Die Türkei auf dem Weg in die Diktatur. (Bild: Imago/Ralph Peters)
Fast 300 Tote

Putsch in der Türkei gescheitert

Ein Teil der türkischen Streitkräfte hat gegen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan geputscht, ist damit aber offenbar gescheitert. Gefechte gab es in Ankara und Istanbul, Parlament und Präsidentenpalast wurden bombardiert. Seit der Niederschlagung des Putsches wurden nach Regierungsangaben mehr als 6000 Menschen festgenommen. Diesen Angaben zufolge kostete der Putsch fast 300 Menschen das Leben.

Bei dem Umsturzversuch wurden nach offiziellen Angaben vom Abend rund 300 Menschen – mehr als 190 regierungstreue Sicherheitskräfte oder Zivilisten und gut 100 Putschisten – getötet, mehr als 1400 wurden verletzt.

Gegen 02.40 Uhr Ortszeit (01.40 MESZ) wurde Istanbul von einer schweren Explosion erschüttert. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete, bei einem Luftangriff der Putschisten auf das Hauptquartier der Spezialkräfte der Polizei in Ankara seien 17 Polizisten getötet worden. Außerdem sei ein Hubschrauber der Putschisten in Ankara von F-16-Kampfflugzeugen abgeschossen worden.

Bei Luftangriffen der Putschisten auf das Parlament in Ankara ist das Gebäude der türkischen Nationalversammlung stark beschädigt worden. Auf Fernsehbildern sind Trümmer, zerborstene Scheiben und gravierende Schäden am Mauerwerk zu sehen. Aus Regierungskreisen hieß es, die Umstürzler aus der Armee hätten zuvor sowohl Hubschrauber als auch F-16-Kampfflugzeuge unter ihre Kontrolle gebracht.

Am frühen Morgen war zunächst von wenigstens 60 Toten die Rede gewesen. Laut jüngsten Informationen aus Kreisen der Regierung wurden nach dem Umsturzversuch inzwischen 1563 mutmaßliche Teilnehmer des Putsches aus den Reihen der Streitkräfte festgenommen. Fünf Generäle und 29 Oberste seien ihrer Posten enthoben worden.

Putsch gescheitert?

Die Regierung in Ankara bezeichnete den Versuch von Teilen des Militärs, die Macht an sich zu reißen, als gescheitert. In der Nähe des Präsidentenpalastes in Ankara gebe es aber noch Probleme, sagte Präsident Recep Tayyip Erdogan am Morgen am Atatürk-Flughafen in Istanbul. In der Nähe des Palastes sollen Kampfjets Bomben abgeworfen haben.

Ministerpräsident Binali Yildirim rief das Parlament für Samstag zu einer Sondersitzung zusammen. „Die Situation ist weitgehend unter Kontrolle“, sagte er. General Ümit Dündar werde kommissarisch neuer Militärchef, meldete Anadolu.

Mit dem Putsch sollten unter anderem die verfassungsmäßige Ordnung, die Demokratie und die Menschenrechte wiederhergestellt werden, teilte das Militär nach Angaben der privaten Nachrichtenagentur DHA mit. Erdogan sagte, er sei vor seinem Flug nach Istanbul in Marmaris an der türkischen Ägäis-Küste gewesen. Unmittelbar nach seiner Abreise hätten die Putschisten „diesen Ort leider genauso bombardiert“.

Sündenbock Gülen

Staatspräsident Recep Erdogan hat die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen für den Putschversuch in der Türkei verantwortlich gemacht. Gülen – der die Aktionen verurteilte und jede Verantwortung dafür zurückwies – ist seit einem schweren Zerwürfnis im Jahr 2013 zu einem der Erzfeinde Erdogans geworden. Hinter den meisten innenpolitischen Krisen vermutet Erdogan seit längerem immer die mächtige Bewegung des im US-Bundesstaat Pennsylvania lebenden Predigers. Erdogan wirft seinem einstigen Verbündeten vor, Parallelstrukturen im Staat errichten zu wollen und seinen Sturz zu betreiben. Dabei hat Erdogans AKP selbst den Staat in allen Bereichen übernommen, in Polizei, Justiz und auch in Teilen der Armee. Kritische Medien werden seit Jahren von Erdogans Truppen verfolgt und unterdrückt.

