Die russischen Athleten hatten bei Olympia in Sotschi häufig Grund zum Feiern. Keine andere Nation holte bei den Winterspielen mehr Medaillen – und stand mehr unter Dopingverdacht. (Bild: Imago/Kyodo News)
Olympische Spiele

Rio ohne Russland?

Dass die Olympischen Sommerspiele in Rio de Janeiro ohne russische Athleten stattfinden, wird immer wahrscheinlicher. Neue Dopingvorwürfe ungeheuerlichen Ausmaßes lassen die Rufe nach einer Sperre Russlands lauter werden. Angeblich soll das Land bei seiner Winterolympiade in Sotschi im ganz großen Stil betrogen und dabei Urinproben vertauscht haben. Das berichtet zumindest die New York Times.

Die Geschichte, die die New York Times erzählt, liest sich, als wäre sie einem schlechten Hollywoodstreifen aus Zeiten des Kalten Krieges entsprungen: Russische Geheimagenten und Anti-Doping-Experten greifen des Nachts durch ein Loch in der Laborwand und vertauschen Urinproben ihrer Athleten. Obwohl sie beim Wettkampf bis oben hin voll mit verbotenen Substanzen wie Methenolon, Trenbolon oder Oxadrolon waren, stehen die russischen Sportler mit weißer Weste da und im Medaillenspiegel ganz oben. Sie können beruhigt in die Kameras lächeln, schließlich haben sie den Urin, der gerade getestet wird, schon Monate vor der Olympiade abgegeben. Da waren sie noch „sauber“.

Erfolge fürs Wintermärchen am Schwarzen Meer?

Für viele ist es schwer vorstellbar, dass Russland tatsächlich derart dreist vorgegangen sein könnte, um Putins Wintermärchen am Schwarzen Meer mit Erfolgen am laufenden Band zu krönen. Dafür spricht aber, dass sich der New York Times ein möglicher Kronzeuge anvertraut hat: der ehemalige Chef des russischen Anti-Doping-Labors, Grigori Rodschenkow. Er hat sich mittlerweile in die USA abgesetzt, weil er in der Heimat angeblich um sein Leben fürchtete. Damals in Sotschi will der Fachmann beim Betrügen noch nach Kräften mitgeholfen haben: Von mehr als 100 Tests, die durch das Loch in der Wand manipuliert worden sein sollen, berichtet Rodschenkow. Unter den Gedopten waren demnach Stars des russischen Wintersports, mindestens 15 Medaillengewinner sollen dank des vertauschten Urins nicht aufgeflogen sein. Sie sollen dem Skilanglaufteam angehört haben, auch im Bobsport habe man „erfolgreich gearbeitet“.

Es gab Whiskey für die Männer und Martini für die Frauen. Wir waren so gut vorbereitet wie nie zuvor. Das hat funktioniert wie ein Schweizer Uhrwerk.

Grigori Rodschenkow in der New York Times

Verabreicht worden sein sollen die Substanzen den Athleten zusammen mit Alkohol: „Es gab Whiskey für die Männer und Martini für die Frauen. Wir waren so gut vorbereitet wie nie zuvor. Das hat funktioniert wie ein Schweizer Uhrwerk“, zitiert die Times den Russen.

Aus Furcht in die USA geflüchtet

Im November vergangenen Jahres soll es damit aber schlagartig vorbei gewesen ein. Weil die internationale Anti-Doping-Agentur auf Rodschenkow aufmerksam geworden war, sollen ihn die russischen Funktionäre zum Rücktritt gedrängt haben. Aus Furcht sei er in die USA geflüchtet. Er meint, dass ihm das möglicherweise sogar das Leben gerettet hat, weil im Februar dieses Jahres binnen weniger Wochen zwei seiner Kollegen „unerwartet“ starben.

