Großbritannien hat sich für den Ausstieg aus der EU entschieden. (Bild: Ralph Peters/Fotolia)
Brexit

Großbritannien trennt sich von Europa

Das Vereinigte Königreich verlässt die Europäische Union. 52 Prozent der Briten haben genug vom "Projekt EU". Für die Europäische Union muss das Resultat als Weckruf fungieren - die Zukunft Großbritanniens steht ebenfalls in den Sternen. Ein Blick nach Schottland und Nordirland zeigt: Nicht nur Europa ist jetzt geteilt - auch das Vereinigte Königreich könnte über dem Referendum zerbrechen.

Was lange befürchtet wurde, ist eingetreten: Eine Mehrheit der Briten hat sich beim EU-Referendum gegen eine weitere Mitgliedschaft in der Europäischen Union entschieden. Obwohl das amtliche Endergebnis noch nicht vorliegt, sprechen die Medien auf der Insel, allen voran die BBC, von einer Mehrheit der Wahlberechtigten, die sich für das Ende der Mitgliedschaft ihres Landes in der EU entschieden haben. 52 Prozent der Menschen im Königreich haben ihr Kreuz bei „Nein“ gemacht, 48 Prozent stimmten für einen weiteren Verbleib.

Die größten Erfolge erzielte die „Leave“-Kampagne in Mittel- und Nordengland sowie im Süden von Wales und Cornwall. Die „Remain“-Gruppierung verzeichnete ihre größten Zustimmungsraten in der Hauptstadt London und der umgebenden Region und in den schottischen Großstädten.

UKIP und viele Tories feiern den Wahlausgang

Die ersten Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Der Parteichef der rechtspopulistischen Partei UKIP, Nigel Farrage, ließ sich sogar zu dem Statement hinreißen, der 23. Juni 2016 müsse als Großbritanniens eigener „Independence Day“ (Unabhängigkeitstag) in die Geschichtsbücher eingehen. Auch Mitglieder der konservativen Tories – die Partei des EU-freundlichen Premiers David Cameron – zeigten sich in ersten Stellungnahmen erfreut über die Entscheidung der Wähler. Nicola Sturgeon dagegen, die Vorsitzende der Scottish National Party (SNP), zeigte sich enttäuscht über das Ergebnis – gab sich aber auch kämpferisch.

Bricht Großbritannien jetzt auseinander?

Denn: Während die Mehrheit der Menschen England und Wales für den EU-Austritt gestimmt haben, haben sich alle Wahlkreise in Schottland und die meisten Regionen Nordirlands für einen Verbleib ausgesprochen. Ein Umstand, den SNP-Chefin Sturgeon sogleich für erste Ankündigungen nutzte, die weiteren Sprengstoff enthalten. „Das Referendum hat gezeigt: Die Schotten sehen ihre Zukunft innerhalb der Europäischen Union“, sagte die schottische Politikerin in einem ersten Statement. Eine Aussage, die auf der Insel selbst als erste Ankündigung eines weiteren Unabhängigkeitsreferendums für Schottland gewertet wird.

Und auch aus Irland kommen erste Reaktionen. Die nationalistische Partei Sinn Fein machte darauf aufmerksam, dass auch die nordirischen Nachbarn für einen EU-Verbleib gestimmt hätten. Daraus, so heißt es aus den Reihen der Iren, erwachse eine historisch einmalige Chance, die seit den 1920er Jahren geteilte Insel wiederzuvereinigen.

Manfred Weber: „Entscheidung schadet beiden Seiten“ – Seehofer fordert EU-Reform

Das restliche Europa reagiert mit Trauer, aber auch mit Ernüchterung. Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigte sich „enttäuscht und traurig“. Die Entscheidung sei ein „Einschnitt für Europa“, sagte die Kanzlerin bei einer Pressekonferenz. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer sagte, dies sei „kein guter Tag für Europa“. Er persönlich bedauere die Entscheidung der britischen Bevölkerung. Jetzt müssten zügig und besonnen die Modalitäten über das künftige Verhältnis der EU zu Großbritannien geklärt werden. „Großbritannien ist ein wichtiger Partner für Deutschland und für uns in Bayern“, betonte Seehofer. Die Europäische Union müsse jetzt deutliche Signale setzen für eine Reform ihrer Politik.

Der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber, teilte mit, er bedaure und respektiere die Entscheidung der Briten. „Sie verursacht aber beiden Seiten großen Schaden“, stellte der CSU-Politiker fest. Das Referendum sei eine britische Abstimmung gewesen – und keine europaweite. „Die Zusammenarbeit innerhalb Europas ist eine Frage der Selbstbehauptung des Kontinents. Die Gemeinschaft braucht jetzt Zeit um nachzudenken. Wir wollen ein besseres und smarteres Europa“, so Weber. Die Austrittverhandlungen mit Großbritannien müssten rasch abgeschlossen werden, „maximal innerhalb von zwei Jahren“. Dann allerdings könne es auch keine Sonderbehandlung mehr für Großbritannien geben. „Austritt bedeutet Austritt“, machte Weber klar.

Wir wollen ein besseres und smarteres Europa.

Manfred Weber

Für Deutschland sprach Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) von einem „traurigen Tag für Europa“, der für die EU „ernüchternd“ sei. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz sprach von einer traurigen Entscheidung, auf die die EU allerdings vorbereitet sei. EU-Ratspräsident Donald Tusk sagte, er bedaure die Entscheidung, warnte aber vor Hysterie.