Säuberungswelle befürchtet

Bedenklich scheint in diesem Zusammenhang, dass Erdogan den Putsch als „Gottesgeschenk“ bezeichnete und Säuberungen im Militär ankündigte. Dass die Säuberungswellen nicht auf die Soldaten beschränkt bleiben, zeigte sich schon nach dem letzten angeblichen „Ergenekon“-Putsch, als der türkische Autokrat auch massiv gegen die Zivilgesellschaft, die Justiz, die Polizei und die Medien vorging.

Ministerpräsident Yildirim wies das Militär nach Angaben aus dem Präsidialamt an, von den Putschisten gekaperte Flugzeuge abzuschießen. Kampfflugzeuge mit einem entsprechenden Auftrag seien von der Luftwaffenbasis Eskisehir abgehoben.

Widerstand der AKP-Anhänger

In einem live übertragenen Telefonanruf beim Sender CNN Türk rief Erdogan am Freitagabend das Volk zu öffentlichen Versammlungen gegen die Putschisten auf. „Ich rufe unser Volk auf, sich auf den Plätzen und am Flughafen zu versammeln. Sollen sie (die Putschisten) mit ihren Panzern und ihren Kanonen machen, was sie wollen.“

Die Anhänger Erdogans leisteten aber offenbar massiven Widerstand und griffen sogar Panzer an. Auch die Muezzine, die der AKP nahe stehen, riefen mitten in der Nacht über die Lautsprecher der Moscheen anscheinend zum Widerstand auf. Im Istanbuler Stadtteil Tophane zogen Dutzende Gegner des Putsches auf die Straße. Ein dpa-Reporter berichtete am Samstagmorgen, die Menge habe unter anderem „Gott ist groß“ und „Nein zum Putsch“ gerufen. Der US-Fernsehsender CNN International und die britische BBC zeigten Live-Bilder aus der Stadt: Menschen strömten in Massen auf die Straße und schwenkten türkische Fahnen.

Nach einer zeitweisen Besetzung durch Putschisten nahm der Sender CNN Türk die Berichterstattung wieder auf. Soldaten waren in der Nacht in das Redaktionsgebäude in Istanbul eingedrungen und hatten die Mitarbeiter dazu gezwungen, den Sender zu verlassen.

Heftige Gefechte

Aus Ankara waren laut Medienberichten in der Nacht heftige Explosionen und Gefechtslärm zu hören. Nach Angaben des Senders CNN Türk kam es in der Hauptstadt zu Gefechten zwischen Polizei und Militär. Die Armee habe die Polizeidirektion beschossen, hieß es. Augenzeugen berichteten von Panzern in den Straßen der Hauptstadt. Die Lage im Land ist jedoch völlig unübersichtlich. DHA meldete, in der Hauptstadt Ankara habe die Polizei das gesamte Personal zum Dienst gerufen. Im Umfeld des Armee-Hauptquartiers seien erhöhte Sicherheitsmaßnahmen getroffen worden. Zahlreiche Krankenwagen stünden dort bereit. Kampfjets würden im Tiefflug über die Hauptstadt fliegen.

Kampfjets über Istanbul

Einem Medienbericht zufolge stoppte das Militär den Flugverkehr am Atatürk-Flughafen in Istanbul. Soldaten hätten den Tower am größten Flughafen des Landes am Freitagabend unter ihre Kontrolle gebracht, meldete die private Nachrichtenagentur DHA. Dort fuhren auch Panzer vor. Nach Erdogans Aufruf drangen Demonstranten auf das Flughafengelände ein, wie DHA meldete. Das Militär sei daraufhin wieder abgezogen.

