Edmund Stoiber, Ehrenvorsitzender der CSU und ehemaliger Bayerischer Ministerpräsident (Foto: BK/Nikky Maier).
Kolumne

Europas Chance: weniger, aber effizienter!

Gastbeitrag Heute vor 60 Jahren wurden die Römischen Verträge unterzeichnet – der Gründungsakt der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der heutigen EU. In Rom treffen sich die Staats- und Regierungschefs zum Festakt. Zum Jahrestag plädiert Edmund Stoiber für eine engere europäische Zusammenarbeit, die sich auf entscheidende Politikfelder konzentriert.

Die Zukunft Europas steht in den Sternen. Aber kein ernstzunehmender Sterndeuter weiß, wie sie aussieht. Zu groß ist die Unsicherheit: Bleibt der Brexit ein Einzelfall oder versuchen weitere Länder einen Austritt aus der EU zu forcieren? Das ist in den Niederlanden nach der Wahl unwahrscheinlich, in Frankreich aber nach wie vor eine Gefahr. Bekommt das wirtschaftliche Fundament durch einen Handelskrieg mit den USA Risse? Wie geht es mit der Nato weiter, dem Schutzschirm Europas? Wird der Euro auch die nächsten fünfzehn Jahre überleben?

Eine grundlegende Kursänderung der EU ist unumgänglich. Aber wohin soll die Reise gehen?

Edmund Stoiber

Und wie geht die EU mit der dauerhaften Herausforderung der Migration aus dem Nahen Osten und Afrika um? 60 Jahre nach Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft durch die Römischen Verträge sind viele Fragen offen. Auch jeder (kritische) Europa-Optimist, zu denen ich mich grundsätzlich zähle, muss einsehen, dass ein „Weiter so“ keine Lösung sein kann. Eine grundlegende Kursänderung der EU ist unumgänglich. Aber wohin soll die Reise gehen?

Der EU-Kommission ist es hoch anzurechnen, dass sie in einem Weißbuch relativ neutral fünf Entwicklungsmodelle zur Diskussion gestellt hat, von einer Reduzierung der EU auf eine reine Wirtschaftsgemeinschaft über ein „Weiter so“ bis hin zu einer weiteren Vertiefung mit dem Ziel eines Bundesstaates Europa. Das ist eine bemerkenswerte Abkehr von der undifferenzierten Europabegeisterung der Kommission nach dem Motto des großen Europäers Jean Monnet: „Jede Regelung für Europa ist gut für Europa“.

Gefährlich: Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten

Viele maßgebliche Politiker, darunter Bundeskanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Hollande befürworten ein „Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“, also ein Kerneuropa, bestehend aus Deutschland, Frankreich und weiteren „fortschrittlichen“ Ländern, um das sich konzentrische Kreise von anderen Ländern bilden, die themenabhängig zusammenarbeiten. Die Kommission nennt hier die Besteuerung und Sozialstandards als Beispiele. Ich habe dieses Modell, das schon vor über 20 Jahren heftig diskutiert wurde, noch nie als über alle Politikbereiche anwendbare Lösung angesehen. Es ist nicht vergleichbar mit der heute schon bestehenden Möglichkeit einer verstärkten Zusammenarbeit, die nur unter eng umgrenzten Bedingungen möglich ist.

Kein politisch Verantwortlicher in der EU kann es gegenüber seiner Bevölkerung auf Dauer rechtfertigen, dass sein Land in vielen Bereichen nur noch die zweite Geige spielen kann.

Edmund Stoiber

Ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten geht viel weiter. Es droht ein Zwei-Klassen-Europa. Das Problem liegt nicht so sehr in der praktischen Durchführbarkeit, sondern in der Psychologie, in den nationalen Befindlichkeiten. Kein politisch Verantwortlicher in der EU kann es gegenüber seiner Bevölkerung auf Dauer rechtfertigen, dass sein Land in vielen Bereichen nur noch die zweite Geige spielen kann. Gerade was die Sozialpolitik angeht, darf es nicht sein, dass einige wenige, finanziell starke Länder ihre Sozialstandards auf hohem Niveau harmonisieren, während sich die ärmeren Länder das nicht leisten können. Das würde die Axt an den europäischen Solidaritätsgedanken legen.

Das Wohlstandsgefälle in der EU ist durch die Osterweiterung so groß geworden, dass eine weitere Vertiefung der Gemeinschaft schwer möglich erscheint.

Edmund Stoiber

Wir Deutschen müssen die gerade von den osteuropäischen Ländern vorgebrachten Bedenken gegen ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten sehr ernst nehmen. Denn Deutschland war der größte Befürworter eines raschen EU-Beitritts der ehemaligen Ostblockstaaten. Jetzt zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass die Erweiterung und die Vertiefung der EU eben nicht zwei Seiten einer Medaille sind, wie es insbesondere Helmut Kohl in den 90er Jahren gemeint hat, sondern dass das Gegenteil richtig ist. Das Wohlstandsgefälle in der EU ist gerade durch die Osterweiterung mittlerweile so groß geworden, dass eine weitere Vertiefung der Gemeinschaft schwer möglich erscheint.

