EU-Gipfel will Migrantenstrom bremsen
Viel Streit und 17 Maßnahmen auf dem Brüsseler Balkan-Gipfel: Entlang der Balkan-Route sollen 100.000 Aufnahme-Plätze für Migranten entstehen. Problem: Die Migranten wollen sich gar nicht aufhalten lassen. Alle Gipfelteilnehmer sind sich einig, dass die Völkerwanderung nur an einer Stelle eingedämmt werden kann: an der griechisch-türkischen Grenze. Nur wie, weiß niemand.
Balkan-Route

EU-Gipfel will Migrantenstrom bremsen

Viel Streit und 17 Maßnahmen auf dem Brüsseler Balkan-Gipfel: Entlang der Balkan-Route sollen 100.000 Aufnahme-Plätze für Migranten entstehen. Problem: Die Migranten wollen sich gar nicht aufhalten lassen. Alle Gipfelteilnehmer sind sich einig, dass die Völkerwanderung nur an einer Stelle eingedämmt werden kann: an der griechisch-türkischen Grenze. Nur wie, weiß niemand.

Unglaubliche Töne nach dem Brüsseler Krisengipfel der Länder entlang der Balkan-Route, der eigentlich Spannungen entschärfen sollte: In einem Zeitungsinterview warf Kroatiens Innenminister Ranko Ostojic den slowenischen Nachbarn vor, immer noch schlecht organisiert zu sein und Tausende Migranten zu langsam nach Deutschland weiterzuleiten. Slowenische Drohungen, notfalls ebenfalls einen Zaun bauen zu wollen, seien sinnlos, so der Minister: „Wenn Ihr nicht bereit seid, auf die Leute zu schießen, dann wird der Zaun niemanden aufhalten.“ Ostojic weiter: „Ich werde mich an die Spitze der Flüchtlingskolonne setzen, und wenn dann einer schießen will, dann soll er doch auf mich schießen.“

Ich werde mich an die Spitze der Flüchtlingskolonne setzen.

Kroatiens Innenminister Ranko Ostojic

Kroatiens Innenminister als bekennender Schlepper und Schleuser, der sogar eine Grenzsperre überrennen will. Die Migranten-Zahlen an Sloweniens Grenze danach: Allein am Sonntag – am Tag des Brüsseler Krisengipfels – luden die Kroaten wieder 9800 Migranten vor der slowenischen Grenze ab – die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt sogar von 15.000. Zum Wochenbeginn waren es schon wieder mehrere Tausend. Das bekamen sofort auch die Bundespolizisten an der bayerisch-österreichischen Grenze zu spüren: Etwa 15.000 Migranten kamen am Wochenende über die Grenze – 6000 am Samstag, 9000 am Sonntag. Österreich schicke deutlich mehr Migranten nach Deutschland als vereinbart, klagte am Sonntagabend ein Sprecher der Bundespolizei. Im bayerischen Innenministerium spricht man von „ungebremst hohem Migrationsdruck“.

100.000 Aufnahme- und Ruheplätze für Migranten entlang der Balkan-Route

Nach heftiger Aussprache beschlossen die Regierungschefs der entlang der Balkan-Route gelegenen EU-Staaten und der Nicht-EU-Länder Mazedonien, Serbien, Albanien, einen Plan mit 17 praktischen Maßnahmen: Unter anderem verpflichten sich alle Länder zum flüssigen Informationsaustausch über den Migrantenstrom; das überforderte Slowenien soll von außen 400 erfahrene Grenzschützer erhalten; die EU-Grenzschutzagentur Frontex soll die Grenzen zwischen Mazedonien und Griechenland sowie zwischen Kroatien und Serbien besser absichern.

Die Menschen auf der Balkan-Route müssen menschlich behandelt werden.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker

Wichtigste Maßnahme: Entlang der gesamten Balkan-Route sollen 100.000 Aufnahme- und Ruheplätze für die Flüchtlinge eingerichtet werden. „Die Menschen auf der Balkan-Route müssen menschlich behandelt werden“, forderte Gipfel-Gastgeber und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Die Hälfte der Plätze soll in Griechenland entstehen − 30.000 bis Jahresende und 20.000 weitere im kommenden Jahr. Wo benötigt, sollen Zelte, Decken und anderes Material geliefert werden. Auch ein wichtiger Punkt: Die EU soll die Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern aus Afghanistan, Pakistan und Bangladesch forcieren und beschleunigen. Dazu muss Brüssel aber zunächst möglichst schnell ein Rückführungsabkommen mit Kabul schließen.

Die EU soll die Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern aus Afghanistan, Pakistan und Bangladesch forcieren und beschleunigen.

Alle Maßnahmen sollen den Migrantenstrom bremsen, koordinieren und lenken. „Eine Politik des Durchwinkens von Flüchtlingen ohne die Nachbarstaaten zu informieren, ist nicht akzeptabel“, heißt es im Gipfelpapier. Kommissionspräsident Juncker: „Flüchtlinge müssen registriert werden. Keine Registrierung, keine Rechte.“ Ob das funktioniert, muss sich zeigen. Die provokante Sprache von Kroatiens Innenminister Ostojic am Tag nach dem Gipfel weckt Zweifel. Zagreb scheint nach wie vor nur ein Ziel zu haben: Die Migranten so schnell wie möglich durchzuschleusen. Kroatien werde Flüchtlinge nicht über längere Zeit aufnehmen, hatte Ministerpräsident Zoran Milanovic vor der Konferenz eigens betont. Und: Er werde keinerlei Verpflichtungen für Kroatien übernehmen.

