Ein russischer Luftschlag gegen Rebellen der Anti-Assad-Koalition in Harasta bei Damaskus. (Bild: Imago/Valery Sharifulin/Itar-Tass)
Hintergrund

Moskaus Krieg in Syrien

Gastbeitrag Warum führt Russland Militäroperationen in Syrien durch? Geht es um Sicherheit, strategische Interessen, die Vorführung russischen Kriegsgeräts oder die Demonstration russischer Macht? Die Motive der Regierung erläutert und erklärt Dr. Markus Ehm, Leiter der Verbindungsstelle Moskau der Hanns-Seidel-Stiftung.

Russland bombardiert seit Ende September Ziele in Syrien. Offiziell stellt Moskau drei Intentionen in den Mittelpunkt: die Verbesserung der Sicherheit im eigenen Land, die Positionierung als internationaler Akteur und die Stabilisierung Syriens. Auch wenn Wladimir Putin ein hohes Risiko eingeht, so gelingt es ihm gegenwärtig, die weltpolitische Rolle seines Landes zu bekräftigen.

Motivationslage Moskaus nach offiziellen Verlautbarungen

Der Kreml verfolgt mit der Militäroperation in Syrien nach eigenen Angaben folgende drei Interessen.

1. Die Stärkung der inneren Sicherheit Russlands und seiner regionalen Verbündeten

Staatspräsident Wladimir Putin will die Rückkehr von mindestens 4000 IS-Kämpfern aus Ländern der ehemaligen UdSSR in ihre Herkunftsstaaten verhindern [1]. Außerdem spricht der Kremlchef von weiteren Expansionsplänen des Islamischen Staates. In der Folge drohe die Destabilisierung ganzer Regionen [2]. Moskau müsse diese territoriale Ausweitung des IS unterbinden. Andere Ziele des Militäreinsatzes seien sekundär [3]. In diesem Kontext erkennt Putin eine Bedrohung Zentralasiens. Sowohl in den dortigen Ex-Sowjetrepubliken als auch in Afghanistan habe der IS bereits seinen Einfluss verstärkt [4].

Russland sieht sich von einem größeren Krieg gegen Islamisten in Zentralasien bedroht.

Besonders intensiv beobachtet Moskau die Lage in drei zentralasiatischen Staaten: Mit Kasachstan und Kirgistan besteht eine enge Verbindung über die Eurasische Wirtschaftsunion, und in Tadschikistan befindet sich ein russischer Militärstützpunkt. Putin bezeichnete die Grenze seines Landes zu Kasachstan als „absolut durchlässig“ und „technisch schwer zu schützen“. Außerdem hat der Kremlchef Bedenken, ob Kasachstan sich in einer größeren regionalen Krise selbst behaupten kann. Russland sieht sich von einem größeren Krieg gegen Islamisten in Zentralasien bedroht, den es alleine oder mit Unterstützung von China führen müsste. Moskau sieht nur zwei Optionen. Entweder man bekämpft den IS-Terrorismus heute im Nahen Osten oder zu einem späteren Zeitpunkt in Zentralasien und/oder im Kaukasus.

2. Positionierung als internationaler Akteur

Der Kreml unterstreicht mit der Militäraktion seine geopolitischen Ambitionen. In Moskau bezweifelt man, dass die US-geführte Koalition in Syrien tatsächlich den Terrorismus bekämpfen möchte. Vielmehr hegt Russland den Verdacht, dass es Washington schlichtweg um den Sturz Bashar Al-Assads geht [5].

Abgesehen davon empfindet der Kreml die US-Strategie im Nahen Osten grundsätzlich als ineffektiv. Russland müsse sich einmischen, um die Ausbreitung von Chaos in anderen Regionen zu verhindern und sozusagen die Fehler der USA zu korrigieren, so Putin neulich auf dem Valdaj-Forum [6]. Ähnlich hatte er sich bereits auf der UN-Generalversammlung geäußert.

3. Stabilisierung Syriens und seiner Regierung bei Achtung des Völkerrechts

Zwischen Washington und Moskau tobt ein heftiger Streit über grundlegende Prinzipien des internationalen Systems. Russische Politiker und Experten werfen den USA vor, ihnen nicht genehme Regierungen und Regime durch wohlgesonnene bei Bedarf und nach Belieben auszutauschen. Das Gegenkonzept des Kremls basiert unter Berufung auf das Völkerrecht darauf, stabile Staatssysteme auf keinen Fall anzutasten, um die Situation nicht noch zu verschlimmern. Dabei sei sich Moskau auch der Schattenseiten der sowjetischen Intervention in Afghanistan bewusst, so ein Experte im Gespräch mit einer Delegation der Hanns-Seidel-Stiftung. Außerdem stützt sich die heutige Haltung Russlands ganz wesentlich auf die Erfahrungen, die Russland im Jahr 2011 in Libyen machte, als der damalige Staatspräsident Dmitrij Medwedew auf ein Veto im UN-Sicherheitsrat verzichtete und damit die westliche Militärintervention zuließ. In der Folge haben aus der Sicht des Kremls die USA und ihre Verbündeten den rechtlichen Rahmen überdehnt und durch den Sturz Muammar al-Gaddafis ein bis heute bestehendes Chaos verursacht sowie Russland düpiert. Auf so etwas will sich Moskau kein zweites Mal einlassen.

