Internationale Flüchtlingskrise: Jeden Tag kommen überfüllte Boote aus der nahen Türkei auf der griechischen Insel Lesbos an. Hier beginnt für die Flüchtlinge und Migranten ihr Weg durch Europa. (Bild: Imago/Arturas Morozovas/EST&OST)
Mittelmeer

Migrantenkrise macht keine Pause

Schon 230.000 Migranten haben dieses Jahr den Weg über das Mittelmeer gefunden. Hunderttausende Afrikaner warten in Libyen auf eine Gelegenheit zur Überfahrt. Italien wird wieder zum Haupteinfallstor und weiter östlich suchen Migranten neue Balkanrouten. Österreich legt schon einen Grenzzaun bereit. Teuer für Deutschland: 2016 kamen schon fast 18.000 unbegleitete minderjährige Asylbewerber.

Die Migrantenkrise ist noch lange nicht zu Ende. Sie macht nicht einmal wirklich Pause. Etwa 230.000 Migranten haben im ersten Halbjahr 2016 über das Mittelmeer den Weg nach Europa gefunden – gut 20.000 mehr als im Vergleichszeitraum des Rekordjahres 2015 und ungefähr so viele wie im ganzen Jahr 2014. Knapp 160.000 dieser Migranten kamen über die Ägäis nach Griechenland. 71.000 Migranten erreichten von Tunesien oder Libyen aus über die zentrale Mittelmeerroute Sizilien und Italien. Im ganzen vergangenen Jahr hatten 153.842 Migranten diese Route gewählt. Im Monat Juli sind noch einmal deutlich über 20.000 Migranten dazu gekommen, die allermeisten von ihnen auch über die Mittelmeerroute nach Sizilien.

Einfallstor Italien

„Italien ist wieder zum Migranten-Eingangstor nach Europa geworden“, titelte Anfang Juli die Pariser Tageszeitung Le Monde. Alle Zahlen geben dem Blatt recht – und sie steigen: Allein im Juni kamen der europäischen Grenzschutzagentur Frontex zufolge 22.500 Migranten in Italien an − 25 Prozent mehr als im Mai.

Die europäische Mittelmeer-Mission Sophia funktioniert fast wie eine Einladung.

Mitte Juli sprach Frontex-Chef Fabrice Leggeri von durchschnittlich etwa 750 Ankömmlingen pro Tag in Italien. Es können aber auch zehn Mal so viele werden: Im Juli nahmen Schiffe der italienischen Marine, von Frontex und von Nichtregierungsorganisationen an manchen Tagen 3400, 4500, oder Ende Juli einmal 7500 Migranten an einem einzigen Tag aus den Gewässern vor Libyen an Bord. Die nur 40 Kilometer vor der libyschen Küste kreuzenden Schiffe der europäischen Mittelmeer-Mission Sophia funktionieren dabei fast wie eine Einladung: Sie verkürzen die gefährliche Fluchtstrecke über das Mittelmeer dramatisch und machen den Schleppern das Geschäft und den Migranten die illegale Einwanderung leichter.

Die Migranten kommen praktisch ausschließlich aus Schwarzafrika: Nigeria, Eritrea, Sudan, Somalia, Äthiopien. Le Monde vermerkt aufmerksam, dass diesen Sommer zahlreiche Migranten aus dem frankophonen Afrika das Mittelmeer überqueren: aus Kamerun, Mali oder der Elfenbeinküste. 800.000 afrikanische Migranten warteten an Libyens Küste auf eine Gelegenheit zur Überfahrt nach Europa, warnte im vergangenen März Frankreichs Verteidigungsminister Jean-Yves Le Drian. Es werden seither nicht weniger geworden sein: Die massenhaften Migranten-Schleusungen von Westafrika über Agadez in Niger nach Libyen laufen weiter.

Weil Wien mit einem Grenzzaun am Brenner droht, wird jetzt in Italien ernsthaft kontrolliert, gezählt und registriert.

Immerhin: Anders als vor einem oder vor zwei Jahren wird in Italien jetzt ernsthaft kontrolliert, gezählt und registriert und nicht nur einfach nach Norden durchgewunken, berichtete kürzlich die Frankfurter Allgemeine Zeitung: Im Jahr 2014 stellten nur 40 Prozent der Migranten in Italien einen Asylantrag, im vergangenen Jahr 50 Prozent – die andere Hälfte wanderte einfach weiter. Jetzt bitten mehr als 70 Prozent der Migranten um Asyl in Italien. Was dazu führt, dass sich dort die Migrantenlager füllen. Der FAZ zufolge stehen in Italien 200.000 Aufnahmeplätze für Migranten zur Verfügung.

