Unerlaubte Geschwindigkeit: Gerade der Radsport galt und gilt als Doping-verseucht. (Bild: Imago/JOKER/Walter G. Allgoewer)
Dopingskandal Fuentes

Die Furcht vor den spanischen Blutbeuteln

Zehn Jahre nach der Aufdeckung des großen spanischen Dopingskandals um die "Operación Puerto" hat ein Madrider Berufungsgericht den Arzt Eufemiano Fuentes freigesprochen. Die Richter ordneten in dem Urteil an, dass die 2006 sichergestellten dutzenden Blutbeutel bei Fuentes an die Welt-Anti-Doping-Agentur ausgehändigt werden müssen. Damit müssen auch andere Sportarten Enthüllungen fürchten.

Denn die Blutbeutel waren nicht nur von Dutzenden von Radprofis wie Jan Ullrich oder Ivan Basso, es sollen auch einige andere Sportler darunter sein. Angeblich sind sogar bekannte Fußballer der großen spanischen Vereine darunter. Gegen das Urteil des Berufungsgerichts ist kein Einspruch möglich.

Gut zehn Jahre nach der Aufdeckung des größten Dopingskandals in der spanischen Sportgeschichte ist das Gerichtsverfahren um die „Operación Puerto“ (Hafen), bei der ein gewaltiger Dopingring um Fuentes ausgehoben wurde, mit Freisprüchen zu Ende gegangen. Ein Berufungsgericht in Madrid hob die Haftstrafen für den Dopingarzt Eufemiano Fuentes und den früheren Radsporttrainer José Ignacio Labarta auf. Fuentes war im größten Dopingprozess der spanischen Sportgeschichte im April 2013 als Hauptangeklagter zu einem Jahr Haft und zu einem vierjährigen Berufsverbot als Sportarzt in erster Instanz verurteilt worden. Er hatte Dutzenden Sportlern beim Doping mit Eigenblut geholfen. Labarta erhielt damals wegen Beihilfe vier Monate Haft. Die übrigen drei Angeklagten – die Medizinerin und Fuentes-Schwester Yolanda Fuentes, die Ex-Radteamchefs Manolo Saiz und Vicente Belda – wurden bereits erstinstanzlich freigesprochen. Das Gericht in erster Instanz hatte eine Herausgabe der Blutbeutel nicht nur verweigert, sondern sogar ihre Vernichtung angeordnet.

Merkwürdiges Urteil in erster Instanz

Fuentes hatte während seiner Vernehmung im Prozess der ersten Instanz ausgesagt, dass er neben Radsportlern hauptsächlich andere Sportler, darunter Fußballer, Leichtathleten, Tennisspieler und Boxer behandelte. Er bot die Herausgabe der Liste seiner Kunden an. Aber die zuständige Richterin wollte davon nichts wissen. Sie ordnete damals an, die Blutbeutel zu vernichten, was weltweit auf völliges Unverständnis stieß. Die Vernichtung geschah aber nicht, weil das Urteil der ersten Instanz nicht rechtskräftig war. Die Namen der mutmaßlichen Fuentes-Kunden sind weiterhin unbekannt. Ausnahme: 54 Radprofis waren schon 2006 identifiziert. Das seltsame Urteil ließ damals aber zahlreiche Verschwörungstheorien entstehen, wonach insbesondere die Fußballspieler so bekannt gewesen sein sollen, dass von ganz oben die Vertuschung des Skandals angeordnet worden sein soll. Spanische Ermittler beschwerten sich jedenfalls über Einmischungen.

Doping in Spanien damals nicht strafbar

Die Berufungsrichter begründeten die Freisprüche für Fuentes und Labarta damit, dass Doping bei der Aufdeckung des Skandals nach spanischem Recht nicht strafbar gewesen sei. Sie wiesen das Argument zurück, die Behandlung mit präpariertem Eigenblut habe eine Gefährdung der Gesundheit bedeutet. Der Freispruch für Fuentes stieß auch in Spanien auf Verblüffung. Bereits das Urteil in der ersten Instanz war von Experten als „zu milde“ eingestuft worden. Es bestärkte in der Sportwelt das Image Spaniens, den Kampf gegen Doping nicht besonders ernst zu nehmen. „Die Operación Puerto war ein Horror für den spanischen Sport“, sagte kürzlich der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees (NOK), Alejandro Blanco. „Wir hatten zehn Jahre damit zu kämpfen gehabt. Man hat das Gefühl, das wird noch 20 Jahre weitergehen.“

Die Operación Puerto war ein Horror für den spanischen Sport.

