„Diese Flüchtlingswelle ist zu groß“
EU-Ratspräsident Donald Tusk wendet sich scharf gegen die Migrationspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel: Es gibt in der EU keine Mehrheit für eine verpflichtende Quotenregelung. Aus Sicherheitsgründen und um den Ansturm zu stoppen, fordert er, alle Migranten 18 Monate lang festzuhalten und zu überprüfen. Nur 30 Prozent der Migranten seien Syrer. Tusk warnt vor "Angst auf Europas Straßen".
Tusk gegen Merkel

„Diese Flüchtlingswelle ist zu groß“

EU-Ratspräsident Donald Tusk wendet sich scharf gegen die Migrationspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel: Es gibt in der EU keine Mehrheit für eine verpflichtende Quotenregelung. Aus Sicherheitsgründen und um den Ansturm zu stoppen, fordert er, alle Migranten 18 Monate lang festzuhalten und zu überprüfen. Nur 30 Prozent der Migranten seien Syrer. Tusk warnt vor "Angst auf Europas Straßen".

Jetzt ist es amtlich: In der Europäischen Union gibt es überhaupt keine Mehrheit für den Brüsseler – und Berliner – Plan, per verpflichtender Quoten Migranten auf alle Mitgliedsstaaten umzuverteilen. Im Interview mit fünf europäischen Tageszeitungen – darunter die Süddeutsche Zeitung und die Londoner Zeitung The Guardian – hat EU-Ratspräsident Donald Tusk das jetzt klar ausgesprochen: „Es gibt keine Mehrheit in Europa, wenn es um die Umverteilung von Flüchtlingen geht. Und nicht nur wegen der ost- und zentraleuropäischen Länder. Sondern wegen sehr viel mehr Ländern.“  Tusk beziehe damit massiv Stellung gegen Angela Merkel, für die die verpflichtende Umverteilung von Migranten der „hauptsächliche Politikansatz ist, um mit der Migrantenkrise fertig zu werden“, schreibt dazu The Guardian: „Tusks Bemerkungen widersprechen Berlins Haltung und ebenso der Asylpolitik, die auf der anderen Straßenseite, gegenüber seinem Büro, von der Europäischen Kommission entworfen wird.“

Es gibt keine Mehrheit in Europa, wenn es um die Umverteilung von Flüchtlingen geht. Und nicht nur wegen der ost- und zentraleuropäischen Länder. Sondern wegen sehr viel mehr Ländern.

EU-Ratspräsident Donald Tusk

Tusk kritisiert offen den nicht zuletzt auf Berliner Druck hin mit qualifizierter Mehrheit zustande gekommenen Ratsbeschluss zur Umverteilung von 160.000 Migranten: „Mittel- und langfristig können wir die qualifizierte Mehrheit nicht als politisches Zwangsmittel einsetzen. Viele Länder sehen einen permanenten und obligatorischen (Umverteilungs-)Mechanismus skeptisch. Und ich kann verstehen, warum.“

Merkels gefährliche Politik

Aber der EU-Ratspräsident geht noch weiter: In ziemlich eindeutiger Anspielung auf die Bundeskanzlerin – The Guardian schreibt von „einem Bezug“ auf eine Merkel-Äußerung – wirft er ihr gefährliche Politik vor und fordert die europäischen Regierungen auf, die Flüchtlingswelle zu stoppen: „Manche [politischen Führer, A.d.V.] sagen, die Flüchtlingswelle sei zu groß, um sie zu stoppen. Das ist gefährlich. Ich bin absolut überzeugt, dass wir sagen müssen: Diese Flüchtlingswelle ist zu groß, um sie nicht zu stoppen.“ Von Europas „politischen Führern“ verlangt Tusk „eine veränderte Einstellung“. Direkt an Deutschland gewendet drängt er auf die Rückkehr zur Dublin-Regel über die Asyl-Zuständigkeit der Erstaufnahmeländer: „Wenn wir Regeln haben, dann müssen wir sie einhalten. Das gilt für Dublin, das gilt für Schengen und Maastricht. … Wir können vor unseren Verpflichtungen nicht davonlaufen. Auch Deutschland nicht.“

Manche politischen Führer sagen, die Flüchtlingswelle sei zu groß, um sie zu stoppen. Das ist gefährlich. Ich bin absolut überzeugt, dass wir sagen müssen: Diese Flüchtlingswelle ist zu groß, um sie nicht zu stoppen.