Augenzeugen in Istanbul berichteten von schwer bewaffneten Sicherheitskräften in den Straßen. DHA meldete, eine der Bosporus-Brücken sei teilweise gesperrt worden. Kampfjets und Hubschrauber flogen im Tiefflug über Istanbul.

Ein Angriff auf die Demokratie?

Aus dem Präsidialamt Erdogans hieß es am Freitag: „Das ist ein Angriff gegen die türkische Demokratie. Eine Gruppe innerhalb der Streitkräfte hat außerhalb der Kommandostruktur einen Versuch unternommen, die demokratisch gewählte Regierung zu stürzen. Die Mitteilung im Namen der Streitkräfte war vom Militärkommando nicht autorisiert. Wir drängen die Welt, solidarisch zum türkischen Volk zu stehen.“

Nachdem Erdogan die türkische Demokratie schon selbst beinahe völlig ausgehebelt hat, wurde der Putsch allerdings von einem Teil der Bevölkerung in den großen Städten sowie an der Küste begrüßt. Dort sind die Menschen eher gegen Erdogan und seine streng islamische Regierungspartei AKP. Es wurde sogar von „Partystimmung“ berichtet. Augenzeugen berichteten von öffentlichen Solidaritätskundgebungen für die Putschisten in Istanbul. Am zentralen Taksim-Platz hätten sich Menschen in türkische Flaggen gehüllt und gerufen: „Die größten Soldaten sind unsere Soldaten.“

Ausgangssperre ausgerufen

Nach dem Militärputsch in der Türkei hatten die Putschisten eine Ausgangssperre im ganzen Land verhängt. Die Ausgangssperre diene der Sicherheit der Bürger, hieß es in einer Erklärung, die Putschisten im Staatssender TRT 1 verlesen ließen.

US-Präsident Barack Obama wurde von seinem Nationalen Sicherheitsrat über die Lage in der Türkei unterrichtet, wie der Sprecher des Gremiums, Ned Price, mitteilte.

Putsche in der Türkei

Die türkische Armee sieht sich als Wächterin der weltlichen Verfassung des Landes und hat seit 1960 drei Mal gegen die Zivilregierung geputscht:

27. Mai 1960: Das Militär sieht das demokratische System bedroht und stürzt die Regierung in einem Putsch. Ministerpräsident Adnan Menderes und zwei Minister werden im September 1961 gehängt. Die Regierung hatte die Pressefreiheit sowie die politischen Rechte der Opposition eingeschränkt. Studentenunruhen waren die Folge. Die Militärs bleiben 17 Monate an der Macht.

12. März 1971: Die zweite Intervention gilt als Antwort der Armee auf den wachsenden Terror gewalttätiger Gruppen der extremen Linken. Die Generale zwingen Ministerpräsident Süleyman Demirel per Denkschrift zum Rücktritt. Im Jahr darauf setzt das Militär wieder eine zivile Regierung ein.

12. September 1980: Auch die zweite Amtszeit Demirels endet mit seinem Sturz. Die Militärführung unter General Kenan Evren verhängt das Kriegsrecht, um den Verfall staatlicher Autorität angesichts des Terrors von Rechts und Links aufzuhalten. Etwa 650 000 Menschen werden festgenommen und zahlreiche hingerichtet. Erst im November 1983 geht die Militärherrschaft offiziell zu Ende.

30. Juni 1997: Eine politische Einmischung, aber kein Putsch: Die Armee erzwingt den Rücktritt des ersten islamistischen Ministerpräsidenten der Türkei, Necmettin Erbakan. Er war der Ziehvater des heutigen Regierungschefs Recep Tayyip Erdogan.

2003: Offiziere diskutieren in einem mit dem Namen Balyoz („Vorschlaghammer“) versehenen Planspiel Schritte für ein inszeniertes Chaos in der Türkei und die Entmachtung der Regierung – so stellt es das oberste Gericht im Oktober 2013 rückblickend fest. Es bestätigt die Verurteilungen von 237 damals Beteiligten.