Vielfalt auf engstem Raum: Das Adriadorf Piran an der slowenischen Küste, dahinter die italienische Küste und die slowenischen Berge. (Bild: www.slovenia.info/Ubald Trnkoczy)
Slowenien

Die Germanen des Balkans

Interview Aus dem aktuellen BAYERNKURIER-Magazin: Slowenien feiert in diesem Jahr 25 Jahre Unabhängigkeit vom einstigen Vielvölkerstaat Jugoslawien. Ein Interview mit der slowenischen Botschafterin in Deutschland, Marta Kos Marko, über ein weitgehend unbekanntes, aber bemerkenswert EU-freundliches Land und einen der Brennpunkte der Flüchtlingskrise.

Bayernkurier: Slowenien und Bayern – wie eng sind diese Länder miteinander verbunden?

Marta Kos Marko: Sehr eng, und das schon sehr lange. Vor ein paar Jahrhunderten besaßen die Bischöfe von Freising viel Land in Slowenien. Darum ist die älteste slowenische Schrift heute in Bayern zu finden, die sogenannten Freisinger Denkmäler. Was viele auch nicht wissen: Schon vor der Unabhängigkeit Sloweniens 1991 gab es eine gemischte Regierungskommission Slowenien und Bayern, obwohl wir ein Teil Jugoslawiens waren. Sie hat seit 1974 gearbeitet, was in dem zentralistischen Staat ein absoluter Ausnahmefall war. Heute, in unserem 25. Unabhängigkeitsjahr, sind die beiden Regionen eng in der AlpeAdria-Initiative miteinander verbunden. Im Herbst ist ein Besuch von Ministerpräsident Seehofer in Slowenien geplant, da werden wir einen Bayerischen Tag in Ljubljana machen.

Bayernkurier: Sie haben das Gründungsjubiläum am 25. Juni angesprochen. 25 Jahre nach dem vergleichsweise kurzen serbisch dominierten Angriff auf Slowenien: Wie sind heute die Beziehungen beider Länder?

Kos Marko: Der Krieg dauerte nur 10 Tage und es gab insgesamt 73 Tote auf beiden Seiten. Die Schäden und Opfer waren bei weitem nicht so groß wie in Bosnien-Herzegowina, wo mehr als 100.000 Menschen gestorben sind. Wir hatten keine Armee damals, aber als es klar war, dass die Jugoslawische Armee den Krieg gegen uns führen wollte, haben ein paar Leute Waffen aus den Kasernen geklaut. Unsere Territorialverteidigung hat dann die Abwehr übernommen. Aber wir wären natürlich unterlegen, also hat die Regierung entschieden, jede weitere Provokation zu unterlassen. Das Ziel war nicht, zu gewinnen, sondern möglichst schnell die Schießereien zu stoppen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Das ist ja dann auch gelungen. Zu Serbien hatten wir dennoch später eigentlich immer gute Beziehungen, vielleicht auch weil wir keine große serbische Minderheit im Land hatten – so wie Kroatien. Und dort war deshalb natürlich der für Serbien wichtigere Konflikt.

Bayernkurier: Zurück in die Gegenwart: Slowenien war und ist Teil der Balkanroute für Flüchtlinge. Wie ist die Lage heute?

Kos Marko: Es kommen fast keine Flüchtlinge mehr. Die Grenze ist aber nicht dicht, sie wurde auch nie zugemacht. Aber nachdem Österreich seine Grenze weitgehend geschlossen hatte, waren wir zu strengeren Kontrollen gezwungen. Wir sind einfach nur dem Schengen-Abkommen zu 100 Prozent gefolgt. Kroatien hat zuerst unkontrolliert die Flüchtlinge zu uns weitergeschickt. Daher waren wir gezwungen, auf etwa 30 Prozent der Grenze zu Kroatien einen Zaun zu bauen. Dieser hatte aber nur lenkenden Einfluss. Die Bevölkerung war auch gegen den Zaun – in dem Sinne: „Wir sind in die EU eingetreten, um ohne Zäune leben zu können. Und jetzt baute unsere eigene Regierung einen Zaun!“ An Weihnachten haben sie ihn in einem Dorf mit Christbaumkugeln geschmückt, ein kleiner skurriler Protest. Heute ist der Zaun auch nur noch aus Maschendraht, nicht mehr aus Stacheldraht, und ein Teil wurde wieder abgebaut. Bei fast einer halben Million Flüchtlinge, die nach Slowenien kamen, waren nicht alle aus Kriegsgebieten. Es kamen aber auch viele Flüchtlinge aus Marokko, Algerien und Tunesien, wo uns klar war, dass sie keine Chance auf Asyl hatten. Aber fast alle wollten weiter, nach Deutschland. Als aber dann Österreich und Deutschland die Regeln wieder eingehalten haben, mussten wir auch handeln.

