Moskau: Der Sarg des abgeschossenem Piloten Oleg Peshkov wurde am Montag in seine Heimat zurückgebracht. Foto: imago/ITAR-TASS
Länderbericht

Krisenstimmung zwischen Russland und der Türkei

Gastbeitrag Der Kreml reagierte scharf auf den Abschuss eines seiner Militärflugzeuge durch die Türkei. Bis dato hatten beiden Staaten milliardenschwere Pläne zum Ausbau ihrer Wirtschaftskooperation. Diese könnten nun auf den Prüfstand gestellt werden, zumal gegensätzliche geopolitische Interessen in Syrien immer deutlicher sichtbar werden – dort herrscht eine vielschichtige Interessenlage.

Der Abschuss einer russischen Maschine durch das türkische Militär sorgt für Spannungen in den Beziehungen der beiden Länder. Wladimir Putin äußerte sich zum Vorfall bei einem Treffen mit dem jordanischen König Abdullah II. Der Kremlchef beschuldigte die Türkei, dem Terrorismus Vorschub zu leisten.

Dieses Ereignis geht über den Rahmen des Kampfes gegen den Terrorismus hinaus. Der heutige Verlust erfolgte durch einen Stoß in den Rücken, den uns Handlanger des Terrorismus versetzt haben.

Wladimir Putin, Präsident Russland

Für den Flugzeugabschuss, der über syrischem Gebiet erfolgt sei, gibt es nach Putin keinerlei Rechtfertigung, denn die Türkei sei überhaupt nicht bedroht worden. Der russische Kampfjet habe im Nordwesten Syriens Präventivschläge gegen Terroristen durchgeführt, die als Staatsbürger der Russischen Föderation jederzeit in ihre Heimat zurückkehren könnten. Außerdem habe sein Land schon vor langem bemerkt, dass Öl aus den Rebellengebieten an die Türkei verkauft werde.

Russland droht mit Konsequenzen

Entsprechend würden Terroristen von dort finanziert. Putin sprach von ernsthaften Konsequenzen für die russisch-türkischen Beziehungen, obwohl Russland die Türkei immer als einen befreundeten Staat betrachtet habe. Er kritisierte, dass Ankara nicht unverzüglich mit Moskau Kontakt aufgenommen und sich stattdessen an seine NATO-Partner gewandt habe, als ob es Russland gewesen sei, das ein türkisches Flugzeug abgeschossen habe.

Außenminister Sergej Lawrow sagte daraufhin einen geplanten Besuch in Ankara ab. Er empfahl seinen Landsleuten, von Reisen in die Türkei Abstand zu nehmen. Dort steige die Terrorgefahr nicht weniger stark an als in Ägypten.

Der stellvertretende Vorsitzende der Staatsduma, Nikolaj Lewitschew, forderte die Einstellung des Flugverkehrs mit der Türkei, solange dort Terroranschlägen nicht intensiver vorgebeugt werde. Konstantin Kossatschow, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Föderationsrates, forderte die Aussetzung sämtlicher internationaler Kontakte mit der Türkei „bis zu einer besseren Zeit“.

Wadim Lukaschewitsch von der Oppositionspartei PARNAS/Volksfreiheit sieht sein Land gar vor der Wahl zwischen zwei schlechten Handlungsalternativen: Entweder finde man sich schändlich mit dem Verlust des Militärflugzeugs ab oder man beginne mit der Bombardierung der Türkei.

Die Bedeutung der türkisch-russischen Wirtschaftskooperation

Bei seinem Besuch in Moskau vor zwei Monaten erklärte der türkische Staatspräsident Recep Erdogan, den bilateralen Warenaustausch bis zum Jahre 2023 von bisher 30 auf 100 Milliarden US-Dollar steigern zu wollen. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit betrifft insbesondere folgende Branchen:

