Lichts ins Dunkle gebracht: Die WADA-Kommission fördert einen riesigen Sportskandal zu Tage. Von links: Richard McLaren, WADA-Chef Richard Pound und Günter Younger in Genf. Bild: Imago/Xinhua
Doping und Korruption

Erdbeben im Weltsport

Ein Enthüllungsbericht der Welt-Anti-Doping-Agentur WADA führt zu schweren Erschütterungen im gesamten Sport. Es geht um flächendeckendes und Staatsgetragenes Doping sowie Korruption an oberster Stelle. Besonders am Pranger stehen Russland und Kenia. Ex-WADA-Chef Dick Pound machte aber bereits Andeutungen, dass nicht nur diese Länder und nicht nur die Leichtathletik von dem Skandal betroffen sind.

Der Leichtathletik-Weltverband IAAF muss nach den schockierenden Ermittlungsergebnissen der Welt-Anti-Doping-Agentur WADA, die am Montag in Genf präsentiert wurden, zum nun nachweislich korrupten Sportsystem in Russland über Konsequenzen diskutieren. Die unabhängige WADA-Kommission hat den Ausschluss des russischen Leichtathletik-Verbandes aus der IAAF sowie den lebenslangen Bann von fünf Sportlern und fünf Trainern empfohlen, darunter die 800m-Olympiasiegerin von 2012, Maria Sawinowa. Die Kommission unter Leitung des früheren WADA-Chefs Richard Pound mit dem Sportrechtsexperten Richard McLaren sowie dem deutschen Kriminalbeamten Günter Younger stellte unter anderem „systematischen Dopingbetrug bei russischen Athleten“ und eine „tief verwurzelte Betrugskultur“ in der russischen Leichtathletik fest. „Russland scheint ein staatlich unterstütztes Dopingsystem unterhalten zu haben“, sagte Pound. Alles habe in Russland wahrscheinlich nur geschehen können, „weil jeder es wusste und einverstanden war.“ Die Kommission forderte, das Doping-Kontrolllabor in Moskau zu schließen und dessen Direktor abzulösen. Sie wirft dem russischen Sportminister Witali Mutko vor, er habe angeordnet, „bestimmte Dopingproben zu manipulieren.“

Russland ist nicht das einzige Land, noch ist Leichtathletik die einzige Sportart, die das Problem orchestrierten Dopings hat.

WADA-Bericht

Doch das Schlimmste kommt noch, vermutet der Kanadier: „Wir haben erst die Spitze des Eisbergs gesehen.“ Es gibt laut dem Bericht verlässliche Anzeichen dafür, dass über die Leichtathletik hinaus Doping den gesamten Sport in Russland kompromittiere – was Sportinteressierte kaum überraschen dürfte. Doch der Auftrag der Kommission war auf die Leichtathletik begrenzt. Der eigentliche, wenn auch ebenfalls wenig überraschende Hammer des Berichts ist dieser Satz, für den offenbar konkrete Hinweise vorliegen: „Russland ist nicht das einzige Land, noch ist Leichtathletik die einzige Sportart, die das Problem orchestrierten Dopings hat.“

Dies ist eine ganz neue Dimension von Korruption im Vergleich zur FIFA. Dieser Report wird den Sport grundlegend verändern.

Richard McLaren, WADA-Kommission

 

„Dies ist eine ganz neue Dimension von Korruption im Vergleich zur FIFA. Dieser Report wird den Sport grundlegend verändern“, sagte der Anwalt Richard McLaren, der in der WADA-Kommission mitarbeitete und auch für den Internationalen Sportgerichtshof CAS tätig ist. Er wirkte auch an der Aufklärung des flächendeckenden Dopings in der amerikanischen Profi-Baseballliga mit und steht damit nicht im Verdacht, einseitig gegen Russland zu agieren. „Bei der FIFA haben sich alte Männer viel Geld in die Taschen gesteckt. Hier haben sich alte Männer Geld in die Taschen gesteckt, mit Erpressung und Schmiergeldern – vor allem aber haben sie massiv in Ergebnislisten und Wettkämpfe eingegriffen“, so McLaren weiter. Die WADA selbst wird darüber entscheiden müssen, ob sie der Empfehlung der unabhängigen Kommission, dem in dem Bericht ebenfalls belasteten Dopingkontroll-Labor in Moskau die Akkreditierung zu entziehen, nachkommt. Laborleiter Grigori Rodschenkow gab zu, die Beseitigung von 1417 Dopingproben angewiesen zu haben. Dies geschah laut Pound, kurz bevor die WADA-Ermittlungsgruppe eintraf. Weitere Manipulationen konnten angeblich durch die Ermittler verhindert werden. Ein zweites, geheimes und baugleiches Labor hat laut dem Bericht offenbar dazu gedient, Dopingproben vorzutesten und verdächtige Athleten aus der Schusslinie der Dopingkontrolleure zu nehmen.

