaldemokraten ein Land im freien wirtschaftlichen Fall übernommen: Das britische Bruttosozialprodukt pro Kopf war in zwei Jahren um fast sieben Prozent gefallen. Die Staatsverschuldung hatte sich seit 2007 auf 1,16 Billionen Pfund fast verdoppelt. Das Haushaltsdefizit belief sich bei einem Fehlbetrag von 150 Milliarden Pfund auf zwölf Prozent der Wirtschaftsleistung, die Arbeitslosenquote lag bei knapp acht Prozent. Das Land stand am Abgrund.
Cameron und sein Finanzminister George Osborne haben in fünfjähriger Amtszeit die Lage gewendet: Die Wirtschaft wächst mit 2,8 Prozent (2013: 1,6) schneller als die der anderen G7-Länder. Mit knapp sechs Prozent und realen 90 Milliarden Pfund ist das Haushaltsdefizit immerhin stark reduziert. Die Inflation liegt bei Null, die Arbeitslosigkeit ist auf 5,6 Prozent gesunken – seit 2010 seien zwei Millionen Arbeitsplätze entstanden, so Cameron bei jedem Wahlkampfauftritt. Der Premierminister genießt hohe Zustimmungs- und Kompetenzwerte.
Weit entfernt von absoluter Mehrheit
Eigentlich müsste seine Wiederwahl sicher sein. Doch das Gegenteil ist der Fall. Acht Tage vor dem Wahltermin am 7. Mai lagen die Konservativen in den Umfragen durchschnittlich mit 35 Prozent nur einen knappen Punkt vor Labour. Beobachter rechnen Camerons Tories zwar gute Chancen aus, als stärkste Fraktion ins Parlament zurückzukehren, aber von einer absoluten Mehrheit sind sie weit entfernt.
Einer der Gründe: Viele Wähler haben vom wiedergekehrten Wachstum noch nicht viel gespürt. Auch in den Cameron-Jahren sind die Gehälter durchschnittlich um 1,2 Prozent gesunken. Die Produktivität liegt in Großbritannien auch heute um zwei Prozent unter dem Wert von 2008. Die Stimmung im Lande bleibt pessimistisch. Das Gefühl tiefer wirtschaftlicher Malaise hält an. Das hat Cameron dazu bewogen, im Wahlprogramm der Konservativen gleich einen ganz Strauß teurer Wahlversprechen zu präsentieren: Steuerfreiheit für jeden, der 30 Stunden zum Mindestlohn arbeitet, drei Millionen Ausbildungsplätze, 30 Stunden kostenlose Betreuung pro Woche für drei- und vierjährige Kinder von arbeitenden Eltern, Mieter sollen Sozialwohnungen günstig erwerben können, der Staatliche Gesundheitsdienst NHS soll jedes Jahr elf Milliarden Pfund mehr erhalten.
Dazu kommt eine völlig neue politische Situation mit komplizierter Wahlarithmetik. Nach der ersten Koalitionsregierung seit dem Zweiten Weltkrieg stehen die Wähler vor einer fragmentierten politischen Landschaft, wie sie das Land kaum je gesehen hat. Ergebnis: So unvorhersehbar wie 2015 war der Ausgang einer britischen Unterhauswahl noch nie.
326 Mandate braucht es im House of Commons für eine absolute Mehrheit. Davon sind sowohl Tories wie Labour weit entfernt. Camerons Konservative (derzeit 302 Mandate) können auf die Abgeordneten aus etwa 220 Hochburgen fest rechnen. Dazu kommen könnten dreißig oder vierzig von derzeit 56 Liberaldemokraten. Labour-Parteichef Ed Miliband (derzeit 256 Mandate) kann zusammen mit den Abgeordneten der Schottischen Nationalpartei (SNP) und ein paar Grünen auf 280 Mandate sicher rechnen. Bleiben etwa 100 knappe konservativen und liberaldemokratischen Wahlkreise, die Labour gewinnen möchte, analysiert The Economist. Dort wird die Wahlentscheidung fallen.
Keine absolute Parlamentsmehrheit
Die Konservativen haben dabei mit einem spezifischen Nachteil zu kämpfen: Wahlkreise im Norden, wo Labour traditionell stark ist, sind kleiner als im Tory-Südosten. Konservative Wahlkämpfer im Süden brauchen mehr Stimmen als Labour-Kandidaten im Norden, um einen Wahlkreis zu gewinnen. Ein Kopf-an-Kopf-Rennen auf nationaler Ebene ist darum ein schlechtes Omen für die Konservativen.
Sicher ist nur, dass weder Tories noch Labour eine absolute Parlamentsmehrheit erreichen werden. Gewiss ist auch, dass die fast schon linksradikale SNP von Parteichefin Nicola Sturgeon praktisch alle von 59 schottischen Mandaten gewinnen und von derzeit sechs auf wohl 57 Sitze zulegen wird – zu Lasten von Labour. Weil die SNP sich schon fest an Labour gebunden hat, schließt Nick Clegg für seine Liberaldemokraten eine Koalition mit Labour aus – was für Labour-Chef und Oppositionsführer Ed Miliband eine Regierungsmehrheit in weite Ferne rücken lässt.
In dem absehbaren Patt – Briten nennen das ein „hung parliament“ – werden die kleinen Parteien wichtig. Die europafeindliche United Independence Party (Ukip, 2 Mandate) kann die Tories in manchen Wahlkreisen die Mehrheit kosten. Die irische Democratic Unionist Party (DUP, 8 Mandate) steht den Konservativen nahe.
Aber eine britische Regierung braucht keine Parlamentsmehrheit, sondern nur „das Vertrauen des House of Commons“, also eine gewonnene Vertrauensabstimmung. Was bedeutet, dass die stärkste Fraktion auch eine Minderheitsregierung bilden könnte, die sich dann von Abstimmung zu Abstimmung hangelt. Am 8. Mai wird es darauf ankommen, wem die Königin den ersten Auftrag zur Regierungsbildung gibt. Vermutlich dem Führer der stärksten Fraktion. Das könnte wieder David Cameron sein.
London geht womöglich auf politisch instabile Zeiten zu. Was das für die Zukunft des Landes – und der Europäischen Union – bedeutet, muss sich zeigen. Cameron hat dem Land versprochen, in der kommenden Legislaturperiode mit Brüssel neue Bedingungen für die britische EU-Mitgliedschaft auszuhandeln. Es wird dabei um Sozialleistungen und die Begrenzung der Zuwanderung gehen, so Cameron jetzt. Bis Ende 2017 soll dann das Land über die EU-Mitgliedschaft abstimmen. Sowohl für die Briten wie für die gesamte EU könnte ein britischer EU-Abschied – „Brexit“ – teuer werden. Doch Prognosen über das Votum der britischen Wähler im Jahr 2017 sind heute müßig. Sichtbar ist: In jenen 100 umkämpften Wahlkreisen, die die Wahl am kommenden Donnerstag entscheiden werden, spielt das Thema im Mai 2015 keine prominente Rolle.