Vor der großen Völkerwanderung
Bilanz am Weltflüchtlingstag: Über 65 Millionen Menschen waren im vergangenen Jahr auf der Flucht. Der Migrationsdruck aus Afrika wächst dramatisch. Europas Migrantenkrise geht weiter: An Italiens Grenzen sammeln sich wieder viele Migranten.
Migration

Vor der großen Völkerwanderung

Bilanz am Weltflüchtlingstag: Über 65 Millionen Menschen waren im vergangenen Jahr auf der Flucht. Der Migrationsdruck aus Afrika wächst dramatisch. Europas Migrantenkrise geht weiter: An Italiens Grenzen sammeln sich wieder viele Migranten.

65,5 Millionen Menschen flohen im vergangenen Jahr vor Krieg, Gewalt und Verfolgung, 300.000 mehr als im Jahr davor. Das berichtet das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR). Noch nie seien so viele Menschen entwurzelt gewesen wie im Moment: Allein in Syrien mussten zwei Drittel der Einwohner ihre Heimat verlassen. Jeder 113. Mensch auf der Welt sei ein Flüchtling, so UNHCR. Seit 1997 habe sich die Flüchtlingszahl damit praktisch verdoppelt.

Was UNHCR nicht sagt: Das Problem heißt nicht Syrien, Irak oder Afghanistan. Es heißt: Afrika, hat derzeit wenig mit Krieg zu tun und betrifft und bedroht vor allem Europa. Viele Europäer sehen es noch nicht: Aber sie stehen erst am Anfang großer Entwicklungen. Denn die wirkliche afrikanische Fluchtwelle – oder richtiger: Migrationswelle – kommt erst noch.

Afrika: Bevölkerungsverdopplung  bis 2050

Die Zahlen lassen keinen Zweifel. 1950 hatte ganz Afrika etwa 238 Millionen Einwohner. Heute sind es 1,2 Milliarden – gut fünf Mal soviel. Im Jahr 2050 werden es UN-Angaben zufolge 2,5 Milliarden sein – eine Verdopplung in 32 Jahren. Und etwa fünf Mal die Bevölkerung Europas. Bis zum Jahr 2100 wird Afrikas Bevölkerung auf deutlich über vier Milliarden wachsen.

Wird die Entwicklung Subsahara-Afrikas bis 2050 unblutiger verlaufen als in den 60 Jahren bis heute?

Gunnar Heinsohn, Soziologe und Demographie-Experte

Für Afrika verheißt das nichts Gutes: Seit dem Ende der Kolonialregime Ende der 50er Jahre starben in Subsahara-Afrika etwa 18 Millionen Personen in Bürgerkriegen, Vertreibungen und Völkermorden, erläuterte jüngst in München der Soziologe und Demographie-Experte Gunnar Heinsohn. Seit 1960 hat sich die Bevölkerung Subsahara-Afrikas von 180 Millionen auf heute 980 Millionen gut vervierfacht. Und so geht es weiter: Im 2050 wird Subsahara-Afrika 2,1 Milliarden Menschen zählen. Heinsohn: „Wird die Entwicklung Subsahara-Afrikas bis 2050 unblutiger verlaufen als in den 60 Jahren bis heute?“ Eine rhetorische Frage, die nur eines bedeutet: Flucht und Migration aus Subsahara-Afrika in Richtung Norden werden dramatisch wachsen.

Richtigen Migrationsdruck haben wir noch gar nicht erlebt.

Serge Michailof, französischer Ökonom und Afrika-Experte

Praktisch jedes afrikanische Land hat seit 1950 seine Bevölkerung vervier- verfünf-, versechs- oder wie das Sahelzonen-Land Niger von 2,5 Millionen auf heute 20 Millionen Einwohner verachtfacht. In zwanzig Jahren werden es in Niger schon 40 Millionen und im Jahr 2050 zwischen 60 und 90 Millionen sein.

