Die Griechenland-Krise birgt auch ein geopolitisches Risiko
Instabiler Balkan, Ukraine-Krise, brennender Naher Osten – und genau dort, wo sich die Krisen kreuzen, liegt Griechenland. Die Geographie macht das Euro-Krisenland so wichtig für Europäische Union und Nato. Wenn Griechenland scheitert, steht für die Europäer mehr auf dem Spiel als 500 Milliarden Euro.
Europa

Die Griechenland-Krise birgt auch ein geopolitisches Risiko

Instabiler Balkan, Ukraine-Krise, brennender Naher Osten – und genau dort, wo sich die Krisen kreuzen, liegt Griechenland. Die Geographie macht das Euro-Krisenland so wichtig für Europäische Union und Nato. Wenn Griechenland scheitert, steht für die Europäer mehr auf dem Spiel als 500 Milliarden Euro.

„Der Ernst der Lage vor dem die Welt heute steht, macht es notwendig, dass ich vor einer gemeinsamen Sitzung beider Häuser des Kongresses erscheine. Es geht um die Außenpolitik und die nationale Sicherheit unseres Landes. … Die Vereinigten Staaten haben von der griechischen Regierung eine eindringliche Bitte um finanzielle und wirtschaftliche Hilfe erhalten. Vorläufige Berichte der amerikanischen Wirtschaftsmission in Griechenland  und Berichte vom amerikanischen Botschafter in Griechenland bestätigen die Erklärung der griechischen Regierung, dass Unterstützung geboten ist, wenn Griechenland als freie Nation überleben soll. …. Man muss nur einen Blick auf eine Karte werfen, um zu begreifen, dass das Überleben und die Integrität der griechischen Nation  von schwerster Bedeutung sind in einer viel weiteren Situation. Wenn Griechenland unter die Herrschaft einer bewaffneten Minderheit fallen sollte, hätte das sofortige und ernste Auswirkungen auf seinen Nachbarn Türkei. Unordnung und Chaos könnten sich durch den ganzen Mittleren Osten verbreiten. Aber nicht nur das: Wenn Griechenland als unabhängiger Staat verschwände, hätte das eine tiefgreifende Wirkung auf jene Länder in Europa, deren Völkern mit großen Schwierigkeiten kämpfen, um ihre Freiheit und ihre Unabhängigkeit zu erhalten … Wir müssen sofort und entschlossen handeln. Ich bitte darum den Kongress um die Vollmacht, Griechenland und der Türkei Unterstützung über 400 Millionen Dollar zukommen zu lassen. …“

Der Kalte Krieg begann in Griechenland

Die brandaktuell klingende Präsidenten-Rede wurde tatsächlich gehalten, vor beiden Häusern des US-Kongresses. Aber nicht heute von Präsident Barack Obama, sondern von seinem ebenfalls demokratischen Vorgänger im Amte, Harry S. Truman, am 12. März 1947. Die Kongressrede ging als Truman-Doktrin in unsere Zeitgeschichte ein. Sie fixiert jenen Moment, als Washington sich entschloss, sich Stalins und der Sowjetunion Vormarsch im kriegszerstörten Europa mit Macht entgegenzustellen. Trumans „pivot to the Mediterranean“, so würde man heute Washingtons politische Wendung wohl nennen, führte innerhalb von zwei Jahren zur Gründung der Nato. Wer ein Datum sucht für den Beginn des Kalten Krieges – Trumans berühmt gewordene Kongressrede markiert ihn. Und wer einen Ort sucht, wo er begonnen hat, findet ihn – auch – in Griechenland. Und wer verstehen will, warum das ferne Washington heute so aufmerksam nach Athen schaut und pausenlos mit Berlin und Paris über Griechenland telefoniert, der sollte Trumans große Rede vom 12. März 1947 nachlesen.

Zwischen instabilem Balkan und brennendem Nahen Osten

Denn Harry Truman hat recht, damals wie heute: Ein Blick auf die Karte verhilft zu politischer Urteilsfähigkeit. Das altuelle griechische Drama spielt sich an einem Ort ab, der von heikler strategischer Lage ist – heute beinahe noch mehr als vor knapp 70 Jahren. „Athen ist ein Pfeiler der Stabilität zwischen einem instabilen Balkan und einem Nahen Osten auf dem Weg zur Explosion.“ So beschreibt zutreffend die Pariser Tageszeitung Le Monde Griechenlands geopolitische Bedeutung zwischen Europa, Kleinasien und Levante unter der bedenkenswerten Überschrift: „Die geopolitischen Risiken des ‚Grexit‘.“

Diese Risiken gibt es tatsächlich. Und der Hinweis auf Griechenlands unruhige Balkan-Nachbarschaft ist mehr als berechtigt. Mazedonien und Albanien grenzen an Griechenland. In Mazedonien schüren albanische oder kosovarische Kräfte Aufruhr unter der albanischen Bevölkerungsminderheit. Im Armenhaus Albanien gibt es großalbanischen Tendenzen. Kosovo ist im Grunde ein gescheiterter Staat am Tropf der EU. Die mazedonisch-albanisch-kosovarische Konstruktion wird nicht halten. Und der Konflikt mit Serbien ist nicht ausgeräumt.

