Aufbruch: Die Kirchen sollten lebendiger werden. (Bild: imago images/Westend61)
Kirchen

Aufbruch zu neuer Glaubensfreude

Gastbeitrag Das Christentum am Ende? Noch lange nicht! Angesichts schwindender Mitgliederzahlen und anhaltendem Glaubwürdigkeitsverlust entwirft Professor Elmar Nass eine Utopie für eine lebendige Kirche von morgen. Aus dem BAYERNKURIER-Magazin.

Den Untergang des Christentums in Deutschland haben das Magazin „Der Spiegel“ und andere Medien bereits errechnet. Und tatsächlich sieht es hierzulande düster aus um die Zukunft der Kirchen. Christen sollten diese Prophezeiung Lügen strafen, indem sie die Kirche wieder lebendig und damit fahrtüchtig machen auf ihrem Weg in die Zukunft. Sie sollten es, und sie können es.

Mit dem Buch ‚Utopia christiana‘ einer solchen, auch wieder missionarischen Kirche des Jahres 2040, halte ich uns einen Spiegel vor, der uns Christen heute – und dabei auch den von Kirche Enttäuschten – aufwecken, begeistern und mitreißen will, selbst Teil einer solchen Mission zu sein. Dazu stelle ich wesentliche Motive dieser Kirchenutopie in vier Schritten vor: Anlass, Anspruch, Kernaussagen der Utopie und abschließend Gründe, warum der Weg dahin gelingen kann.

Der Anlass

Anlass für die Utopie ist die schlechte Verfassung der Kirche bei uns, verbunden mit der Absicht und Hoffnung, durch einen grundlegenden Wandel daran etwas zu ändern. Als katholischer Priester spreche ich bei dieser einleitenden Krisenanalyse zuerst über meine Kirche, wobei manche Aspekte sicher leider auch darüber hinaus die Rolle der Christen betrifft. Ich spreche von Kirche und meine damit immer auch die Christen, weil Christen berufen sind, Kirche zu sein.

Gegenwärtig erleben wir die Kirche in Deutschland massiv in der Defensive. Das gilt vor allem für die katholische Kirche. Hinlänglich bekannte Skandale haben den Vertrauensverlust verstärkt, der sich schon seit Jahrzehnten zeigt.

Austrittszahlen von 200.000 bis 300.000 Mitgliedern der beiden großen Kirchen jährlich werden wie selbstverständlich hingenommen. Kein Aufschrei ertönt von Seiten der Kirche, daran etwas zu ändern. Kein Wunder, dass Außenstehende so den Eindruck gewinnen, dass viele in der Kirche sich mit dieser Schrumpfung abgefunden haben und offensichtlich selbst nicht mehr an eine Umkehr des Trends glauben.

Gegenwärtig erleben wir die Kirche in Deutschland massiv in der Defensive. Das gilt vor allem für die katholische Kirche.

Elmar Nass

Eine so auftretende Institution wirkt wenig attraktiv. Kaum noch Berufungen für pastorale Berufe, Zusammenlegungen zu Mega-Gemeinden und damit oft überfordertes Personal, all das strahlt auch keinen Aufbruch zu einer lebendigen Kirchenzukunft aus. Das alles wirkt eher wie eine wenig inspirierende Nachlassverwaltung statt eine Wegebereitung in die Zukunft, wie es schon in den 90er-Jahren der Aachener Bischof Klaus Hemmerle anmahnte. An diese Prophezeiung erinnert der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick in seinem Geleitwort zu dem Buch ‚Utopia christiana‘.

Manche protestieren heute und fordern die Aufhebung des Zölibats oder die Zulassung der Frauen zum Weiheamt. Doch solche Fragen treffen nicht den Kern des Problems. Der Glaubwürdigkeitsverlust in der Gesellschaft und die Depression innerhalb der Kirche sind die eigentlichen, viel tiefer sitzenden Gründe des Niedergangs, die es abzustellen gilt. Der Vortrag eines gelehrten Benediktinermönchs war für mich schließlich der letzte Anstoß, nun diese Utopie zu verfassen. Er vergleicht die Geschichte der Kirche mit der des Römischen Reichs: Es gab einen Zeitpunkt der Gründung, des Aufstiegs, der Blüte und des Niedergangs. So sei es eben. Das sei auch das Schicksal der Kirche. Wenn so eine Haltung schon im Herzen der Kirche grassiert, ist es höchste Zeit, etwas zu ändern. Dazu will die Utopie Anstoß sein.