Kreml spricht von „Verleumdung eines Verräters“

Der Kreml wies die erhobenen Vorwürfe umgehend, in aller Entschiedenheit und nach altbekanntem Muster zurück. Es handele sich um die die „Verleumdung eines Verräters“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. „Diese Behauptungen sind völlig unbegründet.“ Der russische Sportminister Vitali Mutko hatte die Anschuldigungen bereits gegenüber der New York Times kommentiert. Sie seien „die Fortsetzung der Angriffe auf den russischen Sport“. Rodschenkow hatte der Zeitung gesteckt, dass es nicht nur um die Olympischen Spiele von Sotschi gehe. Im russischen Sport werde flächendeckend und sportartenübergreifend mit verbotenen Substanzen gearbeitet.

Offener Brief an IOC-Präsidenten

Bekanntlich waren in den vergangenen Jahren immer wieder russische Sportler unter Dopingverdacht geraten und einige auch überführt worden. Prominentestes „Opfer“ war zuletzt Tennis-Star Maria Scharapowa, der eine Substtanz (Meldonium) zum Verhängnis wurde, die erst seit Beginn dieses Jahres auf der Dopingliste steht. Rodschenkow hat sich indes nach einem Bericht der ARD-Sportschau mit Blick auf Olympia in Sotschi nun auch in einem offenen Brief an den IOC-Präsidenten Thomas Bach sowie den WADA-Präsidenten Craig Reedie gewandt und gefordert, eingelagerte Dopingproben aus dem Jahr 2014 zu testen.

Schon vor den neuen Vorwürfen stand Russland am Pranger

Die mutmaßliche neue Enthüllung sorgt weltweit für Empörung. Dabei hatte Staatschef Wladmir Putin schon davor alle Hände voll zu tun, Olympia 2016 für die Sportler seines Landes zu retten. Er warnte vor einer Politisierung der Meldonium-Fälle und davor, „irgendeines Verschwörungstheorie zu bestärken“.

Alles ist noch viel schlimmer, als man bisher annehmen musste.

ARD-Doping-Experte Hajo Seppelt

Sollte sich die Geschichte von Rodschenkow als wahr erweisen, wäre es eine der krassesten Dopingfälle in der Geschichte des Sports. Die ARD befragte am Freitag ihren Experten Hajo Seppelt zu dem Fall, und der hält die Geschichte „für sehr glaubwürdig“. Er kenne Grigori Rodschenkow sehr gut und stehe in regelmäßigem Kontakt mit ihm“, sagte der Experte. Es sei klar gewesen, dass er irgendwann mit seinen Erfahrungen und seinem Insider-Wissen an die Öffentlichkeit gehen würde. „Aber es war eben noch nicht klar, wann er das tun würde.“ Seppelt verwies auch auf eine ARD-Dokumentation aus dem Dezember 2014 mit dem Titel „Wie Russland seine Sieger macht“. Da sei schon belegt worden, dass auch das Labor in die Dopingvertuschung involviert gewesen sei. „Aber es überrascht mich jetzt zu sehen, in welchem Ausmaß das stattgefunden hat, alles ist noch viel schlimmer als man bisher annehmen musste.“

Vergleich mit Doping-Skandalen zu DDR-Zeiten

Der ARD-Experte geht sogar so weit, die angeblichen Fälle in Russland mit jenen der DDR in den 1970er- und 1980er-Jahren zu vergleichen, als Athleten zwangsweise gedopt wurden. Die DDR brachte es bekanntlich auf insgesamt 454 Medaillen bei Sommerolympiaden und 110 bei Winterspielen. Für den Erfolg wurden Sportlern auch Dopingmittel verabreicht, ohne dass die davon wussten. Bis heute leiden einige von ihnen unter den Folgen. Eine der bekanntesten von ihnen ist die ehemalige Kugelstoßerin Birgit Böse, deren Geschlechtsorgane sich nicht weiterentwickelten, sondern auf dem Stand einer Elfjährigen blieben.