Alejandro Blanco

Jetzt im Visier: Fußball, Tennis und Leichtathletik

Interessant könnte es dennoch werden, nicht nur für spanische Sportler: Die Richter ordneten an, dass die mehr als 200 Blutbeutel, die die Polizei im Mai 2006 bei Fuentes beschlagnahmt hatte, an die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) und andere sportliche Institutionen ausgehändigt werden müssen. Damit könnte nachträglich ermittelt werden, welche Radprofis und anderen Sportler die Dienste des Fuentes-Labors in Anspruch genommen hatten. Schon vor mehreren Jahren war bekannt geworden, dass Radprofis wie Jan Ullrich, Ivan Basso (der nur zugab, solche Manipulationen „vorgehabt“, aber nicht durchgeführt zu haben), Tyler Hamilton, Alejandro Valverde oder Jörg Jaksche in den Skandal verwickelt waren. Alle diese Profis hatten Sperren erhalten.

Der einzige deutsche Toursieger von 1997, Jan Ullrich, war 2008 von der Bonner Staatsanwaltschaft der illegalen Kooperation mit Fuentes überführt worden. Nach einem jahrelangen Rechtsstreit sah der CAS 2012 Ullrichs Schuld als erwiesen an und verurteilte ihn zu einer Sperre. Der dritte Platz bei der Tour 2005 und sein Sieg bei der Tour de Suisse 2006 wurden ihm aberkannt. Auch Ullrich gestand lediglich eine „Zusammenarbeit“ mit dem umstrittenen Mediziner.

Nur noch symbolische Bedeutung?

Die jetzt verfügte Herausgabe der über 200 Blutbeutel an die WADA, an den spanischen und internationalen Radsportverband und das italienische NOK dürfte daher für den Radsport vor allem eine symbolische Bedeutung haben. Einige Radprofis, die mit dem Skandal in Verbindung standen, wurden bereits bestraft, andere haben ihre Karriere längst aufgegeben. Auch der deutsche Sportrechtler Michael Lehner glaubt nicht an rechtliche Konsequenzen durch die gerichtlich angeordnete Weitergabe der sichergestellten Blutbeutel von über 50 Radprofis. „Unabhängig von Verjährungsfragen stelle ich mir Ermittlungen schwierig vor. Es dürfte wohl kaum noch eine Verbands-Strafgewalt bestehen, weil die wenigsten damals enttarnten Profis noch eine Lizenz halten“, sagte Lehner der Deutschen Presse-Agentur. Trotzdem erwartet der Anwalt von der Welt-Anti-Doping-Behörde (WADA) „aus historischer Sicht“ eine Offenlegung der Erkenntnisse. Im aktuellen WADA Code gilt im Moment nach Auskunft des Sportrechtlers Siegried Fröhlich eine Verjährung von zehn Jahren. Bei Beschlagnahme der Blutbeutel 2006 seien aber noch acht Jahren relevant gewesen. Die WADA könne sich aber auf eine „Hemmung der Verjährung“ berufen und dennoch ermitteln.

Drei prominente noch aktive Profis, die damals in die Affäre verwickelt gewesen sein sollen, sind die Spanier Valverde und Alberto Contador und der Italiener Michele Scarponi. Valverde war vom italienischen NOK 2009 verurteilt und ein Jahr später auch nach einem Urteil des Sport-Schiedsgerichts CAS weltweit gesperrt worden. Sein Landsmann Contador war nicht im Zusammenhang mit der Fuentes-Affäre, sondern 2010 wegen eines positiven Doping-Befundes bei der Tour de France gesperrt worden.

Großer sportlicher Erfolg eines kleinen Landes

Die sportlichen Erfolge Spaniens in der Phase von 1995 bis 2010 (wenn man die Vor- und Nachwehen des Fuentes-Dopings mit einbezieht) sind jedenfalls für ein so kleines Land mit nur 46,5 Millionen Einwohnern in den von Fuentes genannten Disziplinen Radsport, Leichtathleten, Fußball, Tennis und Boxen beeindruckend. Fuentes verkaufte sei mindestens 2003 seine „Therapien“. Würde man annehmen, dass die Olympischen Sommerspiele 1992 in Barcelona einen Doping-Boom im spanischen Sport ausgelöst haben könnten, müsste man wohl noch weiter zurückgehen. SZ-Dopingexperte Thomas Kistner beschreibt es so: „Eine goldene Generation, die gibt es tatsächlich. Aber was für eine: Nicht nur Spaniens Fußball erfuhr Mitte der Nullerjahre einen Aufstieg; auch in anderen Ballsparten, im Radsport, im Tennis, in der Leichtathletik fand eine generación de oro zusammen. Dopingfälle inklusive.“

Ohne einen der aufgeführten Sportler persönlich belasten oder Spanien als einziges Doping-Land darstellen zu wollen, hier eine Liste der spanischen Erfolge.