Ein Abschied Assads von der Macht kommt für Moskau anscheinend auf der Basis von Wahlen in Betracht.

Was die Stabilisierung Syriens mit Hilfe Moskaus betrifft, so ist zwischen dem Erhalt der Staatlichkeit Syriens und dem Machterhalt des Präsidenten zu unterscheiden. Russische Regierungsvertreter betonten in der letzten Zeit mehrmals, dass es dem Kreml nicht um die Person Assads gehe, sondern um die Aufrechterhaltung Syriens als funktionierenden Staat [7]. Putin möchte mit der russischen Militäraktion die legitime Regierung stabilisieren und die Voraussetzungen für einen politischen Kompromiss schaffen [8]. Außerdem sagte Premierminister Medwedew: „Wer in Syrien regiert, entscheidet das syrische Volk“ [9]. Ein Abschied Assads von der Macht kommt für Moskau anscheinend auf der Basis von Wahlen in Betracht. Bis zu diesem Zeitpunkt sieht der Kreml in ihm den legitimen Staatspräsidenten mit dem Auftrag, die Staatlichkeit zu garantieren. Mit dieser Auffassung hebt sich Russland von den USA ab. Denn während Moskau seinem Verbündeten in einer bedrohlichen Lage den Rücken stärkt, hat Washington den ehemaligen ägyptischen Staatspräsidenten Husni Mubarak 2011 als Partner fallen gelassen.

Russland kritisiert zudem, dass die US-geführte Operation in Syrien ohne eine Resolution des UN-Sicherheitsrates durchgeführt wird. Demgegenüber stützt sich Moskau auf ein Hilfsersuchen von Staatspräsident Assad und betont, im Einklang mit dem Völkerrecht zu handeln [10].

Die Bewertung der Motive Russlands

Der Kreml zielt mit seiner Militäraktion in Syrien darauf ab, wieder auf Augenhöhe mit den USA zu agieren [11]. Der Minsker Prozess zur Regelung der Ukraine ist hierzu nur bedingt geeignet. Einerseits erweist er sich gegenwärtig als festgefahren; andererseits hat er nicht die weltpolitische Bedeutung wie die Entwicklung im Nahen Osten. Zudem wurde Moskaus globale Rolle durch den Konflikt in der Ukraine geschwächt, was nun in der Levante korrigiert werden könnte. Mit einem erfolgreichen Militäreinsatz würde Russland seine Position in der gesamten Region nachhaltig stärken. Der Kreml könnte dann eine mögliche Lösung maßgeblich beeinflussen. Denn schon heute werfen führende Experten die Frage auf, ob der Nahe Osten in der Form, wie wir ihn heute kennen, künftig Bestand haben wird [12]. Natürlich möchte Moskau bei dieser Gelegenheit, so ein Experte im Gespräch mit einer Delegation der Hanns-Seidel-Stiftung, auch seine Militärmacht beweisen, die nach seiner Ansicht der Westen unterschätzt. Dazu gehört auch die Präsentation neuester Rüstungstechnik aus russischer Produktion, die neben Rohstoffen und Atomkraftwerken als Hauptexportgüter dringend benötigte Devisen ins Land schafft.

Der Kreml geht ein hohes Risiko ein.

Durch seine Nahostpolitik fordert Wladimir Putin zum einen die Führungsrolle der Vereinigten Staaten in der Region heraus. Der russische Staatspräsident musste nach einem Bericht der Tageszeitung „Kommersant“ allerdings bereits die Grenzen seines Handelns im Irak erkennen. So konnte die US-Diplomatie der irakischen Regierung erfolgreich die Idee ausreden, sich an Moskau mit einer Unterstützungsbitte zu wenden [13]. Zum anderen geht Moskau mit einer eindeutigen Parteinahme zugunsten der schiitischen Koalition Assad-Iran-Irak-Hizbollah ein großes Risiko ein. Erstens stellt sich Russland damit gegen die regionalen sunnitischen Führungsmächte wie die Türkei und Saudi-Arabien und setzt sich so der Gefahr aus, in einen religiösen Konflikt hineingezogen zu werden. Deshalb arbeitet die russische Diplomatie intensiv an den Beziehungen zu den sunnitischen Staaten [14]. Und zweitens muss Moskau aufpassen, die 20 Millionen sunnitischen Muslime im eigenen Land nicht gegen sich aufzubringen. Damit geht der Kreml ein hohes Risiko ein, welches die schon jetzt bestehende Terrorgefahr nicht vermindern dürfte.