Auch die Schweiz zunehmend betroffen

Italiens neue Haltung hängt mit der Politik ihrer Nachbarn zusammen: Schon ab März hatte Österreich mit sichtbaren Vorbereitungen für massive Grenzkontrollen und für den Bau eines Grenzzauns am Brenner begonnen. Frankreich kontrolliert seit vergangenem Sommer seine Grenze bei Nizza konsequent.

Wenn die Österreicher am Brenner scharf kontrollieren und gleichzeitig mehr Migranten in Sizilien ankommen, dann muss man sich in der Schweiz Sorgen machen.

Bleibt Italiens Grenze zur Schweiz: Tatsächlich hat etwa am Tessiner Grenzort Chiasso die Zahl der illegalen Grenzübertritte massiv zugenommen, berichtet die Neue Zürcher Zeitung: Im Mai hatten Schweizer Grenzwächter in Chiasso etwa 1200 illegale Migranten aus den Zügen aus Italien geholt. Im Juni samt der ersten Juli-Woche waren es etwa 5000 – die meisten aus Eritrea, gefolgt von Afghanen und Gambiern. In jedem Zug aus Italien griffen die Grenzwächter zehn bis zwölf Personen auf, schreibt das Blatt. Die Schweizer fürchten nun einen „heißen Sommer“, in dem es auch mehr als 5000 Migranten in einem Monat werden können. Das hängt von der Lage am Brenner ab, weiß man auf der Schweizer Seite: Wenn dort die Österreicher scharf kontrollieren und gleichzeitig mehr Migranten in Sizilien ankommen, dann muss man sich in der Schweiz Sorgen machen.

Neue Balkanrouten und neue Zäune

Die Balkanroute ist weitgehend geschlossen, die Türkei honoriert das Abkommen mit der EU und hält auf ihrer Seite der Grenze die Migranten zurück − noch. Seit dem gescheiterten Putsch sei der Migrantenzustrom aus der Türkei wieder leicht gestiegen auf etwa 100 pro Tag, gab Ende Juli die Presseagentur dpa einen Offizier der griechischen Küstenwache wieder. Doch das eigentliche Problem ist größer: In Griechenland sitzen derzeit etwa 60.000 Migranten fest – 10.000 allein auf den Ägäis-Inseln. Die Hotspots genannten Aufnahmelager sind überfüllt und, so kommentierte Ende Juni die Pariser Tageszeitung Le Figaro, bringen nichts: „Wenn ein Migrant erst einmal den Schengenraum betreten hat, dann kann er quasi sicher sein, da bleiben zu dürfen, auch wenn er ein Wirtschaftsflüchtling ist, den man in sein Herkunftsland zurückschicken könnte. Die Hotspots ändern daran nichts und sind ein Fehlschlag.“

In Griechenland sitzen derzeit etwa 60.000 Migranten fest.

Die in Griechenland blockierten Migranten suchen neue Balkanrouten nach Nordeuropa – und finden sie: In Bulgarien werden nicht etwa an der Grenze, sondern im Landesinneren täglich etwa 200 Migranten aufgegriffen, so kürzlich Regierungschef Boiko Borrissow. Entlang ihrer Grenze zur Türkei wollen die Bulgaren jetzt einen Zaun bauen. Die Grenze zu Griechenland ist ohne Zaun.

Wenn ein Migrant erst einmal den Schengenraum betreten hat, dann kann er quasi sicher sein, da bleiben zu dürfen, auch wenn er ein Wirtschaftsflüchtling ist. Die Hotspots ändern daran nichts und sind ein Fehlschlag.

Le Figaro

In den ersten fünf Monaten dieses Jahres sollen allein in Serbien 100.000 illegale Migranten registriert worden sein, berichtete Mitte Juli die Frankfurter Allgemeine Zeitung. In Ungarn sind trotz Zaun und trotz neuem Gesetz, das illegalen Grenzübertritt mit Gefängnisstrafe ahndet, bis Ende Juni 17.351 Migranten aufgegriffen worden – mit 104 Nationalitäten. Letzteres werten die Ungarn als Beleg dafür, dass es nicht um Flucht geht, sondern schlicht um Masseneinwanderung.

