Keine Lust mehr auf Erdogans Islamismus: Eine Anhängerin der säkularen CHP feiert in Istanbul den Sieg Ekrem Imamoglus bei der Bürgermeisterwahl – und das mit einer Fahne des Republikgründers Kemal Pascha Atatürk. (Foto: DPA/AP Photo/Burhan Ozbilici) |
Istanbul

Wankt jetzt das System Erdogan?

Herbe Niederlage für den türkischen Präsidenten Erdogan und seine islamistische AKP: Der Oppositionskandidat Imamoglu hat überraschend klar die Bürgermeisterwahl in Istanbul gewonnen. Gerät damit das totalitäre Erdogan-System ins Wanken?

Herbe Niederlage für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und seine Regierungspartei AKP: Der Oppositionskandidat Ekrem Imamoglu hat überraschend klar die Bürgermeisterwahl in Istanbul gewonnen. Imamoglu, Kandidat der größten säkularen Oppositionspartei CHP, erhielt nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu nach Auszählung fast aller Stimmen rund 54 Prozent. Sein Gegner, der ehemalige Ministerpräsident und AKP-Kandidat Binali Yildirim, kam auf rund 45 Prozent.

Das ist kein Sieg, sondern ein Neuanfang.

Ekrem Imamoglu (CHP), neuer Bürgermeister von Istanbul

Die Wahlbeteiligung lag bei 84,4 Prozent und damit etwa auf dem gleichen Niveau wie bei der ersten Wahl Ende März – obwohl die jetzige Neuwahl mitten in den türkischen Sommerferien lag. Wahlberechtigt waren rund 10,5 Millionen Menschen. Der Wahlausgang hat hohe symbolische Bedeutung: Erdogan hatte seine eigene Laufbahn als Bürgermeister von Istanbul begonnen. In der Türkei gilt die Weisheit: „Wer Istanbul regiert, regiert die Türkei.“ Daher rätseln Beobachter nun, ob Erdogans Despotie insgesamt ins Wanken gerät.

Erdogan gesteht Niederlage ein

Wahlsieger Imamoglu könnte sogar Erdogans Herausforderer bei der nächsten Präsidentenwahl werden. Erdogan beglückwünschte den Wahlsieger mittlerweile. „Der nationale Wille hat sich heute einmal mehr gezeigt. Ich gratuliere Ekrem Imamoglu, der inoffiziellen Ergebnissen zufolge die Wahl gewonnen hat“, sagte er. AKP-Kandidat Yildirim wünschte seinem Gegner viel Erfolg. Imamoglu sagte vor Journalisten und Anhängern: „Das ist kein Sieg, sondern ein Neuanfang.“ Die Istanbuler hätten den „Ruf der Demokratie verteidigt“.

Verschwendung, Luxus, Arroganz und Diskriminierung werden ein Ende haben.

Ekrem Imamoglu

Imamoglu hatte schon die erste Bürgermeisterwahl am 31. März gewonnen. Die Wahlkommission (YSK) annullierte das Ergebnis jedoch Anfang Mai wegen angeblicher Regelwidrigkeiten und gab damit einem Antrag von Erdogans AKP statt – für viele Türken zurecht ein offener Ausdruck allumfassender Diktatur im Land. Die Bedeutung der Wahl ging weit über das Lokale hinaus und wurde international aufmerksam verfolgt. Imamoglu war zum Symbol geworden für die Hoffnung, dass in der Türkei auf demokratischem Weg noch ein Wandel möglich ist. Einige sehen in ihm sogar schon den nächsten Präsidenten.

Erdogan hielt sich aus Wahlkampf raus

Für Erdogan, der auf die Wiederholung der Wahl gedrängt hatte, ist die erneute Niederlage ein Schlag ins Gesicht. Die Millionenmetropole ist der wirtschaftliche Motor des Landes und hat hohe symbolische Bedeutung: Hier begann Erdogans Aufstieg. 25 Jahre lang war sie von islamisch-konservativen Bürgermeistern regiert worden, unter anderem von Erdogan selbst. Mit 16 Millionen Einwohnern, davon fast 10,6 Millionen registrierten Wählern, stellt die Mega-Stadt am Bosporus alle anderen Städte des Landes in den Schatten. Istanbul erwirtschaftet fast ein Drittel des türkischen Nationaleinkommens.

Der Sieg des Oppositionskandidaten Ekrem Imamoglu in Istanbul ist ein guter Tag für die Türkei, der zeigt: Die Türkei ist nicht Erdogan.