A propos Sahelzone: Die vier Sahel-Länder Niger, Tschad, Mali und Burkina Faso zählen heute zusammen 67 Millionen Einwohner. In nur 20 Jahren werden es 130 Millionen sein, so der französische Ökonom und Afrikaexperte Serge Michailof im Interview mit der Pariser Tageszeitung Le Figaro. Zur Erinnerung: Syrien, das den Europäern seit zwei, drei Jahren eine Migrantenkrise beschert, hatte vor Beginn des Bürgerkriegs 24 Millionen Einwohner. Nichts im Vergleich zu dem, was sich in der Europa so nahen Sahelzone anbahnt. Michailof: „Richtigen Migrationsdruck haben wir noch gar nicht erlebt.“

Die Migrantenkrise geht weiter

Wer die Zahlen kennt, ahnt, was Europa bevorsteht. Denn auf der sogenannten zentralen Mittelmeerroute zwischen Libyen und Italien bahnt sich die die große afrikanische Völkerwanderung unübersehbar an. Seit Jahresanfang erreichten bis zum 14. Juni auf dieser Route 65.450 Migranten Italien – 20 Prozent mehr als im vergangenen Jahr. Den Zahlen der zur UN gehörenden Internationalen Organisation für Migration zufolge bei stark steigender Tendenz: Allein im Mai waren es 22.993 und nur in der letzten Mai-Woche 10.111 Migranten.

An einem durchschnittlichen Wochenende kommen fast 10.000 Personen auf italienischen Aufnahme-Inseln an.

The Wall Street Journal

Sie kommen fast alle aus Subsahara-Afrika und dort überwiegend aus Westafrika. Unter den 60.228 bis Ende Mai angekommenen Migranten führt Nigeria mit 9286 Personen die Liste an (2054 mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres), gefolgt von 5960 Personen aus Guinea (2016: 3437), 5657 Migranten aus Elfenbeinküste (3686), 4011 Gambiern (4271), 3935 Senegalesen (3010), 3150 Maliern (2874), 2344 Eritreern (6501) und 2327 Sudanesen (2912). Dazu kommen 7106 Migranten aus Bangladesch – gegenüber den 20 Bangladeschis des Vorjahres eine Verdreihundertfünfzigfachung – und 3327 Migranten aus dem nordafrikanischen Marokko (1285).

Nur zehn Prozent Frauen

Auffällig: In keinem der Herkunftsländer herrscht Krieg. Im Norden Nigerias und in Mali kommen Terroranschläge vor. In Südsudan kämpfen die beiden wichtigsten Stämme brutal um die Macht – regional mit Mord, Totschlag und Vergewaltigungen.

Auch auffällig: IOM-Angaben zufolge sind 75 Prozent der bis Ende Mai in Italien angelandeten Migranten Männer, nur zehn Prozent sind Frauen. Aus Nigeria kamen immerhin auch 2800 Frauen, aus Guinea 181, aus Gambia und Senegal 81 und 41. Aus dem noch am härtesten umkämpften Sudan kamen genau 23 Frauen. Aus Bangladesch kamen mit 5881 Männern exakt 25 Frauen – aber 1170 unbegleitete Jugendliche. Insgesamt befanden sich unter den Migranten, die in den ersten fünf Monaten des Jahres auf der zentralen Mittelmeerroute Italien erreichten, 657 Kinder mit Begleitperson – und 8312 unbegleitete Jugendliche.

Überfahrt für 150 Euro

Europas Migrantenkrise ist aus den Schlagzeilen. Aber sie geht weiter. An einem durchschnittlichen Wochenende kommen derzeit fast 10.000 Migranten in Italien an, berichtet die US-Tageszeitung The Wall Street Journal. Beobachter erwarten, dass bis Jahresende mindestens 300.000 Migranten über die zentrale Mittelmeerroute nach Italien strömen werden. Und damit in der Mehrzahl nach Deutschland. Im vergangenen Jahr waren es 181.000, die in Italien ankamen. In ihrem jüngsten Bericht schreibt die IOM von wachsenden Zahlen von Migranten, die sich an den Grenzen zu Österreich (Bozen), Frankreich (Ventimiglia) und der Schweiz (Como) stauen: „Vom Hotspot – Aufnahmelager – Tarent wird berichtet, dass dort wöchentlich Busse ankommen mit Migranten, die von italienischen Behörden in den Grenzregionen abgefangen werden, um sie daran zu hindern, das Land zu verlassen.”

Im vergangenen Monat wurde von wachsenden Migrantenzahlen an den italienischen Grenzen zu Österreich, Frankreich und der Schweiz berichtet.

IOM

Für die Prognose braucht es keinen Propheten: Der Druck in Italien wird zunehmen. Auf der libyschen Seite sollen je nach Beobachter zwischen 500.000 und über sechs Millionen afrikanische Migranten auf eine Gelegenheit zu Überfahrt warten – für die sie umgerechnet nur etwa 150 bis 200 Euro bezahlen müssen.