Das Verhalten der griechischen Regierung in den Finanzverhandlungen sorgt für immer mehr Unmut in der europäischen Politik. (Bild: BK)
Griechenland-Krise

Tag der Entscheidung in Luxemburg

Vor dem entscheidenden Treffen der Eurozonen-Finanzminister in Luxemburg zückt Griechenlands Links-Premier Alexis Tsipras wieder die russische Karte. Nur von Reformen wollen weder die Regierung in Athen noch ihre Wähler etwas wissen. Kreditgeber und europäische Partner wenden sich ab.

Der Terminkalender von Griechenlands Links-Premier Alexis Tsipras ist eine Waffe. Und er setzt sie kaltlächelnd ein. Am kommenden Donnerstag müssen sich die EU-Finanzminister bei ihrem Luxemburger Treffen mit der griechischen Regierung einigen. Sonst läuft das – schon zwei Mal verlängerte – zweite Rettungspaket aus, die letzte Rettungstranche über 7,2 Milliarden Euro verfällt, Athen kann am Monatssende fällige Rückzahlungen an den IWF über 1,6 Milliarden Euro nicht leisten, geht bankrott, könnte keine Nothilfe-Euros von der Europäischen Zentralbank mehr erhalten – und müsste eigenes Geld ducken. Griechenlands Euro-Ausstieg – der Grexit – wäre da. Am Donnerstag, übermorgen, fällt wahrscheinlich die Entscheidung.

Für den Tag nach der Entscheidung in Luxemburg, am Freitag, steht plötzlich ein neuer Termin in Tsipras‘ Termin Kalender: Ein Treffen mit Russlands Präsident Wladimir Putin in St. Petersburg. Die Botschaft an die Euro-Partner ist klar und lautet ungefähr so: „Dreimal dürft ihr raten, worüber wir reden werden, wenn ihr am Donnerstag falsch entscheidet.“ Athen zückt die russische Karte. Das ist gewagt, denn ob Russland helfen wird, ist keineswegs sicher. Viele Dinge können ganz schnell gehen nach dem Donnerstag.

Euro ja, Reformen nein

Genauso klar ist, dass Athen gegenüber den Kreditgebern offenbar keinen Millimeter nachgeben will. Und nicht nur die Regierung Tsipras lehnt Kompromiss und Reformen im Lande grundsätzlich ab – sondern die Mehrheit der griechischen Bevölkerung ganz genauso. Denn nichts anderes bedeutet die anhaltende Popularität der linksradikalen Syriza-Partei und von Premier Tsipras.

Es ist ziemlich offensichtlich, dass die Griechen keine Lust haben, ihre Gesellschaft zu modernisieren

Financial Times

Die Umfrage-Ergebnisse sind eindeutig: Wären heute Wahlen, könnte Syriza mit 35 Prozent der Stimmen rechnen, die konservative Oppositionspartei Nea Dimokratia nur mit einem Ergebnis zwischen 16 und 23 Prozent. Für Reformen, heißt das, gibt es in der griechischen Bevölkerung keine Mehrheit. „Es ist ziemlich offensichtlich, dass die Griechen keine Lust haben, ihre Gesellschaft zu modernisieren“, beobachtet denn auch die Londoner Tageszeitung Financial Times: „Eine von Klientelismus ruinierte Wirtschaft kümmert sie kaum.“ Dass 70 Prozent der Griechen gleichzeitig den Euro unbedingt behalten wollen, ist kein Widerspruch: Nur mit dem Euro fließen milliardenschwere Kredite und Zentralbank-Nothilfen weiter nach Griechenland. Euro ja, Reformen nein.

Athen will mehr Geld ausgeben

In ihrem letzten Angebot an Athen fordern die Gläubiger – EU, Internationaler Währungsfonds (IWF) und Europäische Zentralbank (EZB) – jedoch Renten- und Steuerreformen, die in ihrer Summe dazu führen sollen, dass Griechenland für die Jahre 2015 bis 2018 Primärüberschüsse – Haushaltsüberschüsse vor Zinszahlungen – von 1, 2, 3 und schließlich von 3,5 Prozent erzielt. Ohne solche Primärüberschüsse ist Griechenlands gigantische Verschuldung von über 180 Prozent der Wirtschaftsleistung nicht tragfähig, und der IWF müsste aus der Griechenland-Rettung austeigen.

Aber die Regierung Tsipras will mehr finanziellen Spielraum – also mehr Geld ausgeben – und bietet darum nur deutlich geringere Primärüberschüsse an. Zwischen der Forderung der Kreditgeber und dem jüngsten Angebot Athens klafft eine jährliche Lücke von wenigstens zwei Milliarden Euro – ein Prozent der griechischen Wirtschaftsleistung. Vergessen wird in allen Primärüberschussrechnungen allerdings gerne, dass die Athener Regierung seit geraumer Zeit keine Rechnungen mehr bezahlt und ihren griechischen Lieferanten inzwischen mindestens 4,4 Milliarden Euro schuldet – gut zwei Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes.

