Der Eiserne Vorhang fällt: Österreichische Grenzbeamte öffnen am 19. August 1989 ein Grenztor zu Ungarn. (Bild: picture alliance/dpa/Votava)
1989

Das Tor in die Freiheit

Gastbeitrag Vor 30 Jahren öffnete Ungarn den Eisernen Vorhang. Der CSU-Politiker Bernd Posselt erinnert an das legendäre Paneuropa-Picknick an der österreichisch-ungarischen Grenze und seine Vorgeschichte. Aus dem BAYERNKURIER-Magazin.

Vor 40 Jahren fand die erste Direktwahl zu einem Europäischen Parlament statt, für das damals auch der österreichische Kaisersohn und Präsident der Paneuropa-Union, Otto von Habsburg, kandidierte, dessen engster Mitarbeiter ich war. Auf Wunsch von Franz Josef Strauß und Otto von Habsburg wurde ins erste CSU-Wahlkampfprogramm der Geschichte, das Erlanger Manifest, ein eigener Punkt „Verantwortung für die unterdrückten Völker“ aufgenommen. Darin heißt es: „Für die CSU ist Europa mehr als die Europäische Gemeinschaft. Die freien Völker im Westen unseres Kontinents gehören ebenso dazu wie die ihrer Freiheit beraubten Völker und Volksgruppen im Osten und Südosten. Deshalb ist es Pflicht der freien Europäer, sich stets ihrer Verantwortung für die unfreien europäischen Mitbürger bewußt zu sein. Für die CSU ist die Freiheit Europas unteilbar.“ Die Unterdrückung der Menschenrechte in den kommunistischen Ländern sei „eine Herausforderung der freien Europäer, die von diesen angenommen werden muß“.

Proteste in Osteuropa

Diese Haltung bestimmte fortan nicht nur die Politik der CSU-Abgeordneten im Europäischen Parlament, sondern fand dort eine, wenn auch knappe, Mehrheit. So wurde auf Antrag von Otto von Habsburg eine Entschließung verabschiedet, im Straßburger Plenum einen leeren Stuhl aufzustellen als Symbol für das Recht der kommunistisch unterdrückten Mittel- und Osteuropäer, künftig ebenfalls am europäischen Einigungsprozess in Freiheit teilzunehmen.

Bereits vor 40 Jahren formulierte Franz Josef Strauß: ‚Für die CSU ist die Freiheit Europas unteilbar.‘

Bernd Posselt

Dieser Protest gegen die Stacheldrähte und Minenfelder, die mitten durch Deutschland und Europa verliefen, fand starken Widerhall bei den verbotenen Bürgerrechtsbewegungen im sowjetischen Machtbereich. Diese wurden in den Achtzigerjahren immer stärker – ob es sich um die „Singende Revolution“ im Baltikum, die polnische Gewerkschaft „Solidarität“, die „Charta 77“ in der Tschechoslowakei oder das „Demokratische Forum“ in Ungarn handelte. Deren führende Repräsentanten wanderten zwar vielfach in besonders grausame Lager und Gefängnisse, ihr Freiheitswille war aber nicht zu brechen, und sie vernetzten sich grenzüberschreitend.

Ungarns zentrale Rolle

Ich hatte damals in der Paneuropa-Union, der ältesten europäischen Einigungsbewegung, die die Teilung Deutschlands und Europas niemals anerkannt hatte, die Aufgabe, mit allen diesen verbotenen, aber sehr lebendigen Menschenrechtsgruppen konspirativ den Kontakt zu pflegen. Am besten ging das in Ungarn, das auch eine unangenehme kommunistische Diktatur war, aber wegen einer gewissen, relativen Liberalität den Spitznamen „fröhlichste Baracke des Ostblocks“ trug. Die Regimegegner aus den anderen kommunistischen Ländern gingen gerne dorthin in Urlaub, um mit uns, ihren Partnern im Westen, heimlich in Verbindung zu treten.

Nicht nur dadurch spielten die Ungarn bei der Befreiung Mittel- und Osteuropas ab 1989 eine zentrale Rolle, die tiefe historische Wurzeln hatte. Sie waren schon unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg mit einer marxistischen Schreckensherrschaft konfrontiert. 1919 wollte Lenin den Aufbau eines demokratischen Europa verhindern, indem er, wo immer es möglich war, vor allem aber in Bayern und in Ungarn danach trachtete, kommunistische Systeme zu etablieren. Damals wandte sich ein ungarndeutscher Priester namens Josef Pehm gegen das von Lenin unterstützte Terrorregime des Budapester Revolutionsführers Béla Kun, wofür er prompt inhaftiert wurde. Aus innerer Ablehnung gegen den Nationalsozialismus nahm Pehm dann zu Beginn des Zweiten Weltkriegs einen ungarisch klingenden Namen an und nannte sich nach seinem Geburtsort Mindszenty.

Wir sterben für die Freiheit Europas!

Letzte Worte der ungarischen Freiheitskämpfer 1956

Zum Kardinal erhoben, kämpfte er sowohl gegen die nationalsozialistischen Judenverfolgungen als auch nach Kriegsende gegen die Etablierung einer marxistischen Diktatur sowie gegen die Vertreibung der Donauschwaben. Nach jahrelangen Verhören mit schwerer Folter wurde er 1949 in einem kommunistischen Schauprozess wegen „Verschwörung mit Otto von Habsburg“ zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt. Während des ungarischen Volksaufstands 1956 befreit und im Triumphzug nach Budapest gebracht, musste er bei der Niederschlagung dieser proeuropäischen Revolution in die amerikanische Botschaft fliehen, wo er jahrelang lebte, bis ihn der Vatikan zwang, gegen seinen Willen nach Österreich zu emigrieren.