Der Auftrag

Der Auftrag zu einer solchen Umkehr, die wieder Glaubensfreude ausstrahlt, hat zwei Quellen. Die eine Quelle ist der biblische Auftrag Jesu, allen Menschen das Evangelium nahezubringen und sie einzuladen, diese Botschaft zu glauben. Defensive Depression der Nachlassverwaltung ist ein Verrat an diesem Auftrag Jesu.

Die zweite Quelle wird der Kirche aus Reihen der säkularen Gesellschaft zugesprochen. Der Soziologe Niklas Luhmann gesteht der Religion grundsätzlich zu, dem Menschen die Tür zur Transzendenz zu öffnen. Der kanadische Sozialphilosoph Charles Taylor sieht – ähnlich wie Ernst-Wolfgang Böckenförde – in einem lebendigen Christentum einen wichtigen Stabilisator auch einer säkular geprägten Gesellschaft. Denn der christliche Glaube bietet dem Menschen gute Argumente an, die die säkulare Gesellschaft nicht selbst aus sich hervorbringen kann: Gute Begründungen für Lebenssinn, für Würde in Krankheit und Schwachheit, für Vergebung und Barmherzigkeit, für Hoffnung im Sterben, für eine unbedingte Würde jedes Menschen. Verliert sich das Christentum bei uns, so brechen solche wichtigen Pfeiler guten Zusammenlebens ein und es tut sich die bange Frage auf, was dann an deren Stelle treten wird.

Der christliche Glaube bietet dem Menschen gute Argumente an, die die säkulare Gesellschaft nicht selbst aus sich hervorbringen kann.

Elmar Nass

Natürlich können sich Christen nicht damit zufriedengeben, bloß ein nützliches Instrument zur Stabilisierung einer sonst säkularen Gesellschaft zu sein. Denn Christen sind nicht Gesandte der Säkularität, sondern Gesandte Jesu. Aber vielleicht ist ja gerade diese säkulare Wertschätzung unseres Glaubens ein Weckruf, wieder selbstbewusst zu unserem Glauben zu stehen. Ein atheistischer Student an der Wilhelm Löhe Hochschule in Fürth unterstreicht diese Wirkung mit seiner Haltung, wenn er sagt: Zwar sei er Atheist, aber aus einer Außenperspektive findet er das Christentum die überzeugendste Religion: im Blick auf ihren Gründer, auf ihre Botschaft vom Menschen, von Hoffnung und gutem Zusammenleben. Nur müsste sich eben manches daran ändern, wie diese Botschaft heute gelebt wird …

Potential zu solchem Wandel gibt es genug: die angesprochenen guten Argumente, das christliche Menschenbild, das Vorbild Jesu, und nicht zuletzt so viele auch heute noch überzeugte Christen mit ihren Ideen, Talenten, mit Bekenntnis und bisweilen noch schlummernder Begeisterung. Dieses Potenzial zu aktivieren für den notwendigen Wandel, ist der Auftrag der Utopie.

Der Anspruch

Eine Kirchenutopie könnte als quasi-perfektes Zukunftsszenario entworfen werden, womöglich noch mit einem Masterplan und konkreten Schritten zum Erfolg. Voraussetzung dafür wäre es, dass der Autor seine persönliche Perspektive als Weg zum Guten vorzeichnet und diese dann in Form eines analytischen Sachbuchs zur Diskussion stellt. Diesen Weg wähle ich nicht. Denn ein solcher Zugang hätte erhebliche Nachteile: Mit dem vermeintlichen Wissen um einen Masterplan wirkt er arrogant und nicht zuletzt bei erfahrenden Verantwortlichen in der Kirche zurecht als anmaßend. Einen solchen Plan habe ich auch gar nicht parat. Nur eine einzige persönliche Perspektive roten Faden zugrunde zu legen, ist einseitig und wird der Komplexität des Unterfangens nicht gerecht. Es braucht stattdessen verschiedene Perspektiven, die sich ergänzen. Und ein Sachbuch zur Kirchenkrise unter vielen verschwindet schnell ungelesen im Regal.

Pastorale Begeisterung strahlt mit neuen Priesterbildern aus: Vorbei ist es mit der Sackgasse des Managementpfarrers für immer größere Räume.