Reinhard Brandl, CSU

Die AKP hatte nach ihrer Niederlage Ende März ihre Wahlkampfstrategie geändert. Erdogan, der zuvor überall präsent war und mehrere Wahlkampfreden täglich gehalten hatte, zog sich diesmal etwas zurück und trat kaum auf. Stattdessen stand Yildirim im Vordergrund. Die AKP ließ sich sogar zum ersten Mal seit 17 Jahren auf ein Fernsehduell mit der Opposition ein. Experten vermuten, dass Erdogan sich aus der Schusslinie nehmen wollte, für den Fall, dass die AKP doch verlieren sollte. Zuletzt attackierte der Präsident Imamoglu aber mehrmals, nannte ihn einen Lügner und warf ihm vor, einen Gouverneur beleidigt zu haben. „Nach der Wahl wirst Du Dich dafür verantworten“ drohte er. Auch wurde ein angebliches Statement des inhaftierten PKK-Chefs Abduallah Öcalan veröffentlicht, in dem er die Kurden dazu aufrief, sich neutral zu verhalten.

Spontane Jubelfeiern in der Stadt

Imamoglu hatte im Wahlkampf mit seiner vermittelnden Art und dem Slogan „Alles wird sehr gut“ (den ihm ein Junge während seiner Wahlkampf-Busfahrten zugerufen hatte) gepunktet und ein Zeichen gegen die Polarisierung im Land gesetzt. Auch nach seinem Sieg ging er auf Erdogan zu und sagte, er wolle den Präsidenten bald besuchen. „Ich bin bereit, in Harmonie mit ihnen zusammenzuarbeiten und verlange danach. Das verkünde ich vor allen Istanbulern“, sagte er. Weiter sagt er: „Die Istanbuler haben mir eine heilige Aufgabe gegeben“, und versprach, sein Amt „mit Leib und Seele“ auszuführen. In Istanbul werde es nun „Gerechtigkeit, Gleichheit, Liebe und Toleranz geben. Verschwendung, Luxus, Arroganz und Diskriminierung werden ein Ende haben“, versprach er.

Respekt vor einer starken Zivilgesellschaft und Respekt vor einem Land mit freien Wahlen.

Armin Laschet (CDU), NRW-Ministerpräsident

Imamoglus Unterstützer feierten ihren Kandidaten mit spontanen Jubelfeiern und Hupkonzerten. In einem Flugzeug von Istanbul nach Bodrum klatschten die Menschen kurz vor Abflug, als sie vom Sieg Imamoglus erfuhren. Auf der zentralen Einkaufsstraße Istiklal versammelten sich zahlreiche Menschen und riefen den Wahlkampfslogan: „Her seyi cok güzel olacak!“ (Alles wird sehr gut). Nach der umstrittenen Annullierung war das Interesse an der Neuwahl immens hoch. Zahlreiche Wahlberechtigte brachen ihren Urlaub ab und reisten nach Istanbul, um ihre Stimme abzugeben. Die Fluggesellschaft Turkish Airlines setzte zusätzliche Verbindungen auf den Flugplan.

CDU und CSU hoffen auf grundlegenden Wandel

„Der Sieg des Oppositionskandidaten Ekrem Imamoglu in Istanbul ist ein guter Tag für die Türkei, der zeigt: Die Türkei ist nicht Erdogan“, erklärt Reinhard Brandl, der außen- und sicherheitspolitische Sprecher der CSU-Landesgruppe im Bundestag, gegenüber dem BAYERNKURIER. „Es gibt eine andere Türkei – Hunderttausende, die an die Demokratie und die Möglichkeit des Wandels glauben.“ Brandl hofft, dass sich in der Türkei nun Grundlegendes ändern wird: „Die Wähler haben ganz deutlich gemacht, dass sie genug haben von Manipulationen, Machtmissbrauch und Willkür, von der Drangsalierung der Presse, vom Schleifen von Rechtsstaat und Demokratie. Es bleibt zu hoffen, dass Präsident Erdogan das Votum des Volkes akzeptiert und als das erkennt, was es ist: ein klares Stoppsignal für seine autoritäre, undemokratische Politik.“

Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) erklärte seinen „Respekt vor einer starken Zivilgesellschaft und Respekt vor einem Land mit freien Wahlen“. Die stellvertetende Vorsitzende der CDU Köln, Serap Güler, teilte mit: „Warum die Freude über Istanbul so groß ist? Weil es alles andere als ein fairer Wahlkampf war.“ Denn Imamoglu habe die Wahl trotz Drohungen, Manipulationen und Hetze gegen ihn gewonnen. Europastaatsminister Michael Roth (SPD) teilte mit: „Was für ein Mut machendes Signal für eine demokratisch lebendige Türkei!“