Das war keine harmonische Türkei-Reisegruppe. Just am Tag vor dem gemeinsamen Auftritt in der Türkei und der Begegnung mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu hat EU-Ratspräsident Donald Tusk seine Reisegefährtin Angela Merkel nach allen Regeln der Kunst öffentlich vorgeführt. In einem Namensartikel auf den Kommentarseiten der Pariser Tageszeitung Le Figaro hat er einen Rundumschlag geführt – gegen die Türkei, gegen Merkels Türkei-Deal und gegen ihre Migrations- und Asylpolitik. Titel des Vierspalters: „Donald Tusk: Europa kann der Türkei nicht die Schlüssel für seine Sicherheit ausliefern.“ Der Ort der Veröffentlichung ist sicher kein Zufall. Im Elysée-Palast wird man ihn mit Zustimmung gelesen haben, ebenso wie in großen Teilen des französischen Publikums. Bemerkenswert: Hierzulande dagegen hat sich kaum jemand getraut, Tusks Brüsseler Weckruf und seine Abrechnung mit Merkel – denn um nichts anderes handelt es sich – aufzunehmen und darüber zu berichten. Ein Fehler.
Merkels falsche Grundannahme
„Vor einem Jahr, zu Beginn der Krise“, fängt Tusk an, „haben gewisse Leute es für selbstverständlich gehalten, dass diese Migrationswelle zu groß sei, um aufgehalten werden zu können.“ In der Folge seien alle Regeln von Schengen und Dublin aufgehoben worden, „was das europäische Territorium für eine unkontrollierte Einwanderung geöffnet hat“. Den bitteren Vorwurf an Bundeskanzlerin Merkel darf man zweimal lesen: Tusk hält ihr im Figaro vor, erst mit ihrer Einladung an die syrischen Flüchtlinge Europas Territorium geöffnet und einem unbegrenzten Migrantenstrom ausgesetzt zu haben.
Ängste in der Bevölkerung über die sozialen und finanziellen Folgen eines unbegrenzten Zustroms.
Der Fehler sollte schwere politische Folgen haben: Denn den Europäern, so Tusk weiter, sei durch diese Politik ihre Machtlosigkeit und wachsende Unsicherheit bewusst geworden, was dann in der Bevölkerung zu Ängsten über Sicherheit, Integration „und die sozialen und finanziellen Folgen eines unbegrenzten Zustroms“ geführt habe. Das wiederum habe „freie Bahn geschaffen für extremistisches, populistisches und sogar nationalistisches Gedankengut“, was nun mit „noch nie dagewesener Intensität“ die europäische Debatte belaste.
Die Europäische Union und die Mitgliedsstaaten müssen die Fähigkeit wiedererlangen, zu entscheiden, wer, wann und wie die Grenzen überschreitet.
Donald Tusk
Um diesen gefährlichen Trend zu beenden, fordert Tusk nachdrücklich, müsse eben jene falsche Grundannahme vom Beginn der Krise umgekehrt werden: „Ich habe schon vor einigen Monaten dagegen gehalten, dass die Migrationswelle zu groß war, um NICHT aufgehalten zu werden.“ Große Priorität müsse jetzt eine echte Migrationspolitik haben: „Die Europäische Union und die Mitgliedsstaaten müssen die Fähigkeit wiedererlangen, zu entscheiden, wer, wann und wie die Grenzen überschreitet.“ Paradoxerweise sei genau das auch der Kern einer „zugleich vernünftigen und humanen Asylpolitik“ – noch eine Spitze gegen Bundeskanzlerin Merkels (ober)grenzenlose und bedingungslose Einwanderungspolitik.
Entscheidend war die Schließung der Balkanroute
Tatsächlich hat die Umkehrung der falschen Annahme, die Migrationswelle könne nicht gestoppt werden, schon stattgefunden, so Tusk, „mit dem gewünschten Effekt“. Das gebe Anlass zu vorsichtiger Hoffnung. Es sei allerdings eine Illusion anzunehmen, alle Probleme seien geregelt. Im Gegenteil, vor Europa lägen Monate, wenn nicht Jahre der Anstrengungen und der schwierigen