Von nennenswerte Renten- und Steuerreformen will Athen auch im sechsten Jahr der Krise nichts wissen. In der Tageszeitung Bild erklärte Finanzminister Yanis Varoufakis kürzlich allen Ernstes, dass Athen gar nicht in der Lage sei, die Mehrwertsteuern zu erhöhen und einzutreiben: „Wenn wir sie jetzt noch erhöhen, dann kommt noch weniger in die Kassen. Klingt verrückt, aber es ist so: Je höher diese Steuern, je weniger zahlen die Leute, sie fühlen sich dann berechtigt, nicht mehr zu zahlen.“ Das ist die Situation in Athen – nach sechs Jahren Schuldenkrise und über 300 Milliarden Euro Kredithilfen.

Unkalkulierbar und unfinanzierbar: Griechenlands Renten

Im Wortsinne unberechenbar ist in Athen auch das Thema Renten. Das oberste Verwaltungsgericht hat kürzlich die Rentenkürzungen von 2012 für rechtswidrig erklärt. Die Folgen sind unkalkulierbar. Tatsächlich gibt es auch nach sechs Jahren Schuldenkrise zur Rentenfrage in Griechenland kaum Zahlen zum Rententhema. Denn, schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung, „die Athener Regierungen haben Daten zu diesen Fragen mehr oder weniger geheim gehalten“. Offenbar aus gutem Grund. Denn bekannt ist immerhin, dass 2012 Griechenlands Renten 17,5 Prozent der Wirtschaftsleistung ausmachten (EU-Schnitt: 13,2; Deutschland: 12,3). Eine griechische Berechnung aus dem Jahr 2009 ermittelte für das Jahr 2050 Rentenzahlungen von mehr als 24 Prozent der Wirtschaftsleistung. Die Vorausschätzung würde heute noch weit dramatischer ausfallen. Denn seither ist Griechenlands Wirtschaft um über 25 Prozent geschrumpft. Erstaunlich, dass sich IWF, EU und EZB darüber bislang noch keine Klarheit verschafft haben. Sicher ist wohl: Das griechische Rentensystem, so wie es ist, ist nicht finanzierbar. Und mit kleinen Reform-Retuschen ist da wenig auszurichten.

Rentenkürzungen werde Griechenland nie zustimmen, tönte Finanzminister Varoufakis dennoch kürzlich wieder und lehnte auch die Liberalisierung des Arbeitsmarktes und Steuerreformen ab: „Bis hier her und nicht weiter.“ Stattdessen fordert Athen nun wieder laut eine „Umstrukturierung“ der griechischen Staatsschulden – sprich: einen Schuldenschnitt. Die Gläubiger-Institutionen müssten „begreifen, was realistisch ist“, drohte zuletzt in Athen Premierminister Tsipras.

Was wir jetzt brauchen, sind Entscheidungen, keine Verhandlungen

Donald Tusk, EU-Ratspräsident

Kein Wunder, dass sich Kreditgeber und europäische Partner abwenden. Der IWF zog kürzlich sein Verhandlungsteam aus Athen zurück. Die Zeit der Spielchen sei vorbei, erklärte in Brüssel EU-Ratspräsident Donald Tusk: „Was wir jetzt brauchen, sind Entscheidungen, keine Verhandlungen.“ Selbst Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ist der Geduldsfaden gerissen: Er hat einen letzte Vermittlungsversuch abgebrochen und hält es Presseberichten zufolge für nicht mehr möglich, mit Athen zu einer Verständigung zu kommen. EZB-Chef Mario Draghi stellte indirekt die Fortsetzung der EZB-Liquiditätsnothilfen für griechische Banken in Frage.

Tag der Entscheidung

Zwei Tage vor dem entscheidenden Finanzministertreffen in Luxemburg stehen die Zeichen schlecht. Presseberichten zufolge bereitet man sich in Brüssel schon auf das Scheitern der Luxemburger Verhandlungen vor – und auf einen EU-Krisengipfel am Wochenende. In Athen soll Premier Tsipras davon gesprochen haben, die am 30. Juni fällige IWF-Tilgungsrate schuldig zu bleiben – das haben sich bisher nur Entwicklungsländer wie Simbabwe, Sudan und Somalia geleistet.

Nach fünf Jahren Griechenlandkrise und Rettungspaketen über Hunderte von Milliarden Euro, die wenig bewirkt haben, ist jetzt der Tag der Entscheidung gekommen – für die Griechen und für die übrigen Europäer. „Wenn die Griechen die Armut wählen, dann soll man sie halt lassen“, titelt dazu wieder die Financial Times: „Wenn die Griechen nicht modernisieren wollen, dann sollten wir das akzeptieren. … Ohne wirtschaftliche und soziale Reformen wird Griechenland ein relativ armes  Land bleiben. Aber es ist nicht die Sache des übrigen Europas, den Griechen Reformen aufzuzwingen. Es sollte den Griechen nur glasklar machen, dass es ohne ernsthafte Reformen keine neuen Kredite mehr geben kann.“

Entweder lässt sich Alexis Tsipras in letzter Minute doch noch darauf ein – oder es bleibt ihm nur noch Wladimir Putin, am Freitag in St. Petersburg.