Diktatoren unter sich: Recep Erdogan (r.), Türkei, und Vladimir Putin, Russland. (Bild: Imago/Depo Photos)
Erdogan

Die Türkei als Geiselnehmer

Mehr als fünf lange Monate nach ihrer Festnahme beginnt nun der Prozess gegen die in der Türkei inhaftierte deutsche Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu. Wie auch einige andere Inhaftierte gilt sie als Geisel des türkischen Diktators.

Tolu hat vor Gericht die gegen sie erhobenen Terrorvorwürfe zurückgewiesen. „Ich fordere meine Freilassung und meinen Freispruch“», sagte Tolu am ersten Verhandlungstag vor. „Ich habe keine der genannten Straftaten begangen und habe keine Verbindung zu illegalen Organisationen.“ Die 33-Jährige gehört zu einer Gruppe von 18 Angeklagten, denen Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in der linksextremen MLKP vorgeworfen wird. Nach Angaben von Tolus Anwältin Kader Tonc drohen ihrer Mandantin in dem Verfahren vor dem Gericht in Silivri westlich von Istanbul bis zu 20 Jahre Haft. Sie sagte der Zeitung Neues Deutschland kurz vor Prozessbeginn, sie glaube nicht an ein faires Verfahren. „Man möchte sich an der politischen Opposition und der Presse mit den zu fällenden Urteilen rächen.“ Schon die Inhaftierung Tolus sei „aus politischen Gründen“ erfolgt.

Die Spezialeinheit der Polizei hat nicht nur die Waffe auf meinen Sohn gerichtet, sondern sie haben mich auch noch vor den Augen meines Kindes gewaltsam festgenommen.

Mesale Tolu

Tolu hat ihren zweijährigen Sohn bei sich im Frauengefängnis im Istanbuler Stadtteil Bakirköy, weil auch ihr Ehemann Suat Corlu ebenfalls unter Terrorverdacht verhaftet wurde. Er gehört nicht zu den 18 Angeklagten. Tolu kritisierte, dass sie seit mehr als fünf Monaten ohne Urteil in Istanbul in Untersuchungshaft gehalten werde. „Deswegen lebt mein Sohn, der eigentlich in den Kindergarten gehen müsste, seit fünf Monaten mit mir im Gefängnis“, sagte sie. „Aus diesem Grund ist die Untersuchungshaft nicht nur für mich, sondern auch für meine Familie und für meinen Sohn zur Bestrafung geworden.“ Sie kritisierte die Umstände ihrer Festnahme am 30. April, als Anti-Terror-Polizisten ihre Wohnung in Istanbul stürmten. „Die Spezialeinheit der Polizei hat nicht nur die Waffe auf meinen Sohn gerichtet, sondern sie haben mich auch noch vor den Augen meines Kindes gewaltsam festgenommen.“

Man möchte sich an der politischen Opposition und der Presse mit den zu fällenden Urteilen rächen.

Kader Tonc, Anwältin von Mesale Tolu

Tolu besitzt nur die deutsche Staatsbürgerschaft. Sie wurde in Ulm geboren und hat ihren Hauptwohnsitz in Neu-Ulm. Sie arbeitete als Journalistin und Übersetzerin für die linke Nachrichtenagentur Etha. Deren Internetseite ist in der Türkei zwar gesperrt. Etha ist bislang aber – anders als zahlreiche andere regierungskritische Medien in der Türkei – nicht verboten worden.

Noch ein Schauprozess des Diktators

In der Anklageschrift – die der dpa in Teilen vorliegt – wird Tolu die Teilnahme an vier Veranstaltungen vorgeworfen, bei einer davon soll sie ein Banner einer MLKP-Splittergruppe getragen haben. In ihrer Wohnung soll außerdem Propagandamaterial gefunden worden sein. Tolu sagte, die Veranstaltungen seien weder verboten noch von der Polizei aufgelöst worden. Bei dem angeblichen Propagandamaterial habe es sich um eine legale Zeitschrift gehandelt, die „in jeder Buchhandlung“ verkauft werde.