Griechenland hilft, die Region zu stabilisieren und den Balkan zu europäisieren

Georges Prévélakis, Politik-Professor in Paris

Noch ist Griechenland sozusagen stabiler Anker und Lichtblick im Süden der unruhigen Region. „Ein politisch stabiles und wirtschaftlich leistungsfähiges Griechenland hilft, die Region zu stabilisieren und den Balkan zu europäisieren“, erklärt der in Paris lehrende Politik-Professor Georges Prévélakis den Le Monde-Lesern und fügt hinzu: „Aber heute ist es Griechenland, dass sich balkanisiert.“

Prévélakis hat nicht ganz unrecht. Für die große Europäische Union ist Griechenland kein wesentlicher Wirtschaftsfaktor. Aber für die desolate Armutsnachbarschaft im Norden spielt Griechenland seit jeher eine Rolle – als Markt für Güter wie für Arbeitskräfte. Griechenland ist dort kommerzieller Akteur, griechische Banken und griechisches Geld sind präsent – mit stabilisierender Wirkung. Seit über 30 Jahren rede die EU davon, an ihren Grenzen Zonen der Stabilität und des Wohlstands schaffen zu wollen, überlegt die Athener Historikerin – und Syriza-Mitglied – Sia Anagnostopoulos: „Aber in Wahrheit ist unsere Nachbarschaft eine Nachbarschaft des Elends und der Instabilität.“ Wenn nun auch Griechenland den Weg des Balkans ginge und vollends zum chaotischen Balkanstaat würde, würden die Probleme in der Region nur noch größer – und noch teurer für die EU.

Die Geographie macht Griechenland zum wichtigen Nato-Partner

Und dabei ist der Balkan wohl noch der harmlose Teil der griechischen Nachbarschaft, wie wieder Syriza-Historikerin Anagnostopoulos in Le Monde plastisch erklärt:

Wir sind das einzige demokratische wie kulturell und prinzipiell europäische Land in einem Becken, das von vielen Seiten bedroht wird: im Norden vom Aufstieg der Nationalismen im Balkan; im Süden vom Rückzug der Demokratie in den Ländern Nordafrikas; und im Osten zugleich von einer Türkei auf dem Weg in die religiöse Radikalisierung und von einem Nahen Osten, der in Feuer und Blut untergeht.

Sia Anagnostopoulos, griechische Historikerin in Le Monde

Das ist drastisch und zutreffend beschrieben, aber nicht ganz vollständig. Denn auch das Schwarze Meer gehört seit der Antike ganz essentiell zur griechischen Nachbarschaft – Odessa ist eine griechische Gründung – und damit heute die Krim, die Ukraine-Krise und ein wieder zur Bedrohung gewachsenes Russland. Präsident Truman würde sich in Griechenlands heutiger geostrategischer Lage sofort zurechtfinden.

1946 schickte Truman das Schlachtschiff USS Missouri ins östliche Mittelmeer. Heute ist Souda Bay, nahe der idyllischen Hafenstadt Chania auf Kreta, ein wichtiger Stützpunkt der 6. US-Flotte. Kreta-Touristen wissen es von ihren Sonnenbränden: Die Insel liegt weiter südlich als Tunis und Algier, gegenüber Libyen und Ägypten. Während der Libyen-Intervention einiger Nato-Länder hoben von Kreta amerikanische Flugzeuge ab. Heute ist kein Nato-Stützpunkt dem blutigen arabischen Chaos näher als Souda Bay. Die Geographie macht Griechenland zum wichtigen Nato-Partner.

Sprungbrett für Afrikas und Asiens Völkerwanderung nach Europa

Die Lage am Schnittpunkt zwischen Okzident und Orient macht Griechenland aber auch zum Flucht-oder Durchgansort für Völkerwanderungen – seit Jahrtausenden. Heute wählen Zigtausende, ja Hunderttausende Einwanderer aus Afrika und Asien den Weg über die Türkei, über die Ägäis und 3000 griechische Inseln nach Europa. 1,5 Millionen illegale Zuwanderer sollen sich derzeit in Griechenland befinden. Schon 2011 berichte eine dpa-Meldung von 300.000 Zuwanderern ohne Ausweisdokumente mitten in Athen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb von Stadtvierteln mit der Anmutung von Somalia und Karachi. In diesem Jahr sind allein bis Mitte Juni weit über 50.000 Migranten nach Griechenland gekommen.

