Nach den Terrorattacken gedachte Frankreich seiner Opfer. Der Eiffelturm wurde in den Nationalfarben erleuchtet. (Bild: Imago/Xinhua/Xu Jinquan)
Nach dem Terror

Frankreich wird wütend

Nichts wird mehr so sein wie früher: Für die Franzosen bedeutet der Terroranschlag von Nizza einen Epochenwende. Das Land diskutiert über Krieg und Bürgerkrieg und verlangt nach drastischen Maßnahmen. Die Entschlossenheit wächst – und die Wut auf die immer größere Zahl von dschihadistischen Todfeinden außerhalb und innerhalb der Landesgrenzen.

„Comment arrêter ςa“, titelte nach dem Terror in Brüssel, im vergangenen März, das Figaro-Magazine auf der Titelseite – „was wir tun müssen, damit das aufhört“. Aber es hört nicht auf. Es wird immer schlimmer. Die Franzosen erleben eine schier endlose Serie von Terroschlägen und zahlen einen Terror-Tribut wie sonst kein anderes westliches Land. Tatsächlich wütet der islamische Terror in Frankreich sogar schlimmer noch als in Israel, wo es seit September 2015 etwa 40 Todesopfer gegeben habe, vermerkt düster Le Figaro. Und als bisheriger Gipfel einer langen Serie sich steigernder grässlicher Terror-Taten jetzt Nizza. Nicht Paris, nicht Brüssel – Nizza. „Im Land verbreitet sich das Gefühl, dass überall und zu jederzeit aus dem Nichts ein Anschlag kommen kann“, schreibt die Pariser Tageszeitung Le Monde und zitiert verstörte Bürger in Lyon, Marseille, Lille, Besancon und, natürlich, in Nizza.

Keine vollständige Macht mehr über das eigene Land.

Dabei ist Frankreich mobilisiert fast wie im Krieg. 10.000 Soldaten patrouilleren auf den Straßen der Großstädte, vor allem in Paris. Seit acht Monaten lebt das Land im Ausnahmezustand – was den Terror in Nizza nicht hat verhindern können. Am Vormittag des Nationalfeiertags demonstrierte das Land auf dem Champs Elysées seine militärische Macht, beobachtet der Schriftsteller und Philosoph Pascal Bruckner – um einen halben Tag später in Nizza die brutale Demütigung zu erleben. Frankreich, die Franzosen haben keine vollständige Macht mehr über das eigene Land.

Antwort ohne Gnade.

Le Figaro

„Colère“, „Wut“, ist fast das erste Wort im großen Kommentar auf Seite Eins der sonst bedächtigen Le Monde zwei Tage nach der Barbarei von Nizza. „Colère“ steht  auf den Titelseiten praktisch aller Zeitungen und Magazine. Eine „Antwort ohne Gnade“ verlangt etwa Le Figaro und fordert ein Ende der hilflosen Trauerrituale: „immer die gleichen markigen Reden, die gleichen weihevollen Deklarationen, das gleiche Tremolo in der Stimme. Und dann? Ein paar Soldaten mehr in den Straßen, ein paar gesetzgeberische Flicken, ein paar Bomben auf weit entfernte Ziele, und dann – nichts mehr.“

Nicht auf der Höhe der Herausforderung

Doch von ihrer Regierung haben die Franzosen zuerst ganz andere Töne zu hören bekommen: „Es wird zweifellos weitere unschuldige Opfer geben“, erklärte am Tag nach der Terrornacht von Nizza Premierminister Manuel Valls. Zwei Tage später: „Ich schulde den Franzosen die Wahrheit: Der Terror wird für lange Zeit Teil unseres Alltags sein.“ Valls redet schon länger so. Vor anderthalb Jahren, nach dem Massaker bei Charlie Hebdo in Paris, hat er bei einem Schulbesuch den Gymnasiasten erklärt: „Die jungen Franzosen müssen sich daran gewöhnen, dauerhaft mit der Gefahr von Attentaten zu leben.“ Jetzt, in turbulenter Parlamentsdebatte um die Verlängerung des Ausnahmezustands, ging er noch weiter: „Es wird weitere Attentate geben und weitere unschuldige Tote. Wir müssen uns nicht daran gewöhnen, aber wir müssen lernen mit dieser Gefahr zu leben.“

Der Terror wird für lange Zeit Teil unseres Alltags sein.

Premierminister Manuel Valls

Genau das wollen die Franzosen nicht. Bei der Trauerfeier in Nizza, auf der Promenade des Anglais, am vergangenen Montag, wurde Valls ausgepfiffen und ausgebuht. Rufe wie „Mörder“ und „zurücktreten“ erschallten. Bei der Abfahrt nach der Schweigeminute das gleiche. Einer Umfrage für Le Figaro zufolge haben nur noch 33 Prozent der Franzosen Vertrauen in ihre Regierung, wenn es um den Kampf gegen den Terror geht – nach den Anschlägen vom Januar und November 2015 waren es noch 51 und 50 Prozent.

Fatalismus ist keine Politik.

Alain Juppé, Ex-Premier und bürgerlicher Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur

Seit Nizza ist die Einheit des Landes dahin: „Angesichts des Terrors: Sind sie auf der Höhe der Zeit?“, titelt das Wochenmagazin L’Express über einem Profilfoto mit Innenminister Bernard Cazeneuve, Präsident Franςois Hollande und Premierminister Valls. Frankreichs großer Islam-Experte, Gilles Kepel, gab im Fernsehinterview die Antwort: „Unsere politische Klasse ist im Angesicht dieser Lage nichts wert, sie vermittelt den Eindruck, hinter den Ereignissen herzulaufen.” Die politische Debatte sei „nicht auf der Höhe der Herausforderung”. Nach Nizza können – wollen – die Franzosen nicht weitermachen wie bisher. Der Bürgermeister von Bordeaux und bürgerliche Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur, Alain Juppé, bringt auf den Punkt, was die Menschen fühlen: „Fatalismus ist keine Politik.“ Sein Parteifreund und ehemaliger Parteivorsitzender Francois Copé ergänzt: „Wir werden den Terror nicht mit Tränen bekämpfen.“

Totaler Krieg gegen den Terror

„Wir sind im Krieg!“, schreit Le Figaro am Samstag nach dem Terror auf der ersten Seite heraus – aber nur „die Soldaten des Kalifats führen ihn, und nicht nur halb“. Die Zeitung erinnert das Land an seine Nationalhymne, die eben, während der Fußballeuropameisterschaft, so oft aus zigtausenden Kehlen erklang: „Aux armes citoyens“ – „Greift zu den Waffen, Ihr Bürger“ – „das schreien wir aus voller Lunge, aber unsere Waffen sind die des Friedens: Kerzen, Hashtags, Trauerzüge.“ Vom „drôle de guerre“, „Sitzkrieg“ schreibt düster das Blatt  – eine Anspielung an den genau so genannten monatelangen Nichtkrieg mit Hitler-Deutschland 1939, der im Juni 1940 in die vollständige Niederlage mündete.

Wir müssen den Krieg auf unser Territorium zurückholen und ihn präventiv gegen alle Personen führen, die eine potentielle Gefahr darstellen.

Pascal Bruckner, Philosoph und Schriftsteller

„Gagner la guerre“ – „den Krieg gewinnen“, titelt das Blatt in großen Lettern. Aber Luftangriffe auf Rakka und Mossul als Antwort hält etwa der Philosoph und Schriftsteller Pascal Bruckner im fast schon martialischen Interview nur für „lächerliches Maulheldentum“. Bruckner: „Das Massaker hat in Nizza stattgefunden, nicht in Syrien. Es ist in unseren Städten, wo man zuschlagen muss. Schnell und sehr hart.“ Der Philosoph wird noch drastischer: „Wir müssen den Krieg auf unser Territorium zurückholen und ihn präventiv gegen alle Personen führen, die eine potentielle Gefahr darstellen.“ Fast ähnlich klingt es eine halbe Woche später sogar bei Innenminister Cazeneuve im Interview mit Le Monde: „Wir führen einen totalen Krieg gegen den Terror.“

Verlängerung des Ausnahmezustands

In der sowohl öffentlich wie im Parlament scharf geführten Debatte um den Ausnahmezustand ging es dann darum, wie dieser Krieg geführt werden müsse. Eigentlich hätte der schon drei Mal verlängerte Ausnahmezustand am 26. Juli auslaufen sollen. Am Nachmittag des 14. Juli hatte Präsident Hollande sein Ende verkündet. Nur ein paar Stunden später, in der Nacht von Nizza, nahm er das zurück und kündete weitere Verlängerung um drei Monate an. Mindestens sechs Monate, verlangten die oppositionellen Republikaner. Eric Ciotti, Abgeordneter der Republikaner aus Nizza und Präsident des dortigen Departementalrats, forderte gar die Verlängerung für ein Jahr. Nach turbulenter Parlamentssitzung bis kurz vor fünf Uhr morgens blieb es bei einem halben Jahr: Die Behörden können weiterhin Hausarreste verhängen, Durchsuchungen ohne richterlichen Beschluss anordnen und radikale Vereine und Organisationen auflösen.

Salafismus verbieten!

Die Republikaner hatten viel weiter gehen wollen und eine ganze Liste mit scharfen neuen Maßnahmen und Gesetzesänderungen vorgelegt: Schließung von radikalen Moscheen und Ausweisung ihrer Imame, Internierung oder Ausweisung aller von den Sicherheitsdiensten unter „Akte S“ geführten potentiellen Gefährder und Umfeldpersonen – immerhin 11.400 Menschen –, Ausweisung von straffälligen Nichtfranzosen, keine automatischen Hafterleichterungen für Terror-Verurteilte, Schaffung eines „Tatbestandes des Aufenthalts“ in Syrien, Irak oder anderen Terrorzonen. Dazu kamen die Vorschläge, den Salafismus in Frankreich zu verbieten und die Nichtanzeige von Radikalisierung strafbar zu machen. Sogar von einem „französischen Guantanamo“ war in der wütenden öffentlichen Debatte die Rede.

Wir sind im Kriegszustand, und der Rechtstaat muss sich an den Kriegszustand anpassen.

Senatspräsident Gérard Larcher

Kein Wunder also, dass der Senat, wo die Republikaner die Mehrheit haben, sich quer legte und das Gesetz über die Verlängerung des Ausnahmezustands einen Tag aufhielt. „Wir sind im Kriegszustand, und der Rechtstaat muss sich an den Kriegszustand anpassen“, forderte Senatspräsident Gérard Larcher. Von der Verpflichtung der Demokratie, notfalls das Spektrum der Grundfreiheiten einzuschränken, spricht auch Philosoph Bruckner: „Es geht um das Überleben der Demokratie. Erste Notwendigkeit ist es, den Leib zu retten, nicht die Prinzipien.“ Nizza, so Bruckner, sei eben auch „die Erinnerung an das Prinzip der Realität“ gewesen.

Am Schluss blieb es beim Minimalkompromiss der Beschlüsse der Nationalversammlung. Doch die heftige Diskussion deutet an, wohin die Reise in Frankreich gehen kann: „Die Franzosen verlangen Maßnahmen von extremer Härte, selbst wenn sie die Freiheit des Einzelnen einschränken“, hatte Le Figaro kurz nach dem Anschlag in Nizza geschrieben. Gut möglich, dass sie sie früher oder später bekommen werden.

Dschihadistische Fünfte Kolonne

Im „Krieg“ – der Begriff ist in der französischen Presse und in der Politik inzwischen allgegenwärtig – und in der Diskussion darüber, wie er zu führen ist, entdecken die Franzosen auch den Feind und benennen ihn: Hunderte oder Tausende Dschihad-Rückkehrer. Premierminister Valls nennt 120 Salafisten-Moscheen und zehntausende Salafisten. Christian Estrosi, ehemaliger Bürgermeister von Nizza und seit Dezember Präsident der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur spricht von der Existenz einer dschihadistischen „fünften Kolonne“ in Frankreich. Und deren Reihen wachsen immer bedrohlicher. Dass der Täter von Nizza Tunesier war, „ist eine Katastrophe“, erklärt der Historiker und Maghreb-Experte Pierre Vermeren. Denn das kleine mit Frankreich eng verbundene Land ist zurzeit der hauptsächliche Lieferant von Dschihadisten im Maghreb. Vermeren: „Für Frankreich, das besonders im Visier ist, heißt das: Der Nachschub an Feinden wächst.“

Die meisten muslimischen Banlieue-Bewohner sind leicht radikalisierbar.

In Le Monde präsentiert Sebastien Roché, ein Direktor des Nationalen Wissenschaftsinstitutes CNRS, Forschungen über die Radikalisierbarkeit muslimischer Banlieue-Bewohner. Ergebnis: Praktisch alle sind radikalisierbar, und ihre Religionszugehörigkeit samt völlig anderen Wertvorstellungen spielt dabei eine entscheidende Rolle. Roché: „In einer sehr heterogenen Gesellschaft muss man von der Tatsache ausgehen, dass es überhaupt nicht selbstverständlich ist, gemeinsame Werte zu teilen.“ Gut bekannt ist allen Franzosen schon lange, dass muslimische Gefängnisinsassen offenbar unbegrenzt radikalisierbar sind – und über 50 Prozent der Häftlinge in französischen Gefängnissen sind Muslime. Vom Islam als Frankreichs „hauptsächlicher Gefängnis-Religion“ schrieb im vergangenen März Le Figaro.

„Die große Angst vor dem Bürgerkrieg“

Kein Wunder, dass ein weiterer Schreckensbegriff immer häufiger auftaucht: Bürgerkrieg. Von „der großen Angst vor dem Bürgerkrieg“ schreibt Le Monde eine Woche nach Nizza auf der Titelseite und widmet dem Thema eine Doppelseite. Die Dschihadisten wollten mit ihren Anschlägen Frankreich in den Bürgerkrieg stürzen, prophezeit Gilles Kepel in fast jedem seiner vielen Interviews. „Wenn der Staat nicht sein legitimes Gewaltmonopol einsetzt, dann werden es andere tun“, warnt wieder Philosoph Bruckner und erinnert daran, dass eine große Zahl sogenannter „sensibler städtischer Zonen“ dem Staat entglitten sind: „Zonen, in denen es kein Recht mehr gibt, oder vielmehr ein anderes Recht, zählen zu Hunderten.“ Ein Bürgerkrieg oder Religionskrieg werde nicht ausgerufen, erinnert Historiker Vermeren, sondern sei plötzlich einfach da, unkontrollierbar und für lange Zeit. Vermeren: „Die Taten, die seit Monaten begangen werden, sind schon Akte des Bürgerkrieges.“

Die Wut wächst auf die muslimische Gemeinschaft und ihre anhaltenden Zweideutigkeiten gegenüber dem Terror.

Nicolas Bavarez, Le Figaro

Wo wird das enden? Gilles Kepel hofft auf die Mobilisierung der Gesellschaft und da vor allem auf die der Muslime, um den islamistischen „Sumpf trocken zu legen“. Ähnlich sieht es offenbar auch Premierminister Valls, der darum im Parlament Frankreichs Muslime ungewohnt scharf anspricht: Der Islam in Frankreich müsse „seiner Verantwortung total gerecht werden“. Valls: „Die Muslime von Frankreich haben bei der Verteidigung der Republik ihre Rolle.“ Der Premier weiter: „Sie müssen diesen Kampf klar führen, mit unserer Unterstützung, um das, was wirklich der Islam von Frankreich ist, von seinen perversen Ideologien zu trennen, in den Moscheen, in den Stadtvierteln, in den Familien.“

Die Taten, die seit Monaten begangen werden, sind schon Akte des Bürgerkrieges.

Pierre Vermeren

Dem Premier geht hörbar die Geduld verloren. Und nicht nur ihm, sondern dem ganzen Land, schreibt im Figaro erbittert Kommentator Nicolas Baverez: „Die Wut wächst auf die muslimische Gemeinschaft und ihre anhaltenden Zweideutigkeiten gegenüber dem Terror.“

Nizza verändert alles.

Diese Wut verändert das Land. Im Präsidentschaftswahlkampf, der längst begonnen hat, wird sie noch wachsen. Denn in diesem Wahlkampf „wird es darum gehen, wie die Franzosen geschützt werden können und wer der geeignetste Oberbefehlshaber ist“, prophezeit Nizzas Abgeordneter Eric Ciotti. In den nächsten Monaten werden darum noch ganz andere, noch schärfere Töne zu hören sein, von allen Seiten. Denn Präsident Hollande, im absoluten Stimmungstief, und seine Sozialisten müssen den Wählern vorführen, dass sie Herren der Lage sind. Wohin ihre Verzweiflung − und die Wut der Franzosen − sie womöglich noch führt, muss sich zeigen. Sicher ist: Die furchtbare Welle des islamischen Terrors in Frankreich wird schwere politische Folgen haben. Nizza verändert alles.