Ein Tauschgeschäft Naher Osten / Ukraine erscheint aus heutiger Sicht unrealistisch.

Fraglich bleibt, ob sich im Zuge der russischen Militäraktion die Beziehungen zwischen Moskau und dem Westen verbessern werden. Die Tageszeitung „RBC daily“ hält dies für möglich, falls die Operation zu einer Stabilisierung der Lage in Syrien und einem Abebben der Flüchtlingsströme führen würde [15]. Ein Tauschgeschäft Naher Osten / Ukraine erscheint aus heutiger Sicht unrealistisch. Kritische Stimmen in der Russischen Föderation schließen nicht aus, dass der Kreml Soldaten in Syrien kämpfen lässt, um die Aufmerksamkeit von der inneren Wirtschaftskrise abzulenken [16]. Sollte dem so sein, so scheint Wladimir Putins Kalkül momentan aufzugehen: Außenminister Sergej Lawrow sitzt mit seinem US-Kollegen John Kerry in Wien am prestigeträchtigen Verhandlungstisch. Dies demonstriert die wichtige Rolle Moskaus in der Weltpolitik.

Ein erster Schritt für eine Annäherung?

Russische Politiker betonen die überragende Bedeutung des Militäreinsatzes in Syrien für die Sicherheit im eigenen Land und in Zentralasien. Deshalb könnte ein intensiver Meinungsaustausch darüber zwischen dem Westen und Moskau ein erster Schritt für eine Annäherung sein. Weder Moskau noch Brüssel oder Washington müssten dafür ihre Positionen in der Ukraine-Krise aufgeben. Auffassungsunterschiede bezüglich der Ursachen der Krise im Nahen Osten ab 2011 werden bleiben. Auch aus innenpolitischen Gründen wird es Russland nicht gutheißen, dass die Bürger eines Staates erfolgreich damit sind, sich wegen innerer Missstände gegen die eigene Staatsführung zu erheben.

 

Der Autor dankt Jekaterina Grigoriewa für ihre Unterstützung bei der Erstellung des Beitrags.

Fußnoten:

[1]      Wedomosti-online vom 21.10.2015, http://www.vedomosti.ru/politics/articles/2015/10/21/613692-asad-moskvu.

[2]      Kommersant-online vom 20.10.2015, http://www.kommersant.ru/doc/2836442.

[3]      RBC daily online vom 01.10.2015, http://www.rbcdaily.ru/economy/562949997443238.

[4]      Valdaj Forum vom 19. bis 22.10.2015 in Sotschi, http://valdaiclub.com/opinion/highlights/russian-military-presence-in-syria-reasons-and-goals-/ .

[5]      Diese Vermutung äußerte der russische Außenminister, Sergey Lawrow, in einem Interview mit dem Sender HTB. Die „unehrliche Erklärung“ der Ziele sei auch der Grund, warum die westlichen Partner nicht bereit sind, die Initiative Russlands zu unterstützen. Wedomosti-online vom 13.10.2015,  http://www.vedomosti.ru/politics/news/2015/10/13/612679-lavrov-predpolozhil-chto-tselyu.

[6]     Valdaj Forum vom 19. bis 22.10.2015 in Sotschi a.a.O.

[7]     Wedomosti-online vom 21.10.2015 http://www.vedomosti.ru/politics/articles/2015/10/21/613692-asad-moskvu.

[8]     Interview mit W. Putin, veröffentlicht am 12.10.2015, http://kremlin.ru/events/president/news/50482.

[9]    Interfax vom 17.10.2015, http://www.interfax.ru/russia/473999.

[10]    Ria Novosti vom 09.10.2015, http://ria.ru/syria_mission/20151009/1299299052.html.

[11]    Nach einer aktuellen Umfrage des Levada-Instituts hat die Militäraktion in Syrien den Stolz der Russen auf ihr Land gesteigert. Wedomosti vom 02.11.2015, S. 3.

[12]    Vgl. dazu nur den aussagekräftigen Titel des Werkes „Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen“ von Volker Perthes, Suhrkamp Verlag vom 8. August 2015.

[13]    Kommersant-online vom 21.10.2015, http://www.kommersant.ru/doc/2837008.

[14]    Beispiele: Am 11. Oktober 2015 empfing Putin des saudi-arabischen Verteidigungsministers in Sotschi (Internetseite des Kremls vom 11.10.2015, http://kremlin.ru/catalog/countries/SA/events/50481). Am 3. November 2015 empfing Medwedew den Emir von Katar in Moskau (Internetseite des Kremls vom 03.11.2015, http://kremlin.ru/events/president/news/9408).

[15]    RBC daily online vom 25.09.2015, http://www.rbcdaily.ru/politics/562949997349449, RBC daily online vom 01.10.2015, http://www.rbcdaily.ru/economy/562949997443238.

[16]    RBC daily online vom 13.10.2015, http://www.rbcdaily.ru/politics/562949997631099.