Der Wahlverlierer lässt die Maske fallen: Der türkische Diktator Recep Erdogan. (Bild: imago images/Depo Photos)
Istanbul

Erdogan kann nicht verlieren

Der türkische Autokrat Recep Erdogan hat eine Wiederholung der Kommunalwahl in Istanbul durchgesetzt, weil ihm das Ergebnis nicht passte: Seine AKP hatte das Oberbürgermeisteramt an die Opposition verloren.

Nach dem „amtlichen“ Beschluss zur Wiederholung der Bürgermeisterwahl in Istanbul will die empörte türkische Opposition über das weitere Vorgehen beraten. Der im April eingesetzte Bürgermeister Ekrem Imamoglu von der größten türkischen Oppositionspartei CHP kündigte an, zu diesem Zweck in die Hauptstadt Ankara zu fliegen und sich dort mit der Parteiführung zu besprechen. Die Entscheidung der zuständigen Wahlkommission, die Kommunalwahl in Istanbul auf Antrag der Regierungspartei AKP annullieren und am 23. Juni wiederholen zu lassen, stieß auch im Ausland auf scharfe Kritik.

Sie versuchen die Wahl, die wir gewonnen haben, zurückzunehmen. Vielleicht seid ihr aufgebracht, aber verliert nie eure Hoffnung!

Ekrem Imamoglu, Wahlsieger in Istanbul

Der Oppositionskandidat Imamoglu hatte die Bürgermeisterwahl in Istanbul äußerst knapp vor Ex-Ministerpräsident Binali Yildirim gewonnen, der für die AKP angetreten war. Nach dem Einspruch der Regierungspartei und einer Neuauszählung in mehreren Bezirken schrumpfte der Unterschied zwar, Imamoglu lag aber weiter vorne. Die AKP beantragte daraufhin eine Wiederholung der gesamten Abstimmung und forderte unter anderem eine Überprüfung der Wahlhelfer. Obwohl die Wahlbehörde Imamoglu im April zum Bürgermeister erklärt hatte, wird ihm das Mandat nun wieder aberkannt – eine Farce.

AKP verliert trotz unfairer Wahlen

Die islamisch-konservative AKP des Autokraten Recep Tayyip Erdogan hatte die Wahlen in vier der fünf größten Städte der Türkei verloren, neben Istanbul auch in der Hauptstadt Ankara, in Adana sowie in Izmir. Nur Bursa, die viertgrößte Stadt, blieb in Händen der AKP. Sie verlor aber auch in der Millionenstadt und Touristenhochburg Antalya sowie in den Großstädten Mersin und Eskisehir. In der Kurdenmetropole Diyarbakir gewann ein Kandidat der kurdischen Partei HDP mit mehr als 70 Prozent der Stimmen. Zum Wahlsieger wurde jedoch nach Entscheid der Wahlkommission der abgeschlagene zweitplatzierte AKP-Kandidat ernannt. Der HDP-Wahlsieger wurde als nicht geeignet eingestuft, weil er während des Ausnahmezustands aus dem Staatsdienst entlassen worden war – vor der Kommunalwahl wurde er aber ordnungsgemäß registriert und vom Wahlrat zur Wahl zugelassen. Ebenso erging es fünf weiteren HDP-Wahlsiegern.

Zwar hatte Erdogans Bündnis mit der nationalistischen MHP eine knappe Mehrheit von 51,6 Prozent der Stimmen in allen Kommunen erreicht, aber die MHP hatte ihren Stimmenanteil auf Kosten der AKP ausgebaut. Und das, obwohl die AKP im Staatsfernsehen etwa zehnmal so viel Sendezeit hatte wie die ganze Opposition zusammen. Vor allem die durch Erdogan und seine AKP verursachte schlechte Wirtschaftslage und der Verfall der türkischen Lira verhagelte der Partei ihr Ergebnis. Die staatliche Unterdrückung von Kritikern und Journalisten sowie die willkürliche Verhaftung von Ausländern hatten zudem das Vertrauen von Investoren in die Rechtssicherheit und Stabilität des Landes praktisch auf Null reduziert.

Rückhalt für Erdogan schwindet

Die Wahlbehörde gab einem Antrag der islamisch-konservativen AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan statt, die Beschwerde wegen angeblicher „Regelwidrigkeiten“ eingelegt hatte. Laut dem AKP-Politiker Recep Özel, der selbst in der Wahlkommission sitzt, hatten sieben Kommissionsmitglieder für eine Wiederholung der Wahl gestimmt, vier dagegen. Ein Einspruch gegen ihren Beschluss ist nicht mehr möglich. Die Behörde habe unter anderem festgestellt, dass zahlreiche Vorsitzende der Wahlräte und deren Mitglieder keine Beamten waren. Das verstoße nach einer Änderung des Wahlgesetzes vom vergangenen Jahr gegen die Vorschriften.

Wählen, bis es passt.