  • Rohstoffe
    Der türkische Gasmarkt rangiert für Gasprom auf Rang 2 hinter dem deutschen. Gleichzeitig decken die russischen Lieferungen 60 Prozent des türkischen Gasbedarfs ab. Ankara und Moskau planen die Errichtung einer zweiten Pipeline. Der Baubeginn verzögerte sich bisher aufgrund von Unstimmigkeiten beim Gaspreis und der Parlamentswahl in der Türkei. Der russische Ölkonzern Lukoil unterhält in der Türkei ein Netz von 600 Tankstellen und hat damit einen Marktanteil von 7 Prozent.
  • Kernenergie
    Beide Seiten einigten sich 2010 auf die Errichtung eines Atomkraftwerks in der Türkei durch den russischen Staatskonzern Rosatom. Das Auftragsvolumen beträgt 20 Milliarden US-Dollar. Die vier Reaktoren sollen 2022 ans Netz gehen.
  • Finanzen
    Vor drei Jahren erwarb die Sberbank die türkische Denizbank. Der Preis betrug 3,5 Milliarden US-Dollar. Es handelte sich um die umfangreichste Kauftransaktion der Sberbank in ihrer 175-jährigen Geschichte. Die Denizbank betreibt 599 Filialen in der Türkei und 75 im Ausland.
  • Bausektor
    Türkische Firmen wickeln über 30 Prozent des Auftragsvolumens der russischen Bauwirtschaft ab.
  • Tourismus
    Im ersten Halbjahr erwies sich die Türkei als das zweitbeliebteste Reiseziel der Russen nach Ägypten, das seit dem 6. November infolge des Terroranschlags auf ein Passagierflugzeug von russischen Fluggesellschaften nicht mehr angesteuert wird. Eine Million Russen flog von Januar bis Juni in die Türkei, im gesamten Jahr 2014 waren es sogar fast viereinhalb Millionen. Mehr Russen machten sich im selben Zeitraum nur nach Deutschland auf (5,25 Millionen). Die Analystin Anna Kokorewa spricht von einem Umsatz in Höhe von 2,77 Milliarden US-Dollar, den die türkische Tourismusbranche bei einem Wegbleiben der russischen Kunden einbüßen könnte.
  • Lebensmittel
    Bei über 35 Prozent der Warenimporte aus der Türkei handelt es sich um Obst und Gemüse; der deutsche Handelskonzern Metro beziffert den Anteil türkischer Waren in seinen russischen Märkten auf ca. 20 Prozent, wobei um die jetzige Jahreszeit die Lieferungen zunehmend aus Ägypten und dem Iran erfolgten.

Insgesamt exportierte die Russische Föderation im ersten Halbjahr Waren im Wert von 15 Milliarden US-Dollar in die Türkei; der Import betrug drei Milliarden US-Dollar. Bei den Dienstleistungen ergibt sich ein anderes Bild. Russland exportierte Leistungen in Höhe von drei Milliarden US-Dollar, während es türkische Leistungen im Umfang von 9,7 Milliarden US-Dollar importierte.

Streit um die mögliche Luftraumverletzung

Moskau und Ankara widersprechen sich bei der Frage, ob der russische Militärjet tatsächlich türkischen Luftraum verletzt hat. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass Wladimir Putin den Vorwurf nicht ausdrücklich zurückgewiesen hat. Er unterstrich lediglich, dass durch das russische Flugzeug zu keinem Zeitpunkt eine Bedrohung für die Türkei bestanden habe und es letztlich über syrischem Gebiet abgeschossen worden sei.

Der Chefredakteur der Zeitung „Rüstungsindustrieller Kurier„, Michail Chodarenok, sagte, die russischen Piloten seien mit einer Operation nahe der türkischen Grenze ein hohes Risiko eingegangen. Der Oberst der Reserve verwies insbesondere auf den kurvenreichen Grenzverlauf und die hohe Fluggeschwindigkeit von zwanzig Kilometer pro Minute. Gleichzeitig bezweifelte Chodarenok, dass die türkischen Piloten alles ihnen Mögliche unternommen hätten, um den Einsatz von Waffen zu vermeiden. Legt man dies zugrunde, hätten beide Seiten sehr hoch gepokert.

Der Vorfall ereignete sich vor dem Hintergrund einer kontinuierlichen Verschlechterung der Beziehungen zwischen Ankara und Moskau seit dem Beginn des russischen Militäreinsatzes vor zwei Monaten. Die Türkei lehnt die russischen Bombardements ab. Unterschiede gibt es bei der Frage des Schicksals von Baschar al-Assad.

Ankara möchte schnellstmöglich seine Entmachtung erreichen. So verdächtigt die Türkei den Kreml, mit seinen Luftangriffen den syrischen Präsidenten stützen zu wollen. Außerdem schaut Ankara mit Argwohn auf die guten Beziehungen Moskaus zu den Kurden, welche die Türkei als Terroristen einstuft.

Seit Anfang Oktober wurde der Ton spürbar schärfer. Zunächst warf Ankara bereits damals Moskau die Verletzung seines Luftraums vor. Erdogan drohte, dass „Moskau einen Freund wie Ankara verlieren kann“. Später schoss die türkische Luftabwehr eine Drohne russischer Produktion ab.

