Der türkische Präsident Recep Erdogan. (Foto: Zuma-Press/imago)
Türkei

Erdogans „Säuberungen“ nach dem Putsch

Die Türkei gerät wegen ihres Vorgehens gegen mutmaßliche Unterstützer des Putschversuches zunehmend unter internationalen Druck. Der türkische Autokrat Recep Erdogan scheint die Gunst der Stunde nutzen zu wollen, um das Land und seine Institutionen komplett unter seine Kontrolle zu bringen. Tausende Richter, Staatsanwälte, Polizisten und Beamte ohne Bezug zu dem Putsch wurden abgesetzt.

Der angebliche Umsturzversuch durch Teile des Militärs war in der Nacht zum Samstag niedergeschlagen worden, nachdem Erdogan die Bevölkerung zu Massenprotesten aufgerufen hatte. Bei den Kämpfen vornehmlich in Ankara und Istanbul waren etwa 300 Menschen – Putschisten, regierungstreue Sicherheitskräfte und Zivilisten – getötet worden. Die Putschisten hatten bei ihrem Umsturzversuch Kampfjets sowie Hubschrauber gekapert und unter anderem das Parlament in Ankara bombardiert. Anführer der Putschisten soll nach Angaben aus Regierungskreisen der Ex-Luftwaffenchef Akin Öztürk gewesen sein. Neben Öztürk, der als „formaler Anführer der Junta“ bezeichnet wird, wurden nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu mehr als 100 weitere Generäle aus den Streitkräften festgenommen.

Als Hintermann sieht Erdogan den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen, was dieser bestreitet. Die USA haben von der Türkei noch kein offizielles Auslieferungsgesuch für Gülen erhalten. US-Außenminister John Kerry sagte am Rande eines Treffens mit EU-Amtskollegen in Brüssel, die USA würden einem solchen Gesuch nur nachkommen, wenn Beweise für eine Verwicklung von Gülen in den gescheiterten Putsch vorliegen. „Anschuldigungen reichen nicht“, sagte Kerry. In der Vergangenheit hat Erdogan für alles, was in der Türkei schlecht war, seinen Erzfeind Gülen verantwortlich gemacht. Es ist also in der Tat fraglich, ob dieser für den Putsch verantwortlich ist. Dies auch deshalb, weil die dubiose Gülen-Sekte zwar für die Unterwanderung von Justiz und Polizei bekannt ist, in der türkischen Armee aber nur über sehr wenige Sympathisanten verfügen soll.

Auch lässt Erdogans Äußerung, der Putsch sei ein „Geschenk Allahs“, darauf schließen, dass der Autokrat schon länger Pläne für die von ihm selbst so genannten „Säuberungen“ hegt. Bereits bei dem angeblichen „Ergenekon“-Putsch ab 2003 hatte der „Sultan vom Bosporus“ die Chance genutzt, auch massiv gegen die Zivilgesellschaft, Polizei, Justiz und Medien vorzugehen.

Die „Säuberungen“ laufen an

Die türkische Regierung startete bereits wenige Stunden nach dem Putsch eine „Säuberungsaktion“ in Militär, Justiz und Sicherheitsbehörden. Knapp 6000 Angehörige der Streitkräfte wurden schon wenige Stunden nach dem Putsch festgenommen, fast 8000 Polizisten und 2700 Richter (mehr als ein Fünftel aller Richter) wurden abgesetzt, darunter sogar zwei Verfassungsrichter. Wie die Vergangenheit zeigte, war das Verfassungsgericht nicht immer auf einer Linie mit Erdogan und seiner AKP. Daher hatte der Präsident dem Verfassungsgericht schon relativ offen mit Maßnahmen gegen dessen Unabhängigkeit gedroht. Das alles nährt bei vielen Beobachtern den Verdacht, dass die Listen mit Gegnern Erdogans schon länger vorbereitet wurden und zu einem bestimmten Zeitpunkt abgearbeitet werden sollten. Beweise gegen tausende Menschen konnten so kurz nach dem Putsch jedenfalls kaum vorgelegen haben. Festgenommen wurden neben 6038 Soldaten auch 100 Polizisten, 755 Richter und Staatsanwälte sowie 650 weitere Zivilisten.