Bayernkurier: Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund die Flüchtlingspolitik der deutschen Kanzlerin im September 2015?

Kos Marko: Sehen Sie, Gesetze sind das Eine, Moral das Andere. Die Moral sagt, wir müssen den Menschen helfen. Eigentlich war es also eine gute Entscheidung, die später aber Probleme mit sich gebracht hat. Weil die EU keine schnelle Lösung dafür hatte, wer Kriegs- und wer nur Wirtschaftsflüchtling ist, war diese Politik letztlich ein Aufruf an alle, nach Europa zu kommen. Das hat dann den Flüchtlingszustrom deutlich verstärkt. Aber jetzt mit dem Finger auf Deutschland zu zeigen, ist auch falsch. Die Flüchtlinge wären ja irgendwann trotzdem gekommen, wenn auch nicht so schnell. Und ohne die Schließung der Grenzen wären sicher noch viele mehr gekommen. Am Ende waren es keine europäischen Absprachen, die gewirkt haben, sondern bilaterale.

Bayernkurier: Wo aber bleibt die Humanität, wenn Flüchtlinge in Lagern hausen, weil Unterkünfte fehlen, wenn Menschen auf dem Mittelmeer ertrinken, weil sie dem Lockruf gefolgt sind?

Kos Marko: Das sehe ich genauso. Wir können nicht alle Migranten aufnehmen, aber sollten versuchen, den Kriegsflüchtlingen zu helfen.

Bayernkurier: Was hat die EU in der Flüchtlingspolitik falsch gemacht?

Kos Marko: Zunächst: Beim ersten Treffen zu dem Thema, das erst am 26. Oktober 2015 stattfand, waren nur elf Länder anwesend. Bei der Finanz- und Bankenkrise hatten wir viel früher und viel öfter Treffen, mit allen EU-Staaten. Hätten wir ein halbes Jahr früher begonnen, in Mazedonien und Griechenland große Lager für die Flüchtlinge zu bauen, hätte sich die Situation nicht so verschärft. Dazu kam das Grundproblem des Dublin-Abkommens, weil es nur die Länder an den EU-Außengrenzen belastet hat. Wenn Hunderttausende kommen, können wir die Länder an den Außengrenzen aber nicht alleine lassen. Auf europäischer Ebene hätte es außerdem eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge geben müssen. Daher kann es damals wie heute für die EU überhaupt nur eine Lösung geben: Wir müssen unsere Außengrenzen schützen.

Bayernkurier: Wie hat denn Slowenien die Flüchtlingskrise erlebt?

Kos Marko: Wir Slowenen haben viel Erfahrung mit Flüchtlingen. In den 90er Jahren kamen wegen der jugoslawischen Bürgerkriege etwa 130.000 Menschen aus Bosnien und Kroatien zu uns. Daher haben wir in der aktuellen Situation auch wieder so etwas wie eine moralische Pflicht empfunden. Insgesamt kamen seit September 2015 etwa 500.000 Flüchtlinge durch unser Land, aber nur 600 haben Asyl beantragt, weniger als 300 blieben bei uns. 99 Prozent der Flüchtlinge wollten dann, Sie dürfen raten, weiter nach Norden, nach Deutschland. Dennoch: Slowenien hat nur zwei Millionen Einwohner, da war diese Situation für uns schon schwierig. Die 500.000 würden hochgerechnet auf Deutschland 20 Millionen bedeuten, die obendrein durch ein Land kamen, das dreieinhalb Mal kleiner als Bayern ist. Wir haben dennoch alle Flüchtlinge verpflegt und registriert. Obwohl wir nur 2300 uniformierte Polizisten und die Armee für das ganze Land und die 670 Kilometer Grenze zu Kroatien hatten. Zusätzlich kamen auch noch 250 ausländische Polizisten aus elf Staaten, die uns unterstützten. Wir helfen dafür jetzt in Mazedonien. Ab April nehmen wir auch jeden Monat 50 Flüchtlinge aus dem Relocation-Programm aus Italien und Griechenland auf. Auch bei dem Türkei-Abkommen sind wir dabei. Wir versuchen, gute Europäer zu sein, weil uns die EU in den letzten 12 Jahren, seit wird dabei sind, viel gebracht hat.