Der türkische Journalist Can Dündar bezeichnete Tolu gegenüber der Bild als „Geisel“ von Erdogan. „Wahrscheinlich, um Stärke zu demonstrieren, oder aber, um sie für einen möglichen Austausch einzusetzen“, sagte er. Tolu und die anderen Journalisten und Menschenrechtler seien nur ihrer Arbeit nachgegangen.

Auch die Vize-Vorsitzende der Linken-Fraktion im Bundestag, Heike Hänsel, sagte: „Mesale Tolu – genauso wie Deniz Yücel, Peter Steudtner sowie zahlreiche weitere willkürlich Verhaftete – ist nichts anderes als eine Geisel von Präsident Recep Tayyip Erdogan“, sagte Hänsel. „Deshalb ist kein rechtsstaatliches Verfahren zu erwarten.“ Es handele sich um einen politischen „Schauprozess“. Hänsel will das Verfahren vor Ort beobachten.

Wie ein schlechter Roman.

Anwalt von Peter Steudtner, über die Anklageschrift

Die Bundesregierung fordert die Freilassung Tolus und von mindestens zehn weiteren Deutschen, die in der Türkei derzeit aus politischen Gründen inhaftiert sind – neben vielen weiteren Journalisten, Erdogan-Kritikern und zehntausenden weiteren türkischen Bürgern.

Die inhaftierten deutschen Geiseln

In der Türkei sind mindestens elf Bundesbürger aus politischen Gründen inhaftiert, die Dunkelziffer dürfte aber noch höher sein. Die Inhaftierungen haben eine schwere Krise zwischen Berlin und Ankara ausgelöst. Namentlich genannt werden in dem Streit immer wieder drei Gefangene:

– Mesale Tolu (33): Seit 30. April in Haft.

– Peter Steudtner (45): Steudtner, sein schwedischer Kollege Ali Gharavi und acht weitere Menschenrechtler wurden am 5. Juli bei einem Menschenrechtsseminar festgenommen. Steudtner sitzt im Gefängnis in Silivri in U-Haft. Ihm wird nach Angaben seines Anwalts Unterstützung einer Terrororganisation vorgeworfen. Ihm drohen bis zu zehn Jahre Haft. Steudtners Anwalt sagt, die am vergangenen Sonntag vorgelegte Anklageschrift lese sich „wie ein schlechter Roman“.

– Deniz Yücel (44): Der Welt-Korrespondent stellte sich am 14. Februar der Polizei, am 27. Februar wurde gegen ihn U-Haft verhängt. Das Gericht begründete das mit dem Verdacht der Terrorpropaganda und der Volksverhetzung. Erdogan beschuldigte Yücel außerdem öffentlich, ein Terrorist und deutscher Spion zu sein, ohne dafür Belege zu präsentieren – eine Vorverurteilung, die nichts Gutes erwarten lässt. Eine Anklageschrift hat die Staatsanwaltschaft immer noch nicht vorgelegt. Mit dem Fall beschäftigt sich auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Yücel hat neben der deutschen auch die türkische Staatsbürgerschaft. Er sitzt wie Steudtner im Gefängnis in Silivri.

Streit mit den USA

Auch vor amerikanische Geiseln schreckt die Türkei nicht zurück. Ein türkischer Mitarbeiters des US-Generalkonsulats in Istanbul wurde vergangene Woche verhaftet. Danach hatten die USA die Vergabe von Visa in ihren Vertretungen in der Türkei auf unbestimmte Zeit ausgesetzt, worauf die Türkei den gleichen Schritt ging. Erdogan griff den scheidenden US-Botschafter in Ankara, John Bass, scharf an. „Wir erkennen ihn nicht als den Vertreter der Vereinigten Staaten von Amerika in der Türkei an.“ Agenten hätten das US-Generalkonsulat in Istanbul unterwandert, behauptete der Diktator, erneut ohne Beweise dafür vorzulegen. Dem inhaftierten Mitarbeiter werden wie üblich Verbindungen zur Bewegung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen vorgeworfen, den Erdogan für den angeblichen Putschversuch vom Juli 2016 verantwortlich macht. Bereits im Frühjahr war ein türkischer Mitarbeiter der amerikanischen Vertretung in Adana inhaftiert worden. Nach einem weiteren einheimischen Mitarbeiter des Konsulats in Istanbul wird gefahndet.