Eine Mehrheit der Abgeordneten des Europäischen Parlaments hat parteiübergreifend für eine Aussetzung der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei gestimmt, wenn das heftig umstrittene türkische Verfassungsreform des Diktators Recep Erdogan umgesetzt wird. Diese könnte nach Einschätzung von Experten die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz einschränken. Vorerst geht es dem EU-Parlament lediglich um eine unverbindliche Aufforderung an die EU-Kommission, die die Gespräche mit Ankara führt.
Für uns ist diese Entscheidung null und nichtig.
Türkisches Außenministerium
Die türkische Regierung hat dies scharf zurückgewiesen. „Für uns ist diese Entscheidung null und nichtig“, teilte das türkische Außenministerium am Donnerstag mit. Sie basiere auf „haltlosen Behauptungen und Beschuldigungen“. Die Entscheidung des demokratisch gewählten EU-Parlaments wird also von der türkischen Regierung für nichtig gehalten. Vor der Abstimmung im EU-Parlament hatte EU-Minister Ömer Celik betont, dass die Türkei weiter eine EU-Vollmitgliedschaft anstrebe.
Dann entwickelt sich das Land noch weiter weg von sämtlichen rechtsstaatlichen und demokratischen Prinzipien der Europäischen Union.
Angelika Niebler, MdEP
Dazu erklärte die Vorsitzende der CSU-Gruppe im Europäischen Parlament, Angelika Niebler: „Wenn tatsächlich umgesetzt wird, was durch das Verfassungsreferendum in der Türkei beschlossen wurde, dann entwickelt sich das Land noch weiter weg von sämtlichen rechtsstaatlichen und demokratischen Prinzipien der Europäischen Union.“ Ein Beitritt der Türkei in die EU komme nicht in Frage. „Wenn die Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten, der demokratischen Werte und der Rechtsstaatlichkeit nicht gewährleistet ist, dann stellt dies genau jene Bedingungen in Frage, die die Türkei 1999 akzeptierte, als sie Beitrittskandidat wurde“, betonte Niebler. Unmittelbare Folge der Suspendierung von Beitrittsverhandlungen wäre die Einstellung der Zahlung von Vorbeitrittshilfen. Die Gelder sollen aber den Flüchtlingen in der Türkei zugutekommen, berichtete die CSU-Abgeordnete.
Der Marsch gegen die Diktatur
Für Erdogan spielt das keine Rolle, für ihn war die EU ohnehin nur das Hilfsmittel, um die türkische Armee als Gegenspieler seines Islamisierungs-Kurses zu entmachten. Ihn beschäftigen derzeit andere Dinge: der Vormarsch der Kurden-Milizen in Syrien, die Krise um das mit der Türkei verbündete Golf-Emirat Katar und ein Marsch der unbeugsamen Opposition von Ankara nach Istanbul.
Initiator des „Gerechtigkeitsmarsches“ ist der Chef der einzig verbliebenen Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu. Die CHP ist die Partei des Staatsgründers Atatürk. Am 15. Juni starteten nur wenige Läufer um den CHP-Chef in Ankara, die weiße Mützen mit der roten Aufschrift „Adalet“ tragen, „Gerechtigkeit“. Mittlerweile laufen tausende Demonstranten gegen Erdogans islamische Diktatur zu Fuß zum Ziel in Istanbul, wo sie am Sonntag eintreffen sollen. Auch die pro-kurdische Partei HDP, von Erdogan durch zahlreiche Verhaftungen, Anklagen und Unrechtsurteile praktisch in ihre Bestandteile zerlegt, unterstützt mittlerweile den Marsch.
Täglich werden es mehr Läufer, so dass es selbst für die Erdogan hörige türkische Polizei schwer werden dürfte, die Demonstranten niederzuknüppeln – wie sie es 2013 bei den Gezi-Park-Protesten tat. Erdogan würde überdies mit einer gewalttätigen Aktion Kilicdaroglu zum Helden machen. Bedenklich ist allerdings, dass er die Läufer verbal bereits in die Nähe von Terroristen rückte und Folgen androhte.