Wir hätten genauso gehandelt, wenn es ein Flugzeug gewesen wäre.

Achmet Davutoglu, Premierminister der Türkei

Und Anfang der vergangenen Woche bestellte die Türkei den Botschafter Russlands ein und protestierte gegen die russischen Bombardements im Norden Syriens. Dort lebt mit den syrischen Turkmenen neben den Kurden und Arabern die drittgrößte ethnische Gruppe des Landes. Sie kämpfen gegen Assad. Traditionell unterstützt die Türkei dieses Turkvolk. Zudem könnten die Turkmenen nach einem Machtwechsel in Damaskus eine gewichtige Rolle spielen, was Ankara in eine vorteilhafte Position bringen würde.

Schlechte Aussichten für die wirtschaftliche Zusammenarbeit

Der Chefredakteur der Zeitschrift „Russia in global Affairs„, Fjodor Lukjanow, prophezeit keine schnelle Entspannung zwischen Moskau und Ankara. Er führt diese Einschätzung auf die sehr prägnante Wortwahl Wladimir Putins zurück und rechnet mit Vergeltungsmaßnahmen. Sie könnten sich gegen die von der Türkei in Syrien unterstützten Gruppen richten. Russland reagierte jedenfalls prompt: Kampfjets erhalten bei ihren Einsätzen in Syrien zukünftig Begleitschutz durch Abfangjäger. Moskau verlegt moderne Luftabwehrraketen ins Krisengebiet.

Außerdem beruft sich die Tageszeitung „Kommersant“ auf eine anonyme Quelle aus der Administration, die Putins Zorn damit erklärt, dass die Türkei sich vorrangig an die NATO gewandt habe. Eine derartige Hinterlist habe man von Ankara nicht erwartet, wird die Stimme weiter zitiert. Nichtsdestotrotz, so der Kommersant, habe NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg für Deeskalation geworben und beide Seiten zur Herstellung des direkten Kontaktes aufgerufen.

Ein Streit ohne Gewinner

Ein Ausbau der türkisch-russischen Wirtschaftskooperation wird sich in naher Zukunft also nicht ergeben, obwohl das Potential hierfür groß wäre, da sich Ankara den Sanktionen des Westens nicht angeschlossen hat. Vielmehr lassen erste Reaktionen aus Moskau auf eine massive Einschränkung der Zusammenarbeit schließen, obwohl beide Seiten viel zu verlieren haben. Russland dürfte trotz allem im Auge behalten, dass die Türkei bei der Versorgung der blockierten Krim eine beträchtliche Rolle spielt.

Außerdem baut der Kreml weiterhin an einer Koalition gegen den Islamischen Staat. Dafür braucht er auch sunnitische Länder wie die Türkei, nachdem bereits die Beziehungen mit Ägypten in Folge des Terroranschlags auf das russische Passagierflugzeug in Mitleidenschaft gezogen wurden. All dies zeigt jedenfalls die komplexe Interessenlage im Nahen Osten. Entwarnung gab Außenminister Sergej Lawrow. Er betonte, dass Russland wegen des Flugzeugabschusses nicht gegen die Türkei in den Kampf ziehen werde.

Knapp eine Woche nach dem Abschuss des russischen Kampfjets hat Wladimir Putin die Vermutung geäußert, die Türkei hätte diesen abgeschossen, um Öllieferungen des Islamischen Staates (IS) in die Türkei zu schützen.

Der türkische Präsident Erdogan sprach sich entschieden gegen die Vermutung aus und kündigte an: „Wenn so eine Sache bewiesen wird, würde es die Vornehmheit unserer Nation erfordern, dass ich nicht im Amt bleibe. Wir sind nicht unehrlich und treiben diese Art von Handel mit Terroristen.“

Berichte über solche Öllieferungen halten sich aber schon seit Monaten. Ob diese Deals mit oder ohne Wissen der Regierung in Ankara laufen, das ist die entscheidende Frage. Der regierenden AKP wird aber nachgesagt, dass führende Mitglieder nicht nur korrupt sind, sondern auch jede Art krummer Geschäfte machen, insbesondere im Bau- und Rohstoffsektor. Korruptionsermittlungen gegen die eigene Partei und auch gegen sich selbst hat der Autokrat Erdogan gerne mit Versetzung der zuständigen Staatsanwälte und Polizisten „belohnt“. Wer Pech hatte, wurde auch gleich eines „Putschversuches“ beschuldigt und eingesperrt.