Donald Tusk

Die Solidarität, die Bundeskanzlerin Merkel und Berlin jetzt von den EU-Partnern einfordern wollen, macht Tusk vom effektiven Schutz der Außengrenzen abhängig: „Alle Mitgliedstaaten werden bereit sein, mehr Solidarität zu zeigen, wenn sie das Gefühl haben, dass Europa als Ganzes bereit ist, seine externen Grenzen effektiver zu schützen. Und wenn sie [die Mitgliedstaaten, A.d.V.] in der Lage sind, diese Flüchtlingszahlen zu reduzieren, denn das ist heute in Europa die größte Angst.“

Migranten 18 Monate festhalten und überprüfen

Schon aus Gründen der Sicherheit fordert Tusk nachdrücklich, alle ankommenden Migranten gründlich zu überprüfen. Zu dem Zweck sollten sie so lange wie eben notwendig in Auffangzentren bleiben müssen: Wenn man Migranten und Flüchtlinge überprüfen wolle, brauche das mehr als nur eine Minute, um die Fingerabdrücke zu nehmen, so Tusk.

Bitte spielen Sie die Sicherheitsfrage nicht herunter. Wir müssen das tun. Das ist der Grund, warum die Angst so spürbar und tatsächlich auch berechtigt ist.

Donald Tusk

Nach internationalem Recht wie nach europäischen Regeln seien für die Überprüfung 18 Monate vorgesehen. Tusk: „Man kann und man sollte die Migranten solange festhalten, bis die Überprüfung abgeschlossen ist.“ Das könne in vielen Teilen Europas geschehen, nicht nur in den Ländern an der EU-Außengrenze. „Aber wir müssen sehr offen sagen, dass wir das tun werden. Aus Sicherheitsgründen, wenn auch nicht nur darum.“ Und weiter: „Bitte spielen Sie die Sicherheitsfrage nicht herunter. Wir müssen es tun. Das ist der Grund, warum die Angst so spürbar und tatsächlich auch berechtigt ist.“ Auf die Frage, ob das überhaupt durchführbar sei, antwortete Tusk ironisch und auf Deutsch mit Bundeskanzlerin Merkels bekanntem Wort: „Wir schaffen das.“

Es ist heute viel zu einfach, nach Europa zu kommen.

Donald Tusk

Die Überprüfung werde gleichzeitig der Abschreckung dienen und zum Rückgang der Migrantenzahlen führen, prophezeit der Ratspräsident: „Die Kontrollen an den Außengrenzen und die Verfahren in den Grenzländern sind ein Mittel, das die Bereitschaft, nach Europa zu gehen, senken wird.“ Tusk schickt ein deutliches Wort hinterher: „Simpel gesagt: Es ist heute viel zu einfach, nach Europa zu kommen.“

Angst auf den Straßen Europas

Tusk bestreitet auch die häufige Behauptung, dass es bei der aktuellen großen Migrantenwelle fast ausschließlich um syrische Flüchtlinge gehe: „Ich spreche von Migranten. Tut mir leid, aber das gilt sozusagen als Rechtfertigung, dass es sich um nur um Flüchtlinge aus Syrien handelt und dass wir darum so offen sein müssen, wie wir heute sind. Aber das ist nicht wahr.“ Der EU-Ratspräsident weiter: „Syrer sind nur 28 bis 30 Prozent des Migrantenzustroms. 70 Prozent sind irreguläre Migranten. Darum brauchen wir effektivere Kontrollen. Das ist offensichtlich.“

Zum ersten Mal in vielen, vielen Jahren bemerke ich, dass die Debatte wirklich öffentlich ist, weil die Angst und Unsicherheit so echt ist.

Donald Tusk

Hochspannend ist eine Überlegung des Ratspräsidenten über die Wirkung der Migrantenwelle auf die europäische Öffentlichkeit. Interessant: Der durchaus linkslastige Guardian bringt diesen Teil des Interviews, die Süddeutsche Zeitung nicht. Tusk im Wortlaut nach dem Londoner Blatt: „Die Debatte wird heute nicht nur zwischen Politikern oder Intellektuellen oder Kommentatoren geführt. Zum ersten Mal in vielen, vielen Jahren bemerke ich, dass die Debatte wirklich öffentlich ist, weil die Angst und Unsicherheit so echt ist. Man kann diese Angst fühlen, diese Gefühle auf der Straße. Wir sprechen hier von unserer Aufnahmefähigkeit in Europa. Niemand ist bereit, diese hohen Zahlen aufzunehmen, Deutschland eingeschlossen.“

Tiefe Kluft innerhalb der EU

Tusks Bemerkungen deuteten auf „eine sich immer mehr vertiefende Kluft innerhalb der EU hin, wie der Flüchtlingskrise zu begegnen sei“, kommentiert zutreffend The Guardian. Der Widerstand des Ratspräsidenten gegen Berlins Pläne, so das Blatt, bringe jetzt Merkel, „die sowohl zuhause wie in Europa mit ihrer Migrationspolitik zunehmend isoliert erscheint, in die Klemme“. Womöglich müsse sie ihre Hoffnungen auf ausreichende Unterstützung für ein EU-weites Verteilungssystem begraben, ahnt The Guardian.