ARD-Kommentar zur Türkei

Die AKP hatte damals trotz Einspruchs der Opposition durchgesetzt, dass nur noch Staatsbedienstete den Vorsitz in Wahlräten innehaben dürfen. Dies hatte sie deshalb durchgesetzt, weil die meisten Staatsbediensteten mittlerweile AKP-Mitglieder oder abhängig von der Gunst der AKP sind. Warum nicht bereits vor der Wahl gegen gesetzwidrig besetzte Wahlräte vorgegangen wurde, bleibt dabei eine weitere offene Frage. Wahlsieger Imamoglu kritisierte obendrein, dieselben Wahlräte seien bei den Parlaments- und Präsidentenwahlen im vergangenen Jahr im Dienst gewesen – und beim Referendum über die Einführung eines Präsidialsystems, mit dem Erdogan seine Machstellung ausgebaut hatte. Diese Abstimmungen, die Erdogan und seine Partei gewonnen hatten, müssten folglich auch fehlerhaft sein, argumentierte er.

Alles hört auf einen

Regelwidrigkeiten waren in vergangenen „Wahlen“ fast ausschließlich der AKP zuzurechnen, etwa als beim Verfassungsreferendum 2017 über eine Million nicht ordnungsgemäß gestempelter Wahlzettel aufgetaucht waren. Wahlanfechtungen der Opposition mit echten Beweisen für Wahlfälschungen wurden von der Wahlkommission jedoch stets abgewiesen. Die Wahrheit ist darum offensichtlich: Keine Behörde in der Türkei kann mehr frei entscheiden, alles untersteht der Diktatur des Diktators Erdogan. Zudem wurden alle Behörden und Gerichte mehrheitlich mit AKP-Getreuen besetzt, Kritiker mit dubiosen Begründungen entfernt und zum Teil sogar inhaftiert.

Das ist schlicht und einfach eine Diktatur.

Onursal Adigüzel, Oppositionsabgeordneter

Am späten Montagabend sagte Imamoglu bei einer Veranstaltung in Istanbul: „Ich verurteile die Hohe Wahlkommission.“ Er zeigte sich kämpferisch und rief seinen jubelnden Anhängern zu: „Ihr werdet sehen, wir werden gewinnen.“ Weiter sagte er: „Sie versuchen die Wahl, die wir gewonnen haben, zurückzunehmen. Vielleicht seid ihr aufgebracht, aber verliert nie eure Hoffnung.“ Die Menge skandierte „Recht, Gesetz, Gerechtigkeit“ und forderte die Mitglieder der Wahlkommission zum Rücktritt auf. In mehreren Bezirken Istanbuls standen die Menschen an den Fenstern und schlugen auf Töpfe und Pfannen – eine Protestform, die sich während der regierungskritischen Gezi-Proteste von 2013 etabliert hatte. „Gegen die AKP zu stimmen, ist erlaubt, aber Gewinnen ist verboten. Dieses System, das den Willen des Volkes mit Füßen tritt und die Justiz ignoriert, ist weder demokratisch noch legitim. Das ist schlicht und einfach eine Diktatur“, schrieb der CHP-Abgeordnete Onursal Adigüzel auf Twitter.

Faire Wahlen sind nicht zu erwarten

Die EU rief die Wahlkommission dazu auf, unverzüglich Einblick in die Gründe ihrer Anordnung zu gewähren. „Die Begründung für diese weitreichende Entscheidung, getroffen in einem höchst politisierten Kontext, sollte unverzüglich einer öffentlichen Untersuchung zugänglich gemacht werden“, erklärten die EU-Chefdiplomatin Federica Mogherini und Nachbarschaftskommissar Johannes Hahn. Freie, faire und transparente Wahlen seien essenziell für jede Demokratie und auch für die Beziehung zwischen der EU und der Türkei. „Es ist wichtig, dass die Istanbuler Wahlkommission ihre Arbeit in einer unabhängigen, offenen und transparenten Art ausüben kann.“ Internationale Wahlbeobachter müssten auch bei der Neuwahl willkommen sein.

Auch der Europarat kritisierte die Entscheidung. Die Voraussetzungen für freie und faire Wahlen müssten vor dem Wahltag überprüft werden und nicht danach, betonte Generalsekretär Thorbjorn Jagland. „Die Entscheidung des Hohen Wahlrates hat das Potenzial, das Vertrauen der türkischen Wähler in die Wahlbehörden schwer zu beschädigen.“

Istanbul wurde bis zum Wahlsieg Imamoglus 25 Jahre lang von islamisch-konservativen Bürgermeistern regiert. Die Niederlage für die AKP war ein Gesichtsverlust für Erdogan, der einst selbst Bürgermeister der Metropole mit rund 16 Millionen Einwohnern gewesen war. Während des Wahlkampfes hatte Erdogan erklärt: „Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei.“ Die 15-Millionen-Metropole erbringt rund 70 Prozent der türkischen Wirtschaftsleistung.