Erbfolgekriege ohne Zahl und Maß
Samuel Huntington und die Rückkehr der Geschichte: Die Zukunft liegt in alten und ältesten Geschichtsbüchern und ist alles andere als nur noch Fortschreibung der Welt, wie sie bis gestern bestand.
Welt aus den Fugen

Erbfolgekriege ohne Zahl und Maß

Gastbeitrag Samuel Huntington und die Rückkehr der Geschichte: Die Zukunft liegt in alten und ältesten Geschichtsbüchern und ist alles andere als nur noch Fortschreibung der Welt, wie sie bis gestern bestand.

Es ist gerade zwanzig Jahre her, da fand die Political Correctness diesseits und jenseits des Atlantik Grund zur Aufregung. Harvard Professor Samuel Huntington hatte zuerst einen Aufsatz im renomierten amerikanischen Aussenpolit-Magazin Foreign Affairs veröffentlicht und dann ein Buch nachgeliefert: „The Clash of Civilizations“ – Zusammenstoß der Kulturen. Huntington, einer der bedeutendsten Politikwissenschaftler des ausgehenden 20. Jahrhunderts, hatte zusammen mit anderen Fachleuten der internationalen Politik versucht, aus Vergangenheit und Gegenwart zu entschlüsseln, was die Welt nach dem Kalten Krieg bestimmen würde.

Das geschah im größtmöglichen Widerspruch zu der These eines anderen, einer jüngeren Generation zugehörigen Amerikaners – „The End of History“. Francis Fukuyama prophezeite nicht weniger als das Ende der Geschichte und Auflösung aller Weltkonflikte in Demokratie und Marktwirtschaft. Es war eine Narrenposse, kein Zweifel, aber sie wurde in Akademien ebenso gern geglaubt wie in Staatskanzleien. Selbst der ältere Präsident Bush, sonst romantischen Schwärmereien nicht ebenso zugeneigt, ließ sich verführen, am Ende des zweiten Golfkriegs, nach dem 100-Stunden-Krieg und Sieg über Saddam Hussein, den starken Mann von Bagdad, im Februar 1991 „The New World Order“ zu verkünden: Die neue Weltordnung, made in the US, und mit Washington als wohlwollender Moderator verbleibender Störungen und aufgeklärter Lenker der Welt. Strategische Thinktanks und das Studium der Geschichte und Kultur der Völker erschienen so überflüssig wie Armeen und Geheimdienste. Viel von den Gestaltungskonzepten der 1990er Jahre, insbesondere der wenig rücksichtsvolle Umgang mit Russland, kam aus einer technokratischen, unhistorischen und strategisch ahnungslosen Sicht der Welt – als hätte es vor dem Kalten Krieg keine Geschichte gegeben, und danach auch nicht.

Nicht so Huntington, dessen Buch eine Wiederauflage und, noch wichtiger, gründliche Lektüre verdient. Er sah, als die Sowjetunion zusammengebrochen war, nach dem Ost-West-Konflikt sehr alte Konflikte wiederauferstehen in neuer Gestalt. Erbfolgekriege ohne Zahl und Maß würden auf lange Sicht neue Landkarten erzeugen, nicht mehr von müde gewordenen europäischen Vormächten bestimmt, nicht einmal von den Vereinigten Staaten von Amerika. Der Aufstieg Chinas nach dem Tode Maos und dem Ende seiner grausamen Wahnideen war damals schon in vollem Gang, zusammen mit den tektonischen Veränderungen rund um das pazifische Becken. Er wusste, dass Jugoslawien, die kaum verhüllte Herrschaft der Serben über den Rest der Südslawen, zuletzt nur noch durch die Drohung sowjetischen Einmarschs und die Geheimpolizei Titos zusammengehalten wurde.

Ukraine – blutige Fronten und viel unversöhnte Geschichte

Huntington sah auch, zusammen mit älteren Praktikern der OSS – Office of Strategic Services, Vorgänger der CIA und ihrer zahlreichen Neben-Organisationen – den Riss, der heute durch die Ukraine geht und das Land in Stücke reißt. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass sich hier ein durch die Jahrhunderte zeigender Gegensatz zwischen Orthodoxie und selbstbehauptender, nicht dem Papst zugewandter Katholizität verstärkte. Spannungen zwischen westlichem Erbe und Russentum, Doppelgesichtigkeit zwischen habsburgischen Nostalgien und der bitteren Erinnerung an den „Harvest of Sorrow“ – die Ernte des Todes, wie Robert Conquest sein Buch über den millionenfachen Mord nannte, den Stalin und seine Gesellen in den 1930er Jahren an den Ukrainern verübten. Die Frontlinien des Zweiten Weltkriegs, als viele Ukrainer in ihrer Verzweiflung die deutsche Seite suchten, sind in die Gemüter der Menschen tief eingegraben. Sie bestimmen auch noch die heutigen Kämpfe zwischen den Regierungstruppen, die von Kiew Befehle und Ausrüstung empfangen – die russische Propaganda, wenn sie von „Faschisten“ spricht, spielt auf diese Vergangenheiten an – und den von Moskau munitionierten Rebellen, die nach der Annexion der Halbinsel Krim mit den Zarenschlössern und dem Kriegshafen Sebastopol die ganze Ukraine heimholen wollen. Die Krim war Kriegsbeute, die unter Katharina der Großen – ihr Beiname erinnert an die Eroberung der Halbinsel und des Kriegshafens von den Türken – 1783 dem Zarenreich zugeschlagen wurde und erst 1954, zum 300. Jahrestag des Bündnisses der ukrainischen Granden mit dem russischen Zaren in einem Verwaltungsakt der Ukraine zugeschlagen wurden. Manche sprachen auch, fälschlich, von einer Wodkalaune des Ukrainers Chruschtschow, Generalsekretär der KPdSU und damals im Kreml der starke Mann.