Ein Netz des Schweigens gerät unter Druck

In einer ersten Stellungnahme auf den 323 Seiten langen Bericht hatte die IAAF selbst mitgeteilt, einen „provisorischen und kompletten Ausschluss“ Russlands und damit ein Startverbot russischer Athleten bei künftigen IAAF-Veranstaltungen zu erwägen. Russlands Leichtathleten droht damit auch der Ausschluss von den Olympischen Spielen im nächsten Jahr in Rio de Janeiro. Der neue IAAF-Präsident Sebastian Coe gab den Russen bis zum Wochenende Zeit, auf den Report zu antworten. Auslöser der Ermittlungen war die ARD-Fernsehdokumentation „Geheimsache Doping“ im vergangenen Dezember, die ausdrücklich von WADA-Chef Pound gelobt wurde. Diese berichtete über systematischen Betrug in Russland, gefördert von der Regierung und geduldet von der IAAF. Mitarbeiter der WADA haben laut Medienberichten den ARD-Reporter Hajo Seppelt erst auf zwei russische Kronzeugen aufmerksam gemacht, die Top-Läuferin Julia Stepanowa und ihren Mann Witali, Mitarbeiter bei der russischen Anti-Doping-Agentur Rusada. Sie steuerten die wichtigsten Erklärungen sowie Bilddokumente und heimliche Tonmitschnitte mit russischen Sportlern und Trainern für den Bericht bei. Das Paar verließ vorsichtshalber samt Kind vor der deutschen TV-Ausstrahlung Russland und blieb einige Monate in Berlin. Der Grund, warum sich die WADA laut den genannten Mitarbeitern nicht selbst um die Whistleblower kümmerte, ist wiederum bedenklich: Angeblich hat der Anfang 2014 zum Agentur-Präsidenten aufgestiegene Brite Craig Reedie wenig Interesse an den Kronzeugen und dem russischen Doping-System gezeigt, meldete die FAZ.

Voraussichtlich wird das IAAF-Council auf seiner schon länger terminierten Sitzung am 26./27. November in Monte Carlo Entscheidungen treffen. Auf der Tagesordnung wird auch der mit dem Dopingskandal verbundene Korruptionssumpf um den bis vor wenigen Monaten amtierenden IAAF-Präsidenten Lamine Diack stehen, der von der französischen Justiz wegen Bestechlichkeit und Geldwäsche angeklagt wurde. Der 82-jährige Senegalese soll zusammen mit seinen Söhnen und zwei Vertrauten zahlreiche Doping-Fälle gegen Bezahlung vertuscht und damit laut der französischen Staatsanwältin Eliane Houlette mehr als eine Million Euro verdient haben. Das Diack-Prinzip bei ertappten Dopingsündern in der Leichtathletik war einfach: Wer zahlte, der durfte unbehelligt weiter Sport treiben. Die Sommerspiele 2012 waren laut Pound „vermutlich sabotiert“ von einer „Laissez-Faire-Politik der IAAF“, die verdächtige Blutwerte russischer Athleten sowie der Türkin Asli Alptekin vor den Spielen nicht ausreichend verfolgte. Und der russische Verband ARAF habe Dopingfälle nicht sanktioniert. Die Türkin wollte jedenfalls laut Bericht nicht an Diack zahlen, wurde später für acht Jahre wegen Dopings gesperrt und verlor ihre Goldmedaille.

Die Zuschauer müssen glauben, dass die Leistungen im Stadion auf legalem Weg zustande kommen.