Merkel in der Klemme.

The Guardian

Slowakei klagt gegen Zwangsumverteilung von Migranten

Tatsächlich kündigt sich neuer EU-Streit schon an: Die Slowakei reichte als erstes Land beim Europäischen Gerichtshof Klage ein gegen die Umverteilung von 160.000 Migranten auf alle Mitgliedsländer. Die Slowakei hätte davon bis zu 1400 übernehmen sollen, ein Witz im Vergleich zu Deutschland. Die EU-Innenminister hatten das am 22. September mit qualifizierter Mehrheit beschlossen, gegen den Widerstand von mindestens drei osteuropäischen EU-Ländern. Der Beschluss hat Gesetzeswirkung und verpflichtet alle Mitgliedsstaaten, sagt die Kommission. Doch die Slowakei wirft dem Ministerrat nun vor, seine Kompetenzen überschritten und das Recht der nationalen Parlamente missachtet zu haben. Ministerpräsident Robert Fico: „Wir halten diese Quote für nicht machbar.“ Seit dem gestrigen Interview mit Ratspräsident Tusk weiß man, dass der für die slowakische Position viel Verständnis hat.

Viktor Orban: Geheimer Pakt zwischen EU und Türkei

Der slowakischen Klage soll eine aus Ungarn folgen. Die Klage beim Europäischen Gerichtshof werde noch „heute“ eingereicht, erklärte Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban am Donnerstag in Budapest. Das berichtete die staatliche ungarische Nachrichtenagentur MTI. „Es reicht nicht, zu protestieren, man muss auch handeln“, fügte der nationalkonservative Regierungschef hinzu. Orban warf der EU vor, sich mit mehreren in den letzten Tagen begonnenen Verfahren gegen Ungarn zu „rächen“, weil Budapest „es gewagt hat, sich gegen die Einwanderungspolitik Brüssels zu wenden“. Zusammen mit Polen, Tschechien und der Slowakei habe Ungarn bewiesen, dass „wir die Migrantenflut stoppen können, wenn wir wollen“. Jene, „die anderen Denkgewohnheiten folgen“, würden sich über diesen Erfolg nicht freuen.

Zunächst aber hat Orban der EU und Deutschland vorgeworfen, mit der Türkei einen „geheimen Pakt“ ausgehandelt zu haben, demzufolge die EU bis zu 500.000 weitere Migranten übernehmen wolle. Orban in Budapest: „Wir werden eines Tages aufwachen – und ich denke, es wird noch diese Woche in Berlin verkündet werden –, dass wir noch 400.000 bis 500.000 Flüchtlinge direkt aus der Türkei übernehmen müssen. Diese böse Überraschung erwartet Europa.“

Wir werden eines Tages aufwachen – und ich denke, es wird noch diese Woche in Berlin verkündet werden –, dass wir noch 400.000 bis 500.000 Flüchtlinge direkt aus der Türkei übernehmen müssen.

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban

Der stellvertretende EU-Kommissionspräsident Frans Timmermans bezeichnete Orbans Vorwurf als „Unsinn“. Von einem deutschen Regierungsvertreter, der gegenüber dem US-Informationsdienst Bloomberg anonym bleiben wollte, hieß es, Orbans Behauptung, Deutschland habe einen geheimen Handel abgeschlossen, sei falsch. Etwas zweideutig fiel die Reaktion des französischen Regierungssprechers aus: „Letztes Wochenende hat die Union ein Abkommen mit der Türkei erzielt“, und Orban solle mit den Details vertraut sein, da er ja dabei gewesen sei.

Tatsächlich haben sich am Rande des EU-Türkei-Gipfels in Brüssel die EU-Kommission und acht EU-Länder offenbar auf ein freiwilliges Verfahren zur Aufnahme eines Kontingents syrischer Flüchtlinge aus der Türkei verständigt. Der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zufolge soll es dabei um die Zahl 400.000 gegangen sein. Keine Zahl sei genannt worden, erklärte später jedoch Bundeskanzlerin Merkel. Die Verhandlungen zwischen der EU und der Türkei dauern an.