Zwischen den blutigen Fronten von heute in der Ostukraine steht viel unversöhnte Geschichte. Huntington hätte das alles nicht sonderlich erstaunt. Für ihn war es nur eine Frage der Zeit, bis die alten Konflikte aufbrechen würden. Und nicht nur das. Er dachte in „policy“-Dimensionen, nicht technisch-bürokratischem Vollzug. Und damit gehörte für ihn, ähnlich wie für Henry Kissinger, der Blick in die Tiefe der Erinnerung essentiell zur Staatskunst. Für Huntington war die Beschäftigung mit den Erinnerungen der Völker und ihren Kulturen eine Frage politischer Weisheit mit dem Ziel, sie beizeiten zu zähmen und einzubinden in übergreifende friedenstiftende politische Konzepte.

Der Kalte Krieg kam nicht zurück – weil er niemals ganz vorbei war

Man kann nicht sagen, dass nach 1989/90 und dem „game change“ der deutschen Einheit alles gut gegangen ist: Russland sah sich, zu Recht oder zu Unrecht, ausgeschlossen von der neuen europäischen Ordnung, die russischen Konzepte „von Lissabon bis Wladiwostok„ – an denen es nicht fehlte – wurden kaum ernsthafter Betrachtung und konstruktiver Prüfung gewürdigt. Die Zusicherungen, welche die deutsche Einheit ausgesprochen und – noch wichtiger – unausgesprochen begleiteten und absicherten, wurden belastet durch Osterweiterungen der Nato und der EU. Und die Russen erinnern sich, dass 1990 auf die Frage, ob die Nato sich zu erweitern denke, US-Außenminister James Baker seinem russischen Gegenüber Eduard Shewardnadse mit drei Worten beruhigte: „Not an inch“. Die Osterweiterung um Polen und die baltischen Staaten wurde begleitet nicht nur durch die Errichtung des Russland-Nato-Rates und die Grundakte, sondern auch durch ein Gentlemen’s agreement im Sinne von „No nukes, no troops, no installations“. Es gab eine Zeit, da war sogar gemeinsame Raketenverteidigung denkbar – bis beide Seiten, Amerikaner und Russen, abwinkten. Der Kalte Krieg kam nicht zurück. Schon deshalb, weil er niemals ganz vorbei war. Marxismus-Leninismus war das Leuchtfeuer, das längst erloschen war. Doch der zarische Doppeladler, der nach Ost und West blickt mit dem Anspruch auf Herrschaft und Tribut, der schmückt nicht nur den Kreml, sondern bewegt auch die Herzen in Furcht und Zustimmung.

Irak – ein Hornissennest arabischer Stämme

Am wenigsten beachtet und doch am gründlichsten in ihrer Voraussicht waren die Thesen Samuel Huntingtons über die Welt des Islam. Sie waren düster, vielleicht für den vegetarischen Geschmack des deutschen Publikums zu düster. Huntington hatte keinerlei Illusionen über die Dauerhaftigkeit der Staatenwelt, welche die Sieger des Ersten Weltkriegs in die Landkarten des „Greater Middle East“ eingekerbt hatten: Militärdiktaturen oder Familienfirmen oder eine Kombination aus beidem. Ägypten, die Landstriche östlich von Suez und dem ölreichen Zweistromland – seitdem unter dem Namen Irak – an die Briten, Syrien und Libanon den Franzosen. Ein britischer Staatsmann warnte damals noch vor dem Irak, natürlich vergeblich: „Ein Hornissennest arabischer Stämme.“

Die religiös-soziale Revolution des Ayatollah Chomeini, die mit einer ganzen Führungsschicht kurzen Prozess machte, sie erschoss oder ins Exil trieb, brachte ein Element des religiösen Fanatismus in den Nahen und Mittleren Osten. Eingeschlossen war der mittlerweile unlösbare Probleme schaffende Babyboom, der in den vergangenen Jahrzehnten den uralten, aber lange Zeit überdeckten Gegensatz Sunni und Shia blutig geschärft und zur großen Mächterivalität zwischen Saudi-Arabien und dem Iran zugespitzt hat. Daneben verblasst der Streit um das Heilige Land zur Nebenbühne, welche die konservativen Araber unter Führung der Saudis gern ruhigstellen würden. Islamischer Radikalismus fegt die alten Grenzen weg und bedroht die Regime. Die Zukunft, so hat Huntington das gesehen, liegt in alten und ältesten Geschichtsbüchern und ist alles andere als nur noch Fortschreibung der Welt, wie sie bis gestern bestand.

Was aber nun die Bedeutung der Geschichte für das Leben, Krieg und Frieden angeht, so kann man sie, das lehrt Huntington, verstärkt durch die jüngste Zeitgeschichte, eine Weile ignorieren, aber nur bei Strafe des Untergangs. Oder, wie Bismarck einmal bemerkte: „Die Geschichte in ihren Revisionen ist noch genauer als Preußens Oberrechenkammer“.