Lord Sebastian Coe, neuer IAAF-Chef

„Das sind alarmierende Informationen“, entsetzte sich jetzt Diacks Nachfolger Coe. „Wir benötigen Zeit, um die detaillierten Ergebnisse des Berichtes vollständig zu verarbeiten und zu verstehen.“ Er hatte den Senegalesen immer als seinen „geistigen Präsidenten“ unerträglich belobhudelt und gegen alle anderen Skandale der Vergangenheit verteidigt. Die ARD-Dokumentation wurde von Coe damals gar als „Kriegserklärung“ bezeichnet. Jetzt behauptete der Brite, immerhin acht Jahre IAAF-Vizepräsident, „keine Kenntnis“ von den Vorgängen gehabt zu haben. Es war daher klar, dass von Coes Seite wenig Hilfreiches kommen wird: Eine unabhängige Kommission und die IAAF-Ethikstelle soll nun ermitteln, offenbar aber nicht gegen Diack. Das ist dann etwa so erfolgreich, wie wenn der Fuchs das völlig unerklärliche Verschwinden von Hühnern aus dem Stall aufklären soll, noch dazu ohne dabei den Dieb zu suchen. Nach seiner Wahl im August hatte Lord Coe noch vollmundig erklärt: „Unser höchstes Gut ist Glaubwürdigkeit. Die Zuschauer müssen glauben, dass die Leistungen im Stadion auf legalem Weg zustande kommen. Die Eltern müssen glauben, dass sie ihre Kinder einem Sport anvertrauen, in dem ihnen kein Schaden zugefügt wird.“ Liest man diese Sätze allerdings zweimal, so scheint die Betonung auf „müssen glauben“ schon fast wie der Versuch einer Hypnose. Denn eigentlich müsste es doch heißen: „Die Zuschauer dürfen sich weitgehend sicher sein, dass nicht gedopt wird, weil wir so scharf kontrollieren.“

Das IOC will Konsequenzen ziehen

Das Internationale Olympische Komitee (IOC) wird untersuchen, welche Auswirkungen die Enthüllungen über das russische Sportsystem und die Bestechungsaffäre um Diack für die vergangenen Sommer- und Winterspiele gehabt haben könnten. Unter Leitung von Präsident Thomas Bach wird das IOC-Exekutivkomitee Anfang Dezember in Lausanne tagen. Das IOC erklärte in einer Stellungnahme: „Das ist ein zutiefst schockierender Report und sehr traurig für den Weltsport“. Man vertraue der neuen IAAF-Führung um seinen Präsidenten Coe, dass sie alle notwendigen Schlussfolgerungen trifft und erforderlichen Maßnahmen zur Aufklärung einleitet. Die IOC-Ethikkommission hat bereits die Suspendierung des IOC-Ehrenmitglieds Diack empfohlen. Man darf gespannt sein, ob das IOC die offensichtlich vorliegenden Hinweise auf Staatsdoping in anderen Sportarten und Ländern aufgreift und verfolgt.

Das Vertuschen hat im Sport System.

All zu viel Aufklärung sollte man vom Weltsport aber nicht erwarten: Viele Sponsoren und Sportfunktionäre aus vielen Sportarten kommen aus Russland. Dazu kommen die üblichen Verdächtigen aus „Hochleistungs“-Ländern wie China, USA, Jamaika, Kenia, Türkei, Katar oder Spanien. Im Übrigen ist auch Deutschland in dieser Hinsicht keine Insel der Seligen, wie die Fußball-WM 2006 zeigt. Zu viel Skandale aber kosten Sponsorengelder, die man natürlich lieber unter den Funktionären, pardon, für den Sport verteilt. Und das Vertuschen von Korruption und Dopingfällen hat im Sport System, das zeigen unter anderem die Fälle des Weltfußballverbandes FIFA und des Weltradsportverbandes UCI sowie die in Spanien weitgehend (noch?) unaufgeklärte Affäre um den Doping-Doktor Eufemiano Fuentes. Dieser hatte laut eigener Aussage neben Radsportlern mehrheitlich Athleten aus anderen Sportarten betreut, insbesondere Leichtathleten und Fußballspieler.

Die Polizei als einziger Helfer?

Auch Interpol und die französische Staatsanwaltschaft ermitteln nun in dem Leichtathletik-Fall, da ihnen die Kommission Daten und Beweise übergeben hat. Gegen Lamine Diack ist bereits von der französischen Justiz Anklage wegen Bestechlichkeit und Geldwäsche erhoben worden.

Insgesamt sollen sich nach unbestätigten Berichten acht russische Athleten gegen hohe Summen von einer möglichen Sperre freigekauft haben und bei den London-Spielen 2012 am Start gewesen sein, berichtete zuletzt die Zeitung „Sunday Times„. Einer dieser Sportler soll Olympiasieger geworden sein, ein weiterer habe eine Silbermedaille gewonnen. Russland reagierte wie immer, wenn es in der Kritik steht, und wies die Anschuldigungen als „politisch motiviert“ zurück. Sportminister Mutko sagte, man habe die 1417 Proben auf Geheiß der WADA vernichtet. „Ja, wir haben Probleme, aber wir haben sie auch nie verschwiegen“, sagte er immerhin auf die Frage nach Doping im russischen Sport.