Elmar Nass

Die „Utopia christiana“ will aber etwas bewegen, will gelesen werden und Anstoß sein zum Neudenken, zum Handeln und zum Wandel. Deshalb orientiert sie sich am Vorbild der Utopia des Heiligen Thomas Morus und wird in abwechslungsreicher Dialogform präsentiert. Sie ist kein perfektes Szenario, sondern ein Spiegel für unsere Gegenwart. Dieser Spiegel hält uns vor Augen, wie Kirche im Jahr 2040 aussehen könnte, wenn wir jetzt mit dem Wandel beginnen. Die konkreten Schritte dahin sind nicht vorgezeichnet, sondern können und sollen heute und morgen durch kreative Köpfe erdacht und umgesetzt werden. Der Spiegel zeigt uns Utopia in verschiedenen Perspektiven: Vier Missionare berichten begeistert aus ihrer jeweiligen Sicht von der lebendigen Kirche im Jahr 2040: ein Denker schaut auf die wieder zu hörenden guten Argumente für den Glauben, eine evangelische Missionarin baut ökumenische Brücken, eine empathische Frau schaut auf lebendige Pastoral und Haltungen der Christen im Jahr 2040 und ein Stratege analysiert den wieder glaubwürdigen Umgang im innerkirchlichen Miteinander und dessen Wirkungen nach innen und nach außen.

Die Kernaussagen

Die Utopia versetzt uns also ins Jahr 2040. Die Kirchensteuer gibt es nicht mehr. Im ersten Teil berichtet ein begeisterter Gläubiger seinem Freund von der lebendigen Kirche in seinem Bistum Utopia. Der Freund hingegen lebt in einem Bistum, wo sich seit Jahrzehnten nichts wesentlich geändert hat. Das ist aus der Sicht von 2040 eine ‚Kirche von gestern‘, die in weiten Teilen leider unserem realen Heute entspricht.

In Utopia hingegen lebt die ‚Kirche von heute‘: einladend, mutig, gewinnend, selbstbewusst und missionarisch. Wir erfahren im Dialog der Freunde, wie in Utopia im Jahr 2020 alles begonnen hatte: mit der Idee eines visionären Bischofs und mit seinen vier Missionare, die für ihn auf Reisen gingen, um die Krise schonungslos aufzudecken einerseits, Potenziale zum Wandel ausfindig zu machen andererseits.

Im zweiten Teil des Buches treffen die Freunde selbst auf die vier Missionare, die aus ihren jeweiligen Perspektiven die Lebendigkeit der ‚Kirche von heute‘ vorstellen: Der Denker berichtet davon, dass Christen wieder mutig ihre starken Argumente artikulieren, selbst wenn sie dabei auf Widerstand stoßen. Sie beißen sich nicht mehr an der Sexualmoral fest, sondern adressieren mit Rückgriff auf die Heilige Schrift, Jesus und das Menschenbild vor allem andere zentrale Themen, die die Menschen ansprechen: so etwa klare Positionen zum Lebensrecht von Menschen mit Behinderung, zu technologischen Entwicklungen der Digitalisierung, zur Sterbekultur, zu Fragen gerechter Einkommen, zu Familie, Arbeitsbedingungen und Führungsethik in Organisationen.

Eine Kultur fairen Streitens gerade auch innerhalb der Theologie lässt keinen Platz für Intrigen und Profilierung auf Kosten anderer.

Elmar Nass

Die evangelische Missionarin deutet die neue Lebendigkeit der Kirche mit Argumenten der Reformation. Sie freut sich daran, dass die ‚Christen von heute‘ menschliche Selbstbestimmung immer in Verantwortung vor Gott verstehen, Glauben und Vernunft als Symbiose erkennen, menschlicher Hybris von Politik, Technik und Ökonomie eine Haltung von Bescheidenheit und Demut entgegensetzen und auch darüber, dass kirchliche Amtsträger gläubige Beter sind ohne Eitelkeit und Attitüde.

Die empathische Beobachterin berichtet davon, man habe sich beim Wandel an denjenigen orientiert, die trotz aller Krisen und Skandale dennoch bei der Kirche blieben. Deren Argumente und Ausstrahlung waren starke Vorbilder für jetzt lebendigen Kerngruppen des Glaubens. Große Wirkung erzielte die flächendeckende Schulung aller kirchlich Engagierten zu guten Gründen der Glaubensfreude. Pastorale Begeisterung strahlt auch mit neuen Priesterbildern aus: Vorbei ist es mit der Sackgasse des Managementpfarrers für immer größere Räume. Neben solchen Pfarrerstellen ziehen andere als Missionare über Land und ermutigen die Gemeinden vor Ort, andere gehen als Teilzeitpriester weltlichen Berufen nach und bringen diese Erfahrungen mit in die Seelsorge ein.