Die Maßnahmen sollen den Migrantenstrom bremsen − aber die Migranten haben nicht die geringste Neigung, sich irgendwo aufzuhalten oder aufhalten zu lassen.

Aber auch aus anderem Grund sind manche der Vereinbarungen problematisch: Bei den aktuellen Migrantenzahlen wären die 100.000 Aufnahmeplätze entlang der Balkan-Route wohl schon nach ein oder zwei Wochen gefüllt. Zu erwarten ist auch, dass eine „menschliche“ (Juncker) und sozusagen winterfestere Balkan-Route noch mehr Migranten anlockt und den Migrantenstrom nicht bremst, sondern beschleunigt. Dazu kommt, dass die Migranten nicht die geringste Neigung haben, sich irgendwo aufzuhalten oder aufhalten zu lassen. Das zeigen sie an jeder Grenze. Und schließlich gibt es aus der Türkei kein Zeichen, dass Ankara vor habe, die türkischen Grenzen wieder zu schließen und die illegalen Grenzübertritte zu beschränken. EU-Flüchtlingskommissar Johannes Hahn sprach denn auch in Brüssel schon warnend von derzeit 20 Millionen Flüchtlingen in Europas mittelöstlichem Hinterhof.

Bittere Aussprache

Vor den Beschlüssen müssen auf dem Krisengipfel die Fetzen geflogen sein. Juncker beschwor die drohende humanitäre Krise im Winter: „Jeder Tag zählt.“ Sloweniens Premierminister Miro Cerar beschrieb den Druck, der mit 12.000 Migranten pro Tag auf seinem kleinen Land laste und griff den Nachbarn Kroatien an. Cerar:„Wenn wir nicht in den nächsten paar Tagen und Wochen zu sofortigen und konkreten Maßnahmen vor Ort kommen, dann werden, glaube ich, die EU und Europa insgesamt auseinanderfallen.” Auch Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann warnte vor der „langsamen Auflösung der EU“. Sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel soll die Sorge ausgedrückt haben, dass die EU in Gefahr geraten könnte.

Wenn wir nicht in den nächsten paar Tagen und Wochen zu sofortigen und konkreten Maßnahmen vor Ort kommen, dann werden, glaube ich, die EU und Europa insgesamt auseinanderfallen.

Sloweniens Premierminister Miro Cerar

Kroatiens Premier Milanovic nahm Athen  in den Blick: „Warum kontrolliert Griechenland nicht seine Seegrenze mit der Türkei?“ Eine gute Frage, bestätigte später ein EU-Vertreter, den die Frankfurter Allgemeine Zeitung zitiert: „Es ist inakzeptabel, dass ein Land mit so hohen Verteidigungsausgaben keine Patrouillen an seinen Seegrenzen machen kann.“ Zumal es von der EU mehrere hundert Milliarden an Rettungsgeldern erhalten hat, hätte er hinzufügen können. Das Problem müsse an der griechisch-türkischen Grenze gelöst werden, hieß es von den meisten Gipfelteilnehmern.

Es ist inakzeptabel, dass ein Land mit so hohen Verteidigungsausgaben wie Griechenland keine Patrouillen an seinen Seegrenzen machen kann.

EU-Vertreter

Drohungen mit Zäunen und Grenzschließungen

Ungarns Premierminister Viktor Orban verwies auf Ungarns fertiggestellte und sehr effektive Grenzzäune, dank denen sein Land nicht mehr Teil der Balkan-Route sei. Orban wollte sich darum nur als Gipfelbeobachter sehen. Der Serbe Aleksandar Vucic kam mit der Frage nach Brüssel: „Was machen wir denn jetzt mit Hunderttausenden von diesen Leuten?“ Serbien sei ein Transitland: „Wir können uns nicht für immer um diese Leute kümmern.“ In der Wiener Kronenzeitung griff Österreichs Innenministerin Johanna Mikl-Leitner unterdessen Deutschland an, weil es derzeit einfach zu wenige Migranten aufnehme. Wenn der Flüchtlingsstrom nach Griechenland nicht aufgehalten würde, müsse man damit rechnen, dass Slowenien an seiner kroatischen Grenze einen Zaun baue, so die ÖVP-Ministerin.

Wenn Deutschland und Österreich und andere Länder ihre Grenzen schließen, dann werden wir genau im gleichen Moment bereit sein, auch unsere Grenzen zu schließen.

Bulgariens Ministerpräsident Bojko Borissow

Aufschlussreich: Bulgarien, Rumänien und Serbien haben nur eine Sorge: dass Deutschland, Österreich und andere Länder ihre Grenzen schließen. „Dann sind wir bereit, genau im gleichen Moment auch unsere Grenzen zu schließen“, drohte Bulgariens Premier Bojko Borissow. Der Londoner Tageszeitung The Daily Telegraph zufolge warnten die drei Länder, dass sie es nicht hinnehmen würden, sich sozusagen zur „Puffer-Zone“ für den Migrantenstrom machen zu lassen. Die Kommission nimmt das offenbar ernst. „Unilaterale Handlungen können eine Kettenreaktion hervorrufen”, warnte sie vor dem Gipfel. Soviel zur These: Zäune wirken nicht und Grenzen kann man nicht schließen.