Das Straßburger Münster ist ein eindrucksvolles Symbol des christlichen Abendlandes. (Foto: Imago)
Glaube

Die Kirche, der Staat und die Menschenwürde

Gastbeitrag Aus dem BAYERNKURIER-Magazin: Viele Politiker in Europa wollen Religion und Politik strikt trennen. Sie vergessen dabei, dass wesentliche Errungenschaften des Kontinents auf dem christlichen Glauben beruhen.

Die Zerrissenheit Europas beim Thema Staat und Kirche wird in der europäischen Parlamentshauptstadt Straßburg in besonderer Weise sichtbar. Einerseits ist das schöne moderne Gebäude der Europäischen Volksvertretung von seinen Architekten bewusst auf einen Dialog mit dem Straßburger Münster als Symbol des christlichen Abendlandes ausgerichtet. Auf jedem Stockwerk und im Hof finden sich Durchbrüche, die den Blick hin zur Kathedrale öffnen, und die Säulen im Haupttrakt vor dem Plenarsaal haben ein Kreuz als Grundriss, um deutlich zu machen, dass das Christentum zu den geistigen Fundamenten unserer europäischen Kultur und Identität gehört. In der Apsis des Münsters finden sich wiede-rum die zwölf Sterne auf blauem Grund, die zum Symbol und zur Fahne Europas wurden.

In deutlichem Gegensatz dazu steht der strikte Laizismus der Parlamentsverwaltung und etlicher Abgeordneter auf der linken und liberalen Seite des Hauses. Er drückt sich schon darin aus, dass der Andachtsraum lange Zeit mittels eines Yoga-Männchens ausgeschildert war und nach der Messe, die jede Plenarwoche stattfindet, alle christlichen Symbole wieder in einem Schrank zu verschwinden haben. Die Gottesdienste der verschiedenen Konfessionen dürfen nicht von den Kirchen selbst angemeldet werden, sondern ein Abgeordneter muss als Veranstalter auftreten. Diese Aufgabe übernahmen in den letzten Jahren für die Katholiken der polnische Kollege Jan Olbrycht und ich.

Die Würde des Einzelnen

Straßburg ist als Sitz des Europaparlamentes und des Europa-rates nicht nur die Hauptstadt des parlamentarischen, des menschenrechtlichen, des regionalistischen und des kulturellen Europa, sondern auch eine multireligiöse Metropole. Der Katholizismus des Heiligen Römischen Reiches und des alten Frankreich, die Reformation, zu deren Zentren die Stadt gehörte, und das Judentum mit der zweitgrößten israelitischen Kultusgemeinde in Frankreich sind bis heute prägend. Hinzu kommen die Bemühungen vieler Straßburger Muslime und ihrer Gesprächspartner auf christlicher und liberaler Seite, an Rhein und Ill eine europäische und antifundamentalistische Imam-Ausbildung zu etablieren. Der brutale Anschlag auf den Straßburger Weihnachtsmarkt hat deutlich gemacht, wie brennend aktuell diese Thematik ist.

Immer wieder hört man, die Trennung von Religion und Politik sei in besonderer Weise ein Charakteristikum Europas. Politik und Religion lassen sich aber nicht so einfach von-einander abschotten, denn sie betreffen jeweils den ganzen Menschen.
Politik ist in erster Linie Befassung mit der Wirklichkeit, und es ist von erheblicher Bedeutung für jeden, der das Gemeinwesen gestaltet, ob er Gott für eine Wirklichkeit hält oder nicht – und ob der Mensch ein Geschöpf Gottes ist oder nur eine Anhäufung von Zellen. Die Lehre von der Gottes-ebenbildlichkeit des Menschen hat den zutiefst europäischen Grundsatz von der universalen Menschenwürde erst ermöglicht, die zuvor keine Weltkultur kannte. Die unantastbaren Menschenrechte, von denen die EU-Grundrechtecharta und das deutsche Grundgesetz ausgehen, entspringen der Auffassung, dass jeder Einzelne eine Würde besitzt, die ihm kein Staat, keine Klasse und keine Rasse gegeben haben und die sie ihm daher auch nicht nehmen dürfen.

Der Gründer der Paneuropa-Bewegung, Richard Coudenhove-Kalergi, hat dies so formuliert: „Der Mensch ist ein Geschöpf Gottes. Der Staat ist ein Geschöpf des Menschen. Darum ist der Staat um des Menschen willen da – und nicht der Mensch um des Staates willen.“ Genau darin liegt der Sinn des Gottesbezuges in unserer deutschen Verfassung. Er soll die staatliche, die politische und die allgemeinmenschliche Willkür begrenzen. Kardinal Reinhard Marx fasste dies anlässlich der Fraktionssitzung der Europäischen Volkspartei in München in einem einzigen klassischen Satz zusammen: „Der Mensch ist nicht Gott.“

