Ein Rettungsschiff nähert sich im Mittelmeer einem Boot mit Migranten. (Foto: Imago/Rene Traut)
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Mittelmeerroute schließen

Kommentar Der Menschenstrom aus Afrika bringt Italien an die Belastungsgrenze. Für die EU steckt darin doppelter Sprengstoff: Es drohen Konflikte zwischen Mitgliedsstaaten und der Aufstieg antieuropäischer Populisten. Brüssel muss dringend handeln.

In Italien schwellen Migrantenströme gefährlich an. Darin steckt politischer Sprengstoff für die EU: Wien droht mit Kontrollen an der Brennergrenze. Rom verlangt ein EU-Verfahren gegen Österreich. Paris wirft Rom vor, Europa Hunderttausende Wirtschaftsmigranten aufbürden zu wollen und kontrolliert an der Côte-d’Azur-Grenze eisern. Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei verweigern genauso eisern die Aufnahme von Migranten.

Unhaltbare Lage in Italien

Die Zahlen aus Italien geben Wien recht. 85.000 afrikanische Migranten haben in diesem Jahr schon über Libyen sizilianische und italienische Häfen erreicht. Mit den 181.000 Menschen, die im Jahr 2016 Italien erreicht haben, sind das mehr als 260.000. Diesen Mai wurden in italienischen Einrichtungen aber nur 177.000 Zuwanderer gezählt. Man ahnt wohin die übrigen entschwunden sind: nach Norden Richtung Schweiz und Österreich, nach Nordwesten Richtung Frankreich. Und der Druck steigt: Bis zum Jahresende könnte die Zahl der Ankünfte in Italien auf bis zu 300.000 steigen.

Rom ist schon jetzt der Belastungsgrenze nahe: Der Staatspräsident spricht von „unhaltbarer Lage“. Die Regierung droht, die Häfen zu schließen, um NGO-Schiffe mit Migranten umzuleiten, etwa nach Marseille oder Barcelona. „Italien ist am Zusammenbrechen“, sagt man in Paris und fürchtet schon afrikanische Migrantrenströme quer durch das eigene Land nach Calais.

Brüssel verkennt die Lage

Und die EU versagt. Brüssel kann die Schengen-Außengrenzen nicht schützen, weder in Griechenland noch in Italien. Zum Ausgleich produziert die Kommission untaugliche Pläne. Ein allerjüngster Aktionsplan setzt auf libysche Behörden, libysche Grenzwächter und ein libysches Seenotrettungszentrum. Problem: Eine handlungsfähige libysche Regierung, die das umsetzen könnte, gibt es nicht.

Für libysche Stämme und Milizen ist der Migrantenschmuggel längst das wichtigste Geschäft – Millionenbeträge aus Brüssel nimmt man gerne dazu. Zehntausende afrikanische Migranten steigen an Libyens Küsten in die Boote – und genau dann verschwinden funkelnagelneue von Brüssel bezahlte libysche Küstenwachboote aus den internationalen Gewässern vor Libyen, wie die französische Le Monde berichtet. Brüssel verschließt die Augen vor der libyschen Realität.

Verdoppelung in 23 Jahren

Und vor der afrikanischen. Dort haben sich seit 1950 überall die Bevölkerungen versechs- und verachtfacht. Tendenz steigend: In nur 23 Jahren wird sich Afrikas Bevölkerung von jetzt 1,2 Milliarden auf 2,5 Milliarden weiter verdoppeln. Allein Nigeria, von wo schon jetzt die meisten Italien-Migranten kommen, wird von heute 180 Millionen (1950: 38 Millionen) auf 440 Millionen wachsen und dann das drittbevölkerungsreichste Land der Welt sein (im Jahr 2100: 900 Millionen!).

Das bedeutet: 260 zusätzliche Millionen in nur 33 Jahren, nur in Nigeria. Syrien, das den Europäern vor zwei Jahren eine Flüchtlingskrise bescherte, zählte vor dem Bürgerkrieg gerade einmal 24 Millionen Einwohner. Die Europäer müssen sich klar machen: Die richtige Migrantenkrise haben sie noch gar nicht gesehen.

Frankreichs Angst vor Afrika

Wenn Brüssel nun den Druck auf Warschau oder Budapest verstärkt, verkennt es außerdem die politische Realität in anderen europäischen Hauptstädten. Etwa in Paris. Vor anderthalb Jahren hat sich Frankreich eine ganze Woche lang an seine großen Banlieue-Aufstände vom Oktober 2005 erinnert. Jetzt fürchtet Paris die Wiederholung und hat vor allem eine große Angst: Dass sich aus dem frankophonen Afrika Hunderttausende, gar Millionen auf den Weg machen nach Frankreich und in französische Banlieues. Nicht nur Polen, sondern auch Frankreich will im Grunde keine Migranten, jedenfalls nicht viele. Übrigens: In einer brandneuen Umfrage sagen 65 Prozent der Franzosen genau dies ganz offen (Le Monde). Präsident Macron, der verspricht, dass er die Wähler ernst nehmen will, wird danach handeln.

Populistische Gefahr

Die Österreicher machen am Brenner Wahlkampf, schimpft jetzt die Regierung in Rom. Richtig: Im Oktober wird in Österreich gewählt. Die Wähler haben Angst vor der Rückkehr der Migrantenkrise und lassen sich von populistischen Tönen leicht mobilisieren. Die Große Koalition in Wien muss das ernst nehmen und die österreichischen Wähler beruhigen – am Brenner. Sonst könnten die Populisten und Anti-Europäer gewinnen – weiterer Sprengstoff für die EU. Weder Rom noch Brüssel können das wollen.

Womit von bevorstehenden Wahlen und von der populistischen Versuchung im größten EU-Krisenland noch gar nicht geredet ist: Auch in Italien wird gewählt, im kommenden Frühjahr. Für die Europäische Union geht es dann um alles oder nichts.

Europa braucht Schutz

Die EU-Kommission muss endlich auf Österreichs Außenminister und ÖVP-Kanzlerkandidat Sebastian Kurz hören: Die Mittelmeerroute muss geschlossen werden. Sonst droht Europa große Gefahr, von außen und von innen. Es mag sonderbar klingen: Aber Europa braucht erstens Schutz vor Afrika. Wenn der gewährleistet ist, sollen die Europäer zweitens Afrika helfen.