Bayernkurier: Die EU als Lebenstraum eines Landes, das scheint nach der Brexit-Entscheidung nicht mehr selbstverständlich.

Kos Marko: In der Tat. Es war nicht leicht für uns, nach 1991, als wir das erste Mal überhaupt ein unabhängiger Staat waren, bereits 2004 wieder einen Teil unserer Souveränität an übergeordnete Institutionen abzutreten. Nach mehr als 40 Jahren im mühsam zusammen gehaltenen Jugoslawien. Aber dennoch haben 89,6 Prozent unserer Bürger im Referendum damals für den EU-Beitritt Sloweniens gestimmt. Auch für die EU war das eine Herausforderung: Zwei Millionen neue EU-Bürger mit einem Bruttoinlandsprodukt ungefähr so groß wie der jährliche Umsatz der Firma Beiersdorf. Wir waren zwar die wirtschaftsstärkste Region Ex-Jugoslawiens, aber 1991 hatten wir durch dessen Zerfall mit einem Schlag 70 Prozent unseres Absatzmarktes verloren! Wir stellten in Jugoslawien acht Prozent der Bevölkerung, erwirtschafteten aber rund 25 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und 33 Prozent des Exportes.

Bayernkurier: Wie erklären Sie sich die große Zustimmung?

Kos Marko: Die EU brachte erstens politische Sicherheit, sie brachte Werte, die für uns wichtig sind. Zweitens kam der Binnenmarkt. Heute wickeln wir rund 80 Prozent unserer Geschäfte mit der EU ab. Und drittens haben wir uns immer als Europäer gesehen.

Bayernkurier: Was geschah nach 1991?

Kos Marko: Unsere geographische Lage hat uns gerettet. Und dass unsere Manager im Ausland ausgebildet worden waren. Die Grenze zu unseren Nachbarn war ja nie zu, wir konnten immer reisen und uns frei bewegen. Auch unsere Nachbarn Österreich und Italien haben uns geholfen. Dennoch mussten wir uns schnell umstrukturieren, was ohne die EU-Perspektive sicher nicht so schnell funktioniert hätte. Von der EU haben wir dann schon im Vorfeld des Beitritts viele Hilfen zur Vorbereitung erhalten. Dafür sind wir dankbar. Und seit 2007 haben wir den Euro.

Bayernkurier: War der Erfolg nicht auch Ergebnis der slowenischen Mentalität? Andere Staaten sind schließlich auch der EU beigetreten, mit weit weniger Erfolg.

Kos Marko: Ja, sicher. Wir sind vielleicht die Germanen des Balkans, fleißig, sparsam, sogar ein bisschen schwäbisch: schaffe, schaffe, Häusle baue! 93 Prozent der Slowenen leben in den eigenen vier Wänden. Aber wir besitzen zugleich die mediterrane Fähigkeit, das Leben zu genießen. Die Familie, die Freunde, das bedeutet uns sehr viel. Und wir besitzen die vielleicht größte Errungenschaft des Balkans: wir können im positiven Sinne improvisieren, und das besser als die Deutschen. Das mussten wir nach der Unabhängigkeit sofort tun. Ich kann mich noch erinnern, wir hatten kein eigenes Geld. Wir haben dann einfach Bons auf Papier gedruckt.

Bayernkurier: Und heute? Wie sieht es in Slowenien aus, etwa in der Infrastruktur? Berüchtigt war in Jugoslawien die Transitstraße „Autoput“ bis nach Griechenland. Das hieß zwar auf Serbokroatisch nur „Autobahn“, für uns Deutsche war das Wort aber eine Warnung.

