Es ist genau das Szenario, vor dem die Befürworter eines EU-Verbleibs Großbritanniens stets gewarnt hatten. Noch Anfang Juni hatte John Major, ehemaliger Tory-Premier, gesagt: „Wer sich jetzt an die Spitze dieser Anti-EU-Bewegung stellt, muss nach einem erfolgreichen Votum auch Verantwortung übernehmen.“ Wer das nicht tue, mache sich für den möglichen Niedergang Großbritanniens mitverantwortlich, stellte Major klar. Eine Einschätzung, die auch sein Nachfolger im Amt, Tony Blair, teilte.
Das alles sieht Boris Johnson offenbar ganz anders. Er, neben dem Rechtspopulisten Nigel Farage DAS Gesicht der „Brexit“-Befürworter, sieht sich nicht in der Verantwortung für das Land – und wird sich deshalb im parteiinternen Wahlkampf nicht um das Amt des Tory-Chefs – und damit faktisch um Downing Street Nr. 10 – bewerben.
Das Gesicht der „Leave“-Kampagne macht einen Rückzieher
Er sei nicht derjenige, der das Land nach dem EU-Referendum jetzt führen sollte, sagte Johnson in einer Presseerklärung. „Ich bin zu dem Schluss gekommen, diese Person kann ich nicht sein“, sagte er. Oder, um im Sprachmodus der Leave-Kampagne zu bleiben: Erst motzen, dann flitzen.
Bevor Johnson in seiner Ansprache zu dem Punkt kam, der alle interessierte – nämlich die Frage danach, ob er seinen Hut in den Tory-Ring wirft oder nicht – machte es der frühere Londoner Bürgermeister spannend. Zunächst einmal ließ er sich Zeit bis wenige Minuten vor Ablauf der Frist, die die konservative Partei für die Einreichung der Bewerbungen gesetzt hatte. Und dann spannte er die Journalisten auch noch auf die Folter, schwadronierte über seine Bilanz als „Mayor of London“ und die angeblich glorreiche Zukunft, die Großbritannien außerhalb der EU jetzt bevorstünde.
Boris Johnson will sich die Hände nicht schmutzig machen.
Verantwortung für diese glorreiche Zukunft – aber auch die extrem komplizierten, langwierigen Verhandlungen mit Brüssel – will Johnson aber trotzdem nicht übernehmen. Der Mann, dem man seit seinem Start in der Politik einen untrüglichen Machtinstinkt nachsagt, will sich offenbar die Hände nicht schmutzig machen, in dem er federführend in die Austrittsverhandlungen mit der EU einsteigt. Diese Arbeit überlässt er lieber jemand anderem – wahrscheinlich der bisherigen Innenministerin Theresa May, übrigens eine Anhängerin des „Remain“-Lagers. Sie soll jetzt die Suppe auslöffeln, die Johnson den Briten mit eingebrockt hat – in stetem Verbund mit UKIP-Chef Nigel Farage, den er zwar persönlich mied, aber inhaltlich unterstützte.
Wasser auf die Mühlen der EU-Befürworter
Für diejenigen auf der Insel, die sich von Vornherein für einen EU-Verbleib stark gemacht hatten – allen voran die Schotten und deren Regierungschefin Nicola Sturgeon – ist Johnsons Rückzieher nur ein weiterer Beleg für das, was sie ohnehin gepredigt hatten: Erst tönen die Brexit-Fans lautstark umher, behaupten, sie hätten einen konkreten Plan – und dann hinterlassen sie einen Scherbenhaufen.
Sollte Theresa May im Oktober das Premierminister-Amt von David Cameron übernehmen, könnte ihr die undankbare Aufgabe zufallen, den Briten nicht nur wirtschaftliche Probleme im Zuge des Brexits zu erklären – man denke nur an die bereits angekündigten Job-Verlagerungen im Finanzsektor. Zusätzlich wird es an May sein, die harte Haltung der EU bei den Verhandlungen aufzuweichen, um den viel zitierten „best deal for Britain“ herauszuholen – was sich angesichts erster Äußerungen von Juncker, Merkel, Schulz und Hollande als nahezu unmöglich darstellt. Für die EU könnte sich May aber auch als Glücksfall herausstellen – sie polarisiert nicht so wie Johnson und gilt allgemein als fair und pragmatisch. Mit ihr zu verhandeln, könnte einfacher sein, als mit dem Heißsporn Johnson.
Johnson will nicht „nicht Premierminister“ werden – sondern nur „jetzt nicht“
Das Ende der politischen Karriere von Boris Johnson dürfte sein Rückzieher aber trotzdem nicht sein – vielmehr ist zu erwarten, dass Johnson nicht „nicht Premierminister“ werden will – er will es nur jetzt nicht werden. Sobald sich der Brexit-Sturm gelegt hat, wird Johnson wieder das Rampenlicht suchen. Es bleibt daher nur zu hoffen, dass die Briten ihm auch in ein paar Jahren, nach dem offiziellen Brexit, nicht verzeihen, in welche Situation er sie im Juni 2016 gebracht hat.