Die „Säuberungen“ scheinen zudem auf alle Andersdenkenden ausgedehnt zu werden, jetzt, da kein Widerstand aus der Bevölkerung mehr droht. Mittlerweile gibt es auch schon erste Berichte über AKP-Anhänger, die Minderheiten wie Aleviten und Kurden sowie Erdogan-Gegner bedrohen und verprügeln. So sollen auch Büros der oppositionellen Kurdenpartei HDP zerstört worden sein. Bei Demonstrationen gegen den Putschversuch kam es Medienberichten zufolge zu Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der Regierungspartei AKP und Minderheiten. In der zentralanatolischen Stadt Konya hätten AKP-Anhänger versucht, ein überwiegend von christlichen Aramäern bewohntes Viertel zu stürmen, berichtete die Zeitung Cumhuriyet. Polizisten hätten das verhindert, bei Zusammenstößen seien aber fünf Aramäer verletzt worden. Die Nachrichtenagentur DHA meldete, auch in der osttürkischen Stadt Malatya sei es zu Spannungen gekommen. In einem alevitisch geprägten Viertel hätten AKP-Anhänger gerufen: „Die AKP-ler sind hier, wo sind die Aleviten?“ Sicherheitskräfte hätten Warnschüsse abgeben müssen, um Zusammenstöße zu vermeiden. Aus verschiedenen Städten wurden Attacken auf Kneipengäste gemeldet, die Alkohol tranken. Ein bislang unbekannter Angreifer hat den stellvertretenden Bürgermeister des Bezirks Sisli (Istanbul), Cemil Candas, niedergeschossen. Der Politiker der sozialdemokratischen CHP befindet sich in einem kritischen Zustand. Ob die Attacke mit dem Putsch zusammenhing, ist noch unklar.

In allen Behörden des Staates wird der Säuberungsprozess von diesen Viren fortgesetzt. Denn dieser Körper, meine Brüder, hat Metastasen produziert. Leider haben sie wie ein Krebsvirus den ganzen Staat befallen.

Recep Erdogan

In Istanbul zog die Regierung nach dem gescheiterten Putsch 1800 zusätzliche Spezialkräfte der Polizei zusammen. Diese Kräfte mit gepanzerten Fahrzeugen würden an strategisch wichtigen Einrichtungen und Straßen der größten Stadt des Landes eingesetzt, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu am Montag. Der Polizeichef Istanbuls habe befohlen, unbekannte Hubschrauber ohne Vorwarnung abzuschießen. Wie es aus Regierungskreisen hieß, patrouillierten in der Nacht im gesamten Luftraum der Türkei F16-Kampfflugzeuge. In der Nacht zum Montag waren erneut zahlreiche Türken den Aufforderungen der Regierung gefolgt, sich auf Straßen und Plätzen zu versammeln, um diese nicht möglichen weiteren Putschisten zu überlassen.

Vor seinen Anhängern rief der Präsident: „In allen Behörden des Staates wird der Säuberungsprozess von diesen Viren fortgesetzt. Denn dieser Körper, meine Brüder, hat Metastasen produziert. Leider haben sie wie ein Krebsvirus den ganzen Staat befallen.“

Todesstrafe gefordert

Der Einsatz der Todesstrafe dürfe nicht verzögert werden, sagte Erdogan auf lautstarke Zurufe der Menge. Er werde bald Beratungen mit der Opposition über die Wiedereinführung starten. „In Demokratien kann man die Forderung des Volkes nicht ignorieren“, so der Präsident. Dies wiederholte er am Sonntagabend und fügte an, er wolle keine Verzögerung bei der Einführung der Todesstrafe zulassen. Ministerpräsident Binali Yildirim deutete gegenüber der Menge ebenfalls an, dass die Todesstrafe wieder eingeführt werden könnte: „Wir haben eure Botschaft erhalten und werden sie überprüfen.“

Die Todesstrafe in Kriegszeiten war 2004 abgeschafft worden, als Voraussetzung für den Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen. Die Todesstrafe in Friedenszeiten wurde 2002 abgeschafft, damals noch unter dem Ministerpräsidenten Bülent Ecevit. Vollstreckt wurde die Todesstrafe aber schon seit dem Ende der Militärdiktatur im Jahr 1984 nicht mehr. Eine Verhängung gegen die Putschisten wäre zudem ein Bruch des Rechtsgrundsatzes des Rückwirkungsverbotes, wonach es keine Strafe ohne Gesetz geben dürfe. Das bedeutet, das nur die Strafen verhängt werden dürfen, die zum Zeitpunkt der Tat galten.

Nach dem gescheiterten Putsch aus den Reihen der Streitkräfte in der Türkei hat ein Soldat in der Nähe des zentralen Gerichtsgebäudes in Ankara das Feuer eröffnet. Der Mann sei festgenommen worden, hieß es aus Regierungskreisen. Opfer habe es nicht gegeben.