Radsport:

Der Spanier Miguel Indurain gewann die Tour de France von 1991-1995 fünf Mal hintereinander und 1996 Olympiagold im Einzelzeitfahren vor Landsmann Abraham Olano. Ihm folgten als Tour-Sieger 2006 Óscar Pereiro, 2007 Alberto Contador, 2008 Carlos Sastre und 2009 wieder Contador. 2008 holte Óscar Freire die Sprintwertung, Francisco Mancebo (2000), Óscar Sevilla (2001) und Contador (2007) erhielten das Trikot für den besten Nachwuchsradler. Samuel Sánchez holte 2008 Olympiagold im Straßenrennen. Auch im Bahnradsport gab es verschiedene spanische Erfolge.

Davon wurden des Dopings überführt Sevilla und Contador, dem auch Kontakt zum Fuentes-Skandal nachgesagt wurde (das Kürzel A.C. fand sich in Fuentes Kundenkartei). Contador selbst hat alle Doping-Vorwürfe stets bestritten, wurde aber 2010 positiv auf Clenbuterol getestet und nach einigem juristischen Hickhack gesperrt. Obendrein wurden in seinen Proben Spuren von Weichmachern entdeckt, wie sie nach Bluttransfusionen häufig zu finden sind. Von Fuentes betreut wurden laut Medienberichten auch andere erfolgreiche spanische Radfahrer wie Sevilla, Francisco Mancebo, Santiago Botero, Alejandro Valverde und José Enrique Gutierrez. Alle spanischen Fuentes-Verdächtigen sind jedoch nicht bestätigt und gelten damit für diesen Fall als unschuldig, eben weil es nie zu einer juristischen Aufarbeitung kam. Lediglich Valverde wurde 2009 wie schon Jan Ullrich nach einem DNS-Abgleich mit einem der sichergestellten EPO-Blutbeutel als Fuentes-Kunde enttarnt.

Sowohl Indurain 1994 als auch Pereiro 2006 wurden positiv auf das Mittel Salbutamol getestet, konnten jedoch eine Ausnahmegenehmigung vorlegen, dass sie das Mittel, das in den meisten Asthmamitteln enthalten ist, aus gesundheitlichen Gründen nehmen mussten.

Leichtathletik

In der Leichtathletik gab es viele spanische Erfolge, insbesondere in Ausdauerdisziplinen wie Gehen oder dem Lang- beziehungsweise Mittelstreckenlauf. Es sind zu viele, um sie alle aufzulisten. Daher hier nur einige Highlights: Bei der Leichtathletik-WM 1995 siegte etwa Martin Fiz im Marathon, 1997 folgte ihm Abel Anton (vor Fiz), der auch 1999 gewann. 1999 gewann Niurka Montalvo im Weitsprung der Frauen, 2009 Marta Domínguez über 3000 Meter Hindernis (die schon 2001 und 2003 Silber über 5000 Meter gewann). 1992 gewann Fermín Cacho Olympia-Gold über 1500 Meter, 1996 Silber.

Der geständige Dopingsünder Jesús Manzano wurde Kronzeuge und sagte in einer Sendung des französischen Fernsehsenders France 3, er habe während seiner Zeit als aktiver Radprofi viele Sportler bei Fuentes getroffen, darunter Fußballspieler der spanischen Primera División und diverse Leichtathleten. Dabei nannte er Abel Antón und Martín Fiz, sowie Alberto García und Reyez Estevez, beide ehemalige Europameister im Langstreckenlauf.

2010 erreichte die Affäre Fuentes mit weiteren vierzehn Verhaftungen, darunter Marta Domínguez, zu diesem Zeitpunkt Vizepräsidentin des spanischen Leichtathletikverbandes, einen neuerlichen Höhepunkt. Im Rahmen der Folge-Operation Galgo (Windhund) wurde die frühere Läuferin wegen des Verdachts des Handels mit Dopingmitteln festgenommen. 2011 stellte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen sie weitgehend ein. 2013 forderte der Leichtathletik-Weltverband IAAF den spanischen Verband auf, ein Verfahren gegen Domínguez einzuleiten, weil ihre Blutwerte auf Doping hindeuteten. Nachdem der spanische Verband zunächst eine Entscheidung verweigerte, sprach er die Läuferin 2014 frei. Nach der Berufung der IAAF verurteilte der internationale Sportgerichtshof Domínguez Ende 2015 wegen Dopings zu drei Jahren Sperre. Sie verlor alle Titel zwischen August 2009 und Januar 2013.