Sein Widerstand gegen die verschiedenen totalitären Systeme hat ihn über seinen Tod hinaus zu der Symbolfigur schlechthin für das christliche Europäertum der Ungarn gemacht, zumal auch die demokratische Revolution des ungarischen Volkes von 1956, die dann von sowjetischen Panzern niedergeschlagen wurde, völlig auf Europa ausgerichtet war. Die letzten Worte der ungarischen Freiheitskämpfer, die sich mit einem geheimen Radiosender irgendwo auf dem Land versteckt hatten, lauteten ganz in diesem Sinne: „Wir sterben für die Freiheit Europas!“

Der Geist des Widerstands

Dieser Geist wurde im Vorfeld des Wendejahres 1989 trotz der starken Präsenz der Roten Armee in Ungarn wieder sehr lebendig. Er erfasste auch den Reformflügel des Regimes mit Ministerpräsident Miklós Németh und seinem Innenminister Imre Pozsgay an der Spitze. Letzterer hatte sich, ungeachtet der ständigen Bedrohung durch den Geheimdienst KGB der sowjetischen Besatzungsmacht, nahezu todesmutig ein eigenständiges politisches Profil erarbeitet. Bereits 1988 nannte er die Grenzanlagen zu Österreich „technisch, moralisch und historisch“ überholt und titulierte im Mai 1989 die Berliner Mauer „eine Schande“.

Aufgrund dieser Haltung übernahm er gemeinsam mit Otto von Habsburg im Sommer 1989 die Schirmherrschaft für das Paneuropa-Picknick, das schließlich zum Ausgangspunkt der Beseitigung des Eisernen Vorhanges wurde. Am Anfang dieses weltgeschichtlichen Ereignisses stand der ostungarische Oppositionelle gegen den Kommunismus Lukacs Szabó. Er entwickelte im Gespräch mit Otto von Habsburg die Idee eines die Grenze nach Rumänien überschreitenden Protest-Picknicks. Das Bukarester Regime traute den Genossen in Budapest nämlich nicht mehr zu, den Eisernen Vorhang zu Österreich auf Dauer geschlossen zu halten, und wollte daher einen hohen Zaun zu seinen ungarischen Nachbarn errichten, was diese zutiefst empörte.

Gulasch an der Grenze

Als dann aber tatsächlich vom Abbau der Stacheldrähte und Minenfelder zwischen Ungarn und Österreich die Rede war, wurde das Projekt im Osten auf das nächste Jahr verschoben und das Fest für 1989 kurzerhand zur westlichen Sektion des Demokratischen Forums in der Region um Ödenburg (Sopron) verlegt. Dies löste in Sicherheitskreisen große Nervosität aus, da rings um Budapest Tausende von Ausreisewilligen DDR-Bürgern in Lagern der Caritas und der Diakonie ausharrten. Ich hatte damals die Aufgabe, für die Paneuropa-Union die Verhandlungen über eine Grenzöffnung von etwa sechs Stunden zu führen, und weiß deshalb, dass die ungarische Regierung zutiefst gespalten war. Innenminister Pozsgay sagte „Ja“, der später vielfach ausgezeichnete Außenminister Gyula Horn hingegen „Nein“, weil er die Reaktion Moskaus fürchtete.

Als sich ein Holztor nach Österreich öffnete, stürmten 661 Deutsche aus der damaligen ‚DDR‘ in die Freiheit.

Bernd Posselt

Am 19. August war es schließlich so weit: Die westungarischen Freiheitskämpfer organisierten ein Fest mit Gulasch und Musik, Walburga von Habsburg hielt im Auftrag ihres Vaters eine Rede, Hans Kijas vom Münchener Paneuropa-Büro pflanzte auf den verwaisten Wachttürmen Paneuropa-Fahnen auf, und als sich schließlich ein Holztor nach Österreich zu öffnen begann, stürmten 661 Deutsche aus der damaligen „DDR“ in die Freiheit. Die ungarische Grenzpolizei beschloss, nicht zu schießen, und das von manchen befürchtete Blutbad fand Gott sei Dank nicht statt. Obwohl der Eiserne Vorhang noch einmal geschlossen wurde, löste das Picknick vom Baltikum bis zum Balkan Massendemonstrationen aus, und im Herbst war die Teilung Deutschlands und Europas Geschichte.

Zuvor hatte der Ostberliner Diktator Erich Honecker noch einmal einen sehr skurrilen Kommentar zu all diesen Vorgängen abgegeben. Gegenüber dem „Daily Mirror“ behauptete der greise DDR-Staatsratsvorsitzende: „Habsburg verteilte in weiten Teilen Polens (sic!) Flugblätter, auf denen er alle DDR-Touristen zu einem Picknick einlud. Wer erschien, wurde bewirtet, mit Präsenten und D-Mark beschenkt und überredet, sich auf den Weg in den Westen zu machen.“

Helmut Kohl hingegen erkannte, dass sich nach dem Paneuropa-Picknick die Wiedervereinigung Deutschlands und Europas am Horizont abzeichnete. Ganz in diesem Sinn sagte er: „Der Boden unter dem Brandenburger Tor ist ein Stück ungarischer Boden.“

Der Autor

Bernd Posselt ist Präsident der Paneuropa-Union Deutschland.