Als EU-Mitglied erhält Griechenland logistische und finanzielle Unterstützung, um mit den Einwanderungsmassen umzugehen und seine Grenzen zu schützen. „Von der europäischen Solidarität abgeschnitten, würde Griechenland zum simplen Durchgangskorridor“ für die Migranten, warnt wieder  Historikerin Anagnostopoulos. Minister der aktuellen griechischen Linksregierung haben schon damit gedroht, schlicht die Schranken zu öffnen und Hunderttausende Migranten nach Norden zu schicken – egal, ob dann auch Dschihadisten und Terroristen darunter seien. Man erinnert sich auch, dass der sogenannte Islamische Staat schon angekündigt hat, den ununterbrochenen Strom südasiatischer, afrikanischer und arabischer Einwanderer zu nutzen, um mit den Migranten Terroristen nach Europa zu schicken.

Athen könnte EU und Nato lahmlegen

Aber auch unabhängig von der Geographie stehen EU und Nato schwere Zeiten bevor, wenn die griechische Krise sich weiter zuspitzt. „Ein Griechenland, das aus der Eurozone herauskracht, wird eine zornige, frustrierte und ramponierte Nation sein – aber eine, die weiterhin Mitglied der Europäischen Union und der Nato bleiben würde“, warnt in der US-Politikzeitschrift Foreign Policy der ehemalige Nato-Oberbefehlshaber James Stavridis. Beide, EU und Nato, sind Konsens-Organisationen, in denen es für jede Entscheidung Einstimmigkeit braucht. Ein unkooperatives Griechenland, so Stavridis, fände viel Spielraum, um beide Organisationen sozusagen lahmzulegen – etwa wenn es in der EU um Sanktionen gegen Russland ginge, um den europäisch-amerikanischen Freihandelsvertrag TTIP oder um Maßnahmen gegen die Einwandererströme über das Mittelmeer. Sogar bei den Verhandlungen über das iranische Atomprogramm könnte Griechenland als EU-Mitglied zum Problem werden.

Griechenlands Austritt aus EU und Nato würde beide Organisationen fundamental erschüttern und zugleich das europäische Projekt zutiefst schwächen,

James Stavridis, ehemaliger Nato-Oberkommandierender

Natürlich würde sich Griechenland anderswo nach Unterstützung umschauen, ahnt Stavridis. Etwa in Russland oder beim ebenfalls orthodoxen Nachbarland Serbien, das, wie schon erwähnt, auf dem Balkan nicht wirklich ein Stabilitätsfaktor ist. Es sei auch nicht ausgeschlossen, dass am Ende Griechenland die EU oder gar die Nato verließe, warnt Stavridis. Für beide Organisationen wäre es eine völlig neue Erfahrung – „terra incognita“ –, ein Mitglied zu verlieren. Stavridis: „Das würde beide Organisationen fundamental erschüttern und zugleich das europäische Projekt zutiefst schwächen“.

Ein scheiternder Staat an der Ägäis bliebe ein EU-Problem, ganz egal ob seine Politiker Schmiergelder in Euros oder Drachmen annehmen. Es würde sogar ein noch größeres und noch weniger beherrschbares Problem werden, als Griechenland heute ist.

The Economist

Griechenland ist ein Land mit Putsch-Geschichte, erinnert die Londoner Wochenzeitung The Economist. Wenn es den Euro, gar die EU verlassen müsste, bestünde die Gefahr, dass es zum Ort der Gewalt würde und noch korrupter. „Ein scheiternder Staat an der Ägäis bliebe ein EU-Problem, ganz egal ob seine Politiker Schmiergelder in Euros oder Drachmen annehmen“, warnt das britische Wochenblatt: „Es würde sogar ein noch größeres und noch weniger beherrschbares Problem werden als Griechenland heute ist.“

Rat von Harry S. Truman

Was also ist zu tun mit Griechenland und in Griechenland? Es ist kein Fehler, noch einmal zu Präsident Harry S. Truman zurückzukehren und sich bei ihm Rat zu holen. Die griechische Regierung, berichtete der Präsident im März 1947 dem Kongress, habe auch gebeten, sie dabei zu unterstützen, finanzielle und andere Hilfe effektiv zu nutzen und die öffentliche Verwaltung des Landes zu verbessern. Truman:

Es ist von äußerster Wichtigkeit, dass wir die Verwendung aller Mittel, die Griechenland zur Verfügung gestellt werden, genau überwachen, so dass jeder ausgegebene Dollar dazu beiträgt, Griechenland finanziell gesund zu machen, und eine Wirtschaft aufzubauen, in der eine gesunde Demokratie blühen kann.

Harry S. Truman, US-Präsident von 1945 bis 1953

Das Thema und die Herausforderung kommen auch fast 70 Jahre später sehr bekannt vor. Und noch einmal der große Nachkriegspräsident Harry S. Truman mit einer letzten Warnung: „Elend und Mangel nähren die Saat totalitärer Regime. Sie breiten sich aus und wachsen im üblen Boden von Armut und Unfrieden. Ihre volle Größe erreichen sie, wenn die Hoffnung eines Volkes auf ein besseres Leben gestorben ist.“