Freiheit braucht den Glauben

Es ist die Stärke der christlichen Soziallehre, aus der heraus sich die C-Parteien entwickelt haben, dass sie Glaubende und Nichtglaubende auf der Grundlage dieses auch von der Antike stark beeinflussten christlichen Menschenbildes integriert und so der säkularen Gesellschaft ein stabiles Wertefundament bietet. Der große Liberale des 19. Jahrhunderts, Alexis de Tocqueville, hielt eine Demokratie nur auf diese Weise für verwirklichbar: „Der Despotismus kommt ohne Glauben aus, die Freiheit nicht.“

Auch nach Tocquevilles Ansicht zu trennen sind hingegen Staat und Kirche. Dies ist die wirkliche Errungenschaft der europäischen Geschichte und maßgeblich für die Entwicklung freiheitlicher Systeme. Zweifellos hat der Staat immer wieder die Kirche und die Kirche immer wieder den Staat für machtpolitische Zwecke missbraucht. Dies hat sich für beide Seiten oftmals zerstörerisch und verheerend ausgewirkt und ist außerdem unchristlich. Im Evangelium heißt es nach Matthäus 22,21: „So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!“ Im Hochmittelalter nahm der Heilige Thomas von Aquin in seinem Sentenzenkommentar darauf Bezug: „In Dingen, die das Heil der Seelen betreffen, muss man mehr der geistlichen als der weltlichen Gewalt gehorchen. In jenen Dingen aber, die die bürgerliche Wohlfahrt betreffen, muss man … mehr der weltlichen als der geistlichen Gewalt gehorchen.“

Gefahr geistiger Leerräume

Dem entspricht das partnerschaftliche Verhältnis zwischen Staat und Kirche, wie es zum Segen auch der nichtreligiös gebundenen Menschen in Deutschland und vor allem in Bayern seit Jahrhunderten gewachsen ist. Leider wird es, vor allem von vielen Grünen, massiv in Frage gestellt. Solche radikal-laizistische Kräfte verkennen aber, dass eine systematische Entchristlichung geistige und seelische Leerräume schafft, in die dann totalitäre Ideologien, Nationalismus, egoistischer Materialismus und gefährliche Kulte eindringen. Dies meinte Ernst Jünger mit seinem berühmten Satz, wonach Dämonen die verlassenen Altäre bewohnen werden.

Interessant sind in diesem Zusammenhang Studien, wonach freiheitliche Gesellschaften mit einigermaßen intakten Wertvorstellungen und lebendigen Traditionen auch wirtschaftlich erfolgreicher sind als solche, die den Boden unter den Füßen verloren haben. In Bayern sehen wir das Phänomen, dass Inte-gration zwar auch hier schwierig ist, aber viel besser gelingt als im Norden oder im Osten Deutschlands. Lehrreich ist auch ein Blick ins benachbarte Frankreich. Viele französische Präsidenten, von General Charles de Gaulle bis Jacques Chirac, waren zwar persönlich fromme Christen, plädierten aber für einen konsequenten Laizismus als Staatsdoktrin, wie sie 1905 in ihrem Land verordnet worden war. Nicolas Sarkozy, selbst ein sehr liberaler Mensch, war der erste Staatschef im Elysee-Palast, der mit Blick auf Einwanderung und europäische Selbst-säkularisierung die These vertrat, eine freiheitliche Republik bedürfe zu ihrer Festigung gerade auch des christlichen Beitrages. Sein Nach-Nachfolger Emmanuel Macron hat jetzt die französische Bischofskonferenz empfangen – bei uns wäre dies ein völlig normaler Vorgang, in Frankreich war es hingegen ein Tabubruch –,
um diese aufzufordern, an den ethischen Grundlagen des Gemeinwesens auch offiziell mitzuwirken.

Diskurs über christliche Werte

Eingeleitet hat diese Entwicklung der bayerische Papst Benedikt XVI. mit einem Frankreich-Besuch, bei dem er die oft glaubenslosen Intellektuellen des Landes faszinierte und gemeinsam mit Präsident Sarkozy die Formel von der „positiven Laizität“ entwickelte. Kirchenfeindliche Kreise schäumten zwar anschließend, doch es entstand ein seit Jahrzehnten verdrängter Diskurs über christliche Werte.

Selbstverständlich ist die Partnerschaft zwischen Staat und Kirche als zwei getrennte, aber Gott und den Menschen verpflichtete Faktoren westlich des Rheines noch lange nicht so ausgeprägt wie etwa bei uns. Dennoch sollten auch wir als CSU stärker als bisher an Debatten mitwirken, in denen es nicht um oberflächlichen Schlagabtausch über tagespolitische Themen geht, sondern um die alles entscheidenden Fragen nach dem Schöpfer, der Schöpfung, dem Lebensrecht und der Würde des Menschen sowie der gewachsenen natürlichen Gemeinschaften, in die er eingebunden ist und deren Zerschlagung das Ende der Freiheit markieren würde.

Bernd Posselt ist Mitglied des CSU-Parteivorstandes und Präsident der Paneuropa-Union Deutschland.