Der Stratege berichtet von einer glaubwürdigen Organisationskultur der Kirche. Kirchliche Bürokratie musste abgebaut werden. Talente werden systematisch gesucht und gefördert. Stellen mit Verantwortung werden vergeben nach fachlicher Eignung und charakterlicher Güte, jenseits von Netzwerken, Seilschaften und Nepotismus. Im Vordergrund steht auch bei Christen unterschiedlicher (politischer) Auffassung das Bewusstsein, gemeinsam Teil einer großen Mission zu sein. Eine Kultur fairen Streitens gerade auch innerhalb der Theologie lässt keinen Platz für Intrigen und Profilierung auf Kosten anderer. Denn das gemeinsame Bekenntnis verbindet. Alles andere ist zweitrangig geworden in der ‚Kirche von heute‘. Deren Glaubwürdigkeit hat also viele Gesichter. Der Weg sollte jetzt beschritten werden. Und er ist möglich.

Die Umsetzung

Mut dazu machen mir junge, erwachsene Christen von heute. Ich habe sie nach ihrem Glauben befragt, den sie auch angesichts von Krisen und Skandalen nicht verloren hatten. Solche Bekenntnisse sind ein Spiegel für das vorhandene, aber oft schlummernde Glaubenspotential. Es zu wecken ist der Beginn des Wandels, der eine deprimierte ‚Kirche von gestern‘ überwindet und aufbricht zu einer wieder gewinnenden, weil glaubwürdigen ‚Kirche von heute‘, wie sie das Bistum Utopia uns als Spiegel vorhält.

Ein lebensnahes Bekenntnis, das mehr auf Jesus Christus und seine Botschaft schaut, kann viele Enttäuschte gewinnen.

Elmar Nass

Die Vielfalt der Perspektiven dabei zeigt auch hier wieder viel Raum für unterschiedliche Talente und Berufungen, vereint in der gemeinsamen Mission. Solch lebensnahes Bekenntnis, das wieder mehr auf Jesus Christus und seine Botschaft schaut, als auf schlimme Verfehlungen, Verfremdungen und Verkrustungen, kann auch wieder viele Enttäuschte Sucher und Zweifler unserer Tage gewinnen. Einige Beispiele der Zeugnisse laden ein, sich dabei selbst einzureihen und den Wandel jetzt zu beginnen:

  • Glauben heißt, Dinge nicht zu tun, weil es alle tun oder es andere erwarten, sondern weil es richtig ist, dass man sein Leben einfach im Zeichen der Nächstenliebe lebt.
  • Kirche ist nicht gleich ‚Sonntag in die Kirche gehen, hinsetzen, zuhören, nach Hause gehen, Pflicht erfüllt‘, sondern aktiv mitmachen, was erleben, den Glauben erarbeiten und Spaß daran haben.
  • Ein Schritt zu einem erwachsenen Glauben war die Erkenntnis einer klaren inneren Logik der christlichen Morallehre. Alle Normen sind logische Implikationen des einen Liebensgebots.
  • Mich motiviert der Auftrag, den Gott mir mit auf den Weg gegeben hat.
  • Mein Glauben ist für mich wie ein großes, großes Bücherregal. Es kommt immer wieder ein Buch dazu. Sollte das Regal voll sein, baue ich ein neues.
  • Glaube ist für mich, das gute Gefühl zu haben, da ist noch wer, und ich stehe in vielen Lebenssituationen nicht alleine da.
  • Glaube war und ist auf meinem Weg ein verlässlicher Kompass.
  • Glauben und ich gehören zusammen, auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind.
  • Trotz des frühen Todes meiner Mutter wäre ich heute nicht der Mensch, der ich bin. Und diese Erfahrung hat mich auch näher zum Glauben hingeführt. Es ist ein Gefühl von gleichzeitiger Nähe und Distanz.
  • Man geht zwangsläufig rationaler an den Glauben heran. Dennoch spielt bei mir die kindliche emotionale Seite für meinen Glauben eine erhebliche Rolle.
  • Glauben ist Hoffnung. Hoffnung ist Leben.
  • Ich sehe viele Dinge in meinem Leben aus verschiedenen Perspektiven, hadere nicht mit jedem Schicksalsschlag, muss da aber um mein eigenes Gottvertrauen kämpfen: Zweifel ja, verzweifeln nein.

Der Autor

Elmar Nass ist Professor für Wirtschafts- und Sozialethik an der Wilhelm Löhe Hochschule für angewandte Wissenschaften in Fürth. Er ist katholischer Priester. Zuletzt erschien von ihm: „Utopia christiana – Vom Kirche- und Christsein heute.“ Zwei kirchenutopische Dialoge. Mit einem Geleitwort von Erzbischof Ludwig Schick (Reihe: KirchenZukunft, Band 7).