Hasselfeldt: „Emotionalität hat gegen Rationalität gewonnen“

Die CSU im Bundestag indessen warnt vor „Schnellschüssen und Aktionismus“ als Reaktion auf die Entscheidung der Briten. „Oberstes Gebot ist jetzt, einen kühlen Kopf zu bewahren“, sagte die Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Gerda Hasselfeldt. Die Entscheidung müsse weiterer Antrieb sein, um die EU zu verbessern. „Renationalisierung ist in Anbetracht der Herausforderungen auf unserem Kontinent und in der Welt nicht der richtige Weg.“ In Großbritannien habe „Emotionalität gegen Rationalität gewonnen“.

Niederlage für Cameron – wann kommt Johnson?

Für Premierminister David Cameron ist die Entscheidung eine herbe Niederlage. Er hatte seine Wiederwahl im vergangenen Jahr mit dem Versprechen verbunden, ein Referendum abzuhalten. Freilich mit dem Gedanken, mit einem neuen EU-Mandat nach Brüssel und einen „better Deal for Britain“ mit den Partnern aushandeln zu können. Sein stärkster Gegenspieler war ausgerechnet ein Parteifreund: Der frühere Londoner Bürgermeister Boris Johnson setzte sich schon früh an die Spitze der „Leave“-Kampagne. Aktuell ist unklar, wie und ob es für David Cameron weitergeht. Bislang hatte er stets betont, auch im Falle eines Brexits Premerminister bleiben und die Austrittsverhandlungen mit der EU führen zu wollen.

Ein offizielles Statement des Regierungschefs steht noch aus – es wäre aber wenig überraschend, wenn die Rufe der Brexit-Befürworter nach einem Wechsel an der Spitze lauter würden – weg von Cameron, hin zu Johnson. Und das, obwohl Johnson zusammen mit über 80 anderen Tory-Parlamentariern einen offenen Brief an Cameron unterzeichnet hat, der dem Premier die weitere Unterstützung zusagt. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass Cameron sofort seinen Hut nimmt. Vielmehr rechnet man auf der Insel damit, dass es gegen Ende des Jahres zu Führungswahlkämpfen kommt – nicht nur bei den Tories, sondern auch bei der Labour Party. Dort war die Mehrheit der Parlamentarier stets für einen EU-Verbleib. Die Labour-Stammwähler aber haben sich offenbar anders entschieden.

Pfund stürzt ab

Wirtschaftlich hat die Brexit-Entscheidung schon wenige Stunden nach Bekanntwerden des Ergebnisses erste, ernste Konsequenzen: Das britische Pfund stürzte im vorbörslichen Handel schon auf den niedrigsten Wert seit 1985, der Euro fiel auf das Niveau des US-Dollars zurück. Wirtschaftsexperten gehen davon aus, dass die britische und europäische Wirtschaft in den nächsten Tagen erheblichen Turbulenzen ausgesetzt sein wird.

Geteilte EU – geteiltes Königreich

Mit der Entscheidung teilt sich die Europäische Union erstmals seit über 40 Jahren. Doch der ganz große Erfolg, den die „Leave“-Befürworter jetzt in dem Referendum sehen wollen, ist das Ergebnis nicht. Vielmehr zeigt das Resultat, dass nicht nur die EU in vielen politischen Feldern geteilt und weit voneinander entfernt ist. Auch Großbritannien selbst ist in höchstem Maße uneins. Der „ganz große Wurf“, den Nigel Farage und Boris Johnson sich erhoffen, könnte sich also auch zum Boomerang für das Königreich entwickeln.

Bayerns Wirtschaft fürchtet Nachteile

Bayerns Wirtschaft reagiert ebenfalls konsterniert auf die Entscheidung. „Das ist ein schwarzer Tag für Europa. Der EU-Austritt des Vereinigten Königreichs hinterlässt nur Verlierer“, sagte Bertram Brossardt, Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw). „Wirtschaftlich wird der ‚Brexit‘ negative Folgen haben – für Europa, für Großbritannien, für Deutschland und auch für Bayern. Wir verlieren daneben einen wichtigen Partner bei der Verteidigung von Freihandel und Marktwirtschaft.“, Nach Überzeugung der vbw wird in erster Linie das Vereinigte Königreich selbst einen hohen Preis für den Austritt zahlen. „Die EU ist für Großbritannien mit Abstand der wichtigste Absatzmarkt.“

Börse reagiert panisch

Doch auch für Deutschland und Bayern bringt der britische EU-Ausstieg nur Nachteile: „Großbritannien ist mit 7,5 Prozent der Ausfuhren der drittgrößte Exportmarkt Deutschlands. Für Bayern ist das Vereinigte Königreich sogar noch wichtiger. Seit dem vergangenen Jahr ist es mit 8,6 Prozent der Ausfuhren hinter den USA der zweitgrößte Exportmarkt Bayerns. Durch den Austritt laufen wir nun in eine Phase der Unsicherheit. Unsicherheit führt zu Investitions- und Kaufzurückhaltung. Diese Phase muss jetzt so kurz wie möglich gehalten werden, indem die EU und Großbritannien den künftigen Umgang miteinander schnell definieren“, so Brossardt.

Bayerns Wirtschaftsministerin Ilse Aigner verlangte, jetzt schnell Klarheit über die Zukunft der Außenhandelsbeziehungen zu Großbritannien zu schaffen. „Wir müssen die bestehenden Handelsbeziehungen mit Großbritannien rasch auf eine vernünftige neue Grundlage stellen. Die bayerische Wirtschaft braucht Planungssicherheit“, sagte die Ministerin. „Es darf keine langwierigen Verhandlungen geben.“

Die Anleger an den deutschen Börsen reagierten panisch auf das Brexit-Votum. Kurz nach Handelsbeginn brach der deutsche Leitindex Dax um 9,98 Prozent auf 9233,48 Punkte ein.