Kos Marko: Unsere Autobahnen sind gut ausgebaut, ebenso der Karawankentunnel als wichtige Verbindung zu Österreich. Nur Richtung Maribor fehlt noch ein Stück Autobahn zur kroatischen Grenze hin. Nach Ungarn ist das Netz schon durchgehend fertig.

Bayernkurier: Finanziert durch eine Straßenmaut?

Kos Marko: Ja, seit 2007 haben wir eine Vignette, eine der teuersten in Europa. Zuerst hatten wir einen Chip, bei dem automatisch abgebucht worden ist. Für unsere Bürger gab es allerdings keine steuerliche Entlastung im Gegenzug. Wir verstehen aber die deutschen Pläne.

Bayernkurier: 2016 ist Ihre Hauptstadt Ljubljana durch die EU-Kommission zur grünen Hauptstadt Europas erwählt worden.

Kos Marko: Sie ist eine typische kuk-Stadt (k.u.k.: Kaiserlich und Königlich, Begriff aus der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie; Anm. d. Red.). Vielerorts wurde der Verkehr aus dem Zentrum verbannt. Die Abhänge des eingemauerten Flusses wurden renaturiert. Baden wird bald wieder möglich sein. Sie haben auch das Abfallsystem verändert, mit viel Recycling. Viele neue Bäume wurden gepflanzt, die Kanalisation modernisiert. Dazu kamen viele weitere ökologische Programme und Projekte.

Bayernkurier: Spielen sie doch bitte kurz mal den Tourismus-Manager Ihres Landes: Was sollte ein Tourist in Slowenien gesehen haben?

Kos Marko: Zunächst: Von Deutschland aus sind es nur vier Stunden Autofahrt von München nach Ljubljana. Ich weiß, dass viele Bayern noch nicht in Slowenien waren. Aber unser Land ist außerordentlich vielfältig auf begrenztem Raum: Steigen Sie am Vormittag auf 2864 Meter Höhe auf unseren höchsten Berg Triglav und trinken Sie abends einen Cappuccino oder essen Fisch an der Adria. Wir haben viele naturbelassene Gebiete, sind das fünftgrünste Land der Erde mit etwa 60 Prozent Wald, davon ein Drittel Naturschutzgebiete ohne Seilbahnen und Lifte. Hier kann man wandern, ohne die sonst üblichen Massentouristen. Wir haben für die Bergsteiger 430 Gipfel über 2000 Höhenmeter sowie viele Schluchten zum Rafting und Canyoning. Wir haben drei Weinanbaugebiete, zum Beispiel bei Maribor, viele Thermen teilweise noch aus der kuk-Zeit. Kulinarisch bieten wir slowenische Speisen mit Einflüssen aus Italien, Kroatien, Kärnten und der Steiermark, je nachdem, wo sie sich gerade aufhalten. Alles ist sehr sicher und sehr liberal. Wir sind schon lange nicht mehr „kommunistisch verkrochen“.

Bayernkurier: Und was gibt es an weiteren Sehenswürdigkeiten?

Kos Marko: Ljubljana sollte man unbedingt gesehen haben. Mit der Seilbahn zum Burgberg, die Altstadt, die Cafes an der Flusspromenade und die „Drei Brücken“. Die Adelsberger Grotte bei Postojna, mit 21 Kilometern Länge immerhin die zweitgrößte Tropfsteinhöhle der Erde, mit einer kleinen Elektrobahn, die durch einen Teilbereich fährt. Dort leben auch die faszinierenden Grottenolme, die heuer sogar Nachwuchs bekommen haben. Weiter gibt es die Grotten von Skocjan, die noch wilder sind. Am Isonzo haben wir die einstigen Pfade der Alpenfront des Ersten Weltkriegs zum Wandern mit vielen Relikten aus dieser Zeit. Das ist im Moment sehr populär bei den Deutschen. Wir haben den Bleder See, den Boheiner See, die Pferde von Lipizza. Wir haben 50 Kilometer Adriaküste mit den Städtchen Koper, Piran und Portorož.

Bayernkurier: Wie hat sich denn die Zahl der deutschen Touristen entwickelt?

Kos Marko: Das wird immer besser. Im letzten Jahr ist sie um 12 Prozent gestiegen. Auch dieses Jahr ist wieder ein Anstieg zu erwarten. Schauen Sie vorbei!

 

Das Interview führte Andreas von Delhaes-Guenther.