In der Türkei hat sich ein Klima der Angst breit gemacht.
Kemal Kilicdaroglu, CHP, letzter Oppositionsführer in Freiheit
Der Marsch ist so etwas wie der letzte Aufstand der Anständigen im Land gegen den Diktator, gegen Massenverhaftungen und Massenentlassungen, gegen die Islamisierung des einst säkularen Landes. Immerhin hatte fast die Hälfte des türkischen Volkes gegen die Verfassungsreform gestimmt, die Erdogan uneingeschränkte Macht gibt. „In der Türkei hat sich ein Klima der Angst breit gemacht“, sagt Kilicdaroglu. Er muss sich allerdings vor den eigenen Leuten dafür rechtfertigen, dass seine Partei sowohl der Verhängung des Ausnahmezustandes als auch der Aufhebung der Immunität von rund 130 Abgeordneten zugestimmt hatte.
G20 und Redeverbot
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) wird am 6. Juli in Hamburg voraussichtlich auch den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan treffen. Das Gespräch vor Beginn des G20-Gipfels finde auf Wunsch Ankaras statt, teilte Regierungssprecher Steffen Seibert mit. Zwischen Berlin und Ankara gibt es erhebliche Verstimmungen – zuletzt hatte die Bundesregierung einen von Erdogan gewünschten öffentlichen Auftritt vor Anhängern während seines Besuches untersagt. Am Montag machte sie zudem klar, dass auch ein Auftritt in einem türkischen Konsulat nicht akzeptiert werde.
Der Bundestagsabgeordnete Norbert Röttgen verteidigte in der TV-Talkshow „Maischberger“ das Auftrittsverbot für Erdogan. Dieser säe „Unfrieden, auch zwischen den türkischen Staatsbürgern, die hier leben. Er spaltet, er schafft die Demokratie ab, er schafft den Rechtsstaat ab. Er führt einen militärischen Kampf gegen die Kurden in der Türkei und jenseits der Grenzen der Türkei.“ Deshalb dürfe man einem Staatsoberhaupt, „das sich so verhält, politische Opponenten ins Gefängnis bringt, die Justiz ihrer Unabhängigkeit beraubt, den Staat säubert“, keine Plattform geben, „um gegen diese Werte der Demokratie zu reden“.
Kurz vor dem G20-Gipfel hat der türkische Autokrat in einem Interview mit der Zeit kritisiert, nicht vor seinen Landsleuten sprechen zu können. „Deutschland begeht Selbstmord. (…) Deutschland muss diesen Fehler korrigieren.“ Erdogan betonte zugleich die Bedeutung der türkisch-deutschen Beziehungen angesichts der gemeinsamen Nato-Mitgliedschaft, der Handelsbeziehungen und der Millionen Türken, die in Deutschland leben. „Wir brauchen einander“, erklärte er. Er habe auch kein Problem mit der Kanzlerin. Allerdings seien die Beziehungen mit ihrem Vorgänger Gerhard Schröder „wirklich sehr anders“ gewesen. Schröders rot-grüne Bundesregierung hatte den Fehler begangen, Erdogan trotz Warnungen aus CDU und CSU für harmlos zu halten und die Türkei zum EU-Beitrittskandidaten zu machen.
Menschenrechte in Gefahr
Die Bemühungen Berlins im Fall des inhaftierten deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel nannte Erdogan: „sehr, sehr sonderbar.“ Auf die Frage, ob ein Journalist, der Terroristen oder auch nur einen vermeintlichen Terroristen interviewe, dadurch in seinen Augen zum Unterstützer werde, meinte der Diktator: „Sie leisten damit Beihilfe zur Propaganda der Terroristen. Das wird auch von den Anklageorganen überall auf der Welt so bewertet.“
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat unterdessen die türkische Regierung einem Bericht der Zeitung Die Welt zufolge aufgefordert, eine Stellungnahme zum Fall Yücel abzugeben.