Weniger, aber effizienter!

Ich plädiere für ein anderes Szenario. Die EU-Kommission nennt es „Weniger, aber effizienter.“ Der Fokus enger europäischer Zusammenarbeit sollte gezielt auf wenige Politikbereiche gerichtet werden, in denen die ganze Kraft der EU gebraucht wird, um die anstehenden Herausforderungen zu lösen. Europa muss groß sein in den großen Dingen und klein in den kleinen. Da, wo die Nationalstaaten es besser können, sollen Kompetenzen an die nationale oder regionale Ebene zurückgegeben werden, etwa in der Regionalförderung oder im Verbraucherschutz. Dort, wo Europa einen echten Mehrwert für die Nationalstaaten hat, muss es eigenverantwortlich und rascher als bisher handeln können. Dazu zählen die Zuwanderungspolitik, die Handelspolitik, die Sicherheitspolitik und die Verteidigungspolitik. In diesem Modell wird niemand zurückgelassen: alle künftig 27 Mitgliedstaaten werden gebraucht.

Da, wo die Nationalstaaten es besser können, sollen Kompetenzen an die nationale oder regionale Ebene zurückgegeben werden. Dort, wo Europa einen echten Mehrwert für die Nationalstaaten hat, muss es eigenverantwortlich und rascher als bisher handeln können.

Edmund Stoiber

Herausforderungen gibt es genug: Ein gemeinsames europäisches Asylsystem mit einheitlichen Asylstandards würde den Asylsozialtourismus wirksam unterbinden. Die hohen deutschen Standards können dabei allerdings nicht zum Maßstab genommen werden. Das würde die anderen Länder überfordern. In meiner letzten Kolumne habe ich den Historiker Heinrich August Winkler zitiert, der gesagt hat, dass wir kein deutsches Europa bekommen werden, auch nicht auf dem Gebiet des Asylrechts. Das will ich auch hier nochmal unterstreichen.

In der Handelspolitik kann die EU als führende Handelsmacht der Erde den protektionistischen Bestrebungen der USA selbstbewusst begegnen, im Gegensatz zu Deutschland allein. In einem Handelskrieg mit der EU haben auch die Amerikaner viel zu verlieren.

Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik

Auch in der Sicherheitspolitik braucht es mehr Europa. Kriminelle und terroristische Gruppierungen organisieren sich grenzüberschreitend. Die Zusammenarbeit zwischen den europäischen Polizei- und Justizbehörden muss systematisch verbessert werden. Es ist ein Skandal, dass Länder wie Italien oder Griechenland immer noch nicht in der Lage sind, in allen Belangen einen funktionierenden Datenaustausch zu gewährleisten. Eine europäische Agentur zur Terrorismusbekämpfung, wie von der Kommission vorgeschlagen, kann die Koordination der Sicherheitsbehörden erleichtern.

Die anderen Länder Europas werden nicht übermäßig begeistert sein, wenn ein schon wirtschaftlich übermächtig starkes Deutschland künftig auch militärisch an der Spitze steht.

Edmund Stoiber

Außerdem ist es dringend notwendig, die europäischen Kapazitäten in der Verteidigungspolitik besser zu nutzen. Bisher haben wir Konflikte innerhalb der EU zu lösen gelernt. Was ist mit den Herausforderungen von außen? Die notwendige Erhöhung der Verteidigungsausgaben wird gerade in Deutschland eine riesige Herausforderung. Die Deutschen sind aufgrund ihrer Historie ein eher pazifistisches Volk und lehnen mehrheitlich höhere Verteidigungsausgaben ab. Und auch die anderen Länder Europas werden nicht übermäßig begeistert sein, wenn ein schon wirtschaftlich übermächtig starkes Deutschland künftig auch militärisch an der Spitze steht. Die Schatten der Vergangenheit sind lang! Deshalb muss Deutschland auch im eigenen Interesse eng in einen europäischen Verteidigungsrahmen eingebunden sein.

Nicht nur die „Berufseuropäer“

Wichtig ist, dass im weiteren Diskussionsprozess nicht nur die „Berufseuropäer“ – zum Beispiel EU-Parlamentarier oder Europa-Lobbyisten – nach ihrer Meinung gefragt werden, sondern auch der Normalbürger, der „Mann auf der Straße“. Ich bin sicher, dass dieses Modell der Konzentration der EU auf das Wesentliche ein Impuls wäre, der auch von einer breiten Mehrheit in Europa am ehesten akzeptiert würde.

Europa muss groß sein in den großen Dingen und klein in den kleinen.

Edmund Stoiber