Fußball:

1997/98, 1999/2000 sowie 2001/02 siegte Real Madrid in der Champions League, 2005/06, 2008/09 sowie 2010/11 der FC Barcelona. Dazu war jeweils der FC Valencia im Champions League-Endspiel 1999/2000 und 2000/01. Im UEFA Cup/Europa League siegte der FC Valencia 2003/04, der FC Sevilla 2005/06 und 2006/07 sowie Atlético Madrid 2009/2010. Im Finale standen Deportivo Alavés 2000/01 und Espanyol Barcelona 2006/07.

Im Jahr 2010 wurde Spanien nach Jahrzehnten des Misserfolgs Fußball-Weltmeister, dazu 2008 und 2012 Europameister. Olympisches Silber holten die Fußballer im Jahr 2000.

Nach dem Fuentes-Skandal und dessen Andeutungen über Fußballer ist für den SZ-Doping-Experten Thomas Kistner klar: „Spaniens Topklubs gerieten ins Visier – und sogleich wurden alle Ermittlungen eingestellt.“ Weiter ätzt der bekannte Sportreporter: „Glaubensfeste halten dagegen, in Spanien sei eben eine begnadete Spielergeneration gereift; auch hätten sich Trainingspraktiken geändert. Stimmt, aber ging Letzteres am Rest der Welt vorbei?“

Nach unbestätigten Berichten der Zeitungen „El Pais“ und „Welt“ stand auch der Club Real Sociedad aus San Sebastián auf der Fuentes-Liste. 2013 leitete jedenfalls Spaniens Antidoping-Agentur (AEA) eine Untersuchung gegen den Erstligisten ein. Bereits Ende 2006 behauptete die französische Zeitung „Le Monde„, im Besitz von Dokumenten zu sein, die sich in Fuentes’ Wohnsitz auf Gran Canaria befanden und deshalb bei der Razzia im Mai nicht beschlagnahmt worden waren. Diese beinhalteten laut der Zeitung Trainingspläne der beiden erfolgreichsten spanischen Vereine, FC Barcelona und Real Madrid. Auch der FC Valencia und Betis Sevilla wurden von Le Monde mit Fuentes in Verbindung gebracht. Die Vereine dementierten jedoch eine Verwicklung und verklagten erfolgreich Le Monde vor Gericht. Fuentes bestätigte zwar, auch für spanische Erst- und Zweitligisten gearbeitet zu haben, nannte aber keine Namen. Stéphane Mandard, der zuständige Sportchef von Le Monde sagte jetzt im Interview mit der „Welt“ dazu Folgendes: „Das Ganze ist eine Staatsaffäre. In Spanien sind die großen Sportler Götter, wie es der Ex-Radprofi Jesús Manzano zu Beginn der ‚Operación Puerto‘ mal formuliert hat. Sie sollen unberührbar bleiben.“ Fuentes habe seiner Ansicht nach gedroht, dass er die Listen im Falle einer Verurteilung jederzeit veröffentlichen könnte. „Das wollte man verhindern. Die gesamte Ermittlung geht in diese Richtung.“ Also gab es eben einen Freispruch. Der ohnehin durch zahlreiche Dopingberichte ruinierte Radsport sollte „als Deckmantel für alles andere“ herhalten.

Tennis:

Im Tennis gewann 2009 Rafael Nadal die Australian Open. Die French Open gewannen Carlos Moyá 1998, Albert Costa 2002, Juan Carlos Ferrero 2003 sowie Rafael Nadal 2005 bis 2008 und 2010. Dazu siegte Rafael Nadal 2008 und 2010 in Wimbledon, ebenso 2010 bei den US Open. Den Nationenwettbewerb Davis Cup gewann Spanien 2000, 2004, 2008 und 2009. Im Jahr 1996 gewann Sergi Bruguera Olympisches Silber im Einzel, Nadal holte 2008 Gold, das Doppel Àlex Corretja / Albert Costa holte 2000 Bronze.

Bei den Frauen holte Arantxa Sánchez Vicario 1996 Olympia-Silber im Einzel und gemeinsam mit Conchita Martínez Bronze im Doppel. 2004 holten die spanischen Duos Conchita Martínez / Virginia Ruano Pascual sowie Anabel Medina Garrigues / Virginia Ruano Pascual jeweils Silber im Doppel. Bei den Grand Slams gewann Arantxa Sánchez Vicario die French Open 1989, 1994 und 1998 sowie die US Open 1994. Conchita Martínez siegte 1994 in Wimbledon.

Vorher tauchen Spanier in den Tennis-Siegerlisten mit wenigen Ausnahmen bei den Männern nicht auf.

Boxen:

Weniger erfolgreich war das spanische Boxen: Im olympischen Boxen holte Rafael Lozano 1996 Bronze und 2000 Silber im Halbfliegengewicht. Auch im Profibereich gab es einige erfolgreiche Spanier. Durch die vielen Boxverbände und Gewichtsklassen unterbleibt hier jedoch eine Auswertung.