Nicht nur in Ungarn wächst die Sorge, dass die Migrantenzahlen wieder wachsen: Auf der österreichischen Seite der Grenze, im Burgenland, sind die Vorbereitungen für den Bau eines 100 Kilometer langen Grenzzauns abgeschlossen. Wenn notwendig, könne der Zaun in kürzester Zeit aufgebaut werden, heißt es aus Wien: „Er liegt bereit.“ Österreich hat sich für dieses Jahr eine Obergrenze von 37.500 Migranten gesetzt. Wenn die erreicht ist – wohl spätestens im Herbst – müsste Wien den Notstand erklären und die Grenzen für alle Asylanten schließen. Vor der zweiten Runde der Bundespräsidentenwahl am 2. Oktober will das die Große Koalition in Wien unbedingt vermeiden.

Deutschland: Schon mindestens 120.000 Migranten in diesem Jahr

Was heißt das alles für Deutschland und Bayern? In den ersten sechs Monaten des Jahres wurden laut Innenminister Thomas de Maizière 222.264 Neuankömmlinge in Deutschland gezählt – darunter 75.000 Syrer, 39.000 Afghanen, 38.000 Iraker, 9200 Iraner und 5300 Inhaber russischer Pässe, also in der Regel Tschetschenen. Weil sich dabei möglicherweise viele Migranten befanden, die schon im vergangenen Jahr kamen, aber noch nicht registriert wurden, spricht die Bundespolizei nur von 123.600 Neuankömmlingen bis Ende Juni und von zuletzt etwa 160 neuen Migranten am Tag. Interessant: Die Bundespolizei registriert eine Zunahme von Migranten, die versucht, über die Schweiz nach Deutschland zu kommen: Im Juni etwa 550 Migranten, im Juli schon 750.

Erschreckende Zahl von fast 18.000 unbegleiteten minderjährigen Asylbewerbern für das erste Halbjahr − besonders viele aus Afghanistan.

Keine Zweifel gibt es an der erschreckenden Zahl von fast 18.000 unbegleiteten minderjährigen Asylbewerbern für das erste Halbjahr – sechs Mal so viele wie im Vergleichszeitraum des Völkerwanderungsjahres 2015. Darunter sind, so war kürzlich zu lesen, sehr viele Afghanen. Die Versorgung und Betreuung jedes einzelnen dieser unbegleiteten Minderjährigen kostet in Bayern im Schnitt 60.000 Euro im Jahr.

Mehr Abschiebungen und Tausende freiwillige Rückkehrer

Kaum zu glauben, aber es gibt auch erfreuliche Zahlen: Angaben der Bundespolizei zufolge sind in den ersten drei Monaten des Jahres etwa 6000 illegale Migranten freiwillig über Frankfurt in ihre Heimat zurück geflogen. Im vergangenen Jahr soll es 15.000 solcher Rückkehrer gegeben haben, von denen viele aus Albanien kamen. In Griechenland haben sich seit Jahresbeginn etwa 3200 enttäuschte Migranten aus Marokko, Pakistan, Afghanistan, Bangladesch und anderen Staaten Asiens und Nordafrikas bereit erklärt, an einem Rückkehrprogramm der Internationalen Organisation für Migration teilzunehmen: Vor dem Abflug erhalten sie 500 Euro Starthilfe.

Bayern: Schon 2000 Abschiebungen dieses Jahr.

Aus Bayern wurden in diesem Jahr bislang etwa 2000 Migranten abgeschoben – fast doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum des vorigen Jahres. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann sprach Ende Juli von mehr als 10.000 „Aufenthaltsbeendigungen” in diesem Jahr. Anfang Juni erwartete Bundesinnenminister Thomas de Maizière 90.000 bis 100.000 Abschiebungen und freiwillige Rückführungen bis Ende des Jahres. Dafür müssten aber weitere Abschiebehindernisse abgebaut werden. Problem: Abschiebungen sind Ländersache. Doch es gibt Hoffnungszeichen: Sogar das Land Berlin hat im ersten Halbjahr 2016 schon 1068 illegale Migranten abgeschoben – mehr als im ganzen Jahr 2015.