EU ist besorgt

Beim EU-Außenministertreffen in Brüssel zeigten sich etliche Teilnehmer tief besorgt über die Entwicklungen in dem Land, das auch EU-Beitrittskandidat ist. Die EU-Kommission warf der Staatsführung um Erdogan Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit vor. Der französische Außenminister Jean-Marc Ayrault sprach von der Gefahr einer Kehrtwende in der Türkei: „Wir müssen aufpassen, dass die türkischen Behörden kein System einrichten, das sich von der Demokratie abwendet.“ EU-Kommissar Johannes Hahn zeigte sich speziell über die Festnahme von Richtern beunruhigt. „Das ist genau das, was wir befürchtet haben“, sagte er in Brüssel. Er äußerte die Vermutung, dass die türkische Regierung ein Vorgehen gegen Gegner bereits länger geplant hatte.

Die Bundesregierung schloss eine Aufnahme der Türkei in die EU aus, sollte Ankara die Todesstrafe wieder einführen. „Wir lehnen die Todesstrafe kategorisch ab. Ein Land, das die Todesstrafe hat, kann nicht Mitglied der Europäischen Union sein“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin. Überlegungen Erdogans für eine Rückkehr zur Todesstrafe bezeichnete er als „besorgniserregend“.

Auch die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini stellte klar: „Kein Land kann Mitgliedstaat der EU werden, wenn es die Todesstrafe einführt.“ Der Putschversuch sei keine Entschuldigung dafür, Grundrechte und rechtsstaatliche Prinzipien zu missachten.

CSU sieht Rechtsstaat in der Türkei in Gefahr

Die CSU-Spitze bezweifelt, dass bei der Aufarbeitung des Putschversuchs in der Türkei durch Präsident Erdogan rechtsstaatliche Grundsätze eingehalten werden. „Im Moment muss man da Sorge haben“, sagte Parteichef Horst Seehofer am Montag vor einer CSU-Vorstandssitzung in München. „Mehr Erdogan, weniger Rechtsstaat – das ist meine Befürchtung“, sagte Seehofer über die Folgen des Putschversuchs. Die CSU fühle sich darin bestätigt, dass ein EU-Beitritt des Landes nicht infrage komme, auch nicht in mittlerer oder ferner Zukunft.

Wer es spätestens bis jetzt nicht gemerkt hat: Die EU-Türkei-Politik muss vollständig auf den Prüfstand!

Andreas Scheuer

CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer betonte: „Erdogan befindet sich in einer Bewährungsphase.“ Zu den von der türkischen Regierung angekündigten „Säuberungen“ nach dem Putschversuch sagte er: „Das sind nicht Begriffe des Rechtsstaats und der Demokratie.“ Es dürfe keine vollständige Visa-Freiheit geben, zudem müssten die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sofort gestoppt werden.

Gerüchte über inszenierten Putsch

Über den dilettantisch durchgeführten Putsch kursiert mittlerweile auch das Gerücht, die Regierung selbst habe den Aufstand geplant, um so die Mehrheiten für Erdogans gewünschte Präsidialdiktatur zu schaffen. Es seien viel zu wenige Soldaten und Panzer an der Aktion beteiligt gewesen, um alle strategisch wichtigen Ziele zu besetzen. Auch sei die Bombardierung von Zielen wie dem Parlamentsgebäude militärisch völlig nutzlos gewesen. Wenn der ehemalige Luftwaffenchef der „Mastermind“ des Putsches gewesen sei, so wird gefragt, warum dann nur so wenig Kampfflugzeuge und Hubschrauber für die Putschisten geflogen seien. Das oberste Ziel eines Putsches, den Anführer der Gegenseite festzusetzen oder auszuschalten, sei auch nicht gerade vehement verfolgt worden. Dazu passt eine Meldung der Agentur Reuters: Erdogans Flugzeug sei im Visier zweier Rebellen-Flieger gewesen, aber nicht abgeschossen worden.

Sie feiern nicht die Rettung der Demokratie, sie feiern die islamische Revolution.

Augenzeuge, über die Siegesfeiern der AKP-Anhänger

Ob tatsächlich eine Inszenierung vorliegt, erscheint fraglich. Zu groß wären die Risiken gewesen, zu nervös wirkten Erdogan und seine Gefolgsleute, zu groß waren die Opferzahlen. Zudem hatte der Staatsführer seine Macht einerseits im Parlament durch die Aufhebung der Immunität von mehr als 100 Abgeordneten und andererseits durch zahlreiche Entlassungs- und Versetzungswellen im Behördenapparat ohnehin schon fast vervollständigt.

Aber der Umsturz kennt letztlich nur einen Sieger, da sind sich alle Analysten einig: den Autokraten Recep Erdogan, der nun beinahe ungehindert seine Macht ausbauen kann. „Der eigentliche Putsch beginnt womöglich erst, nachdem der letzte Schuss gefallen ist“, bilanziert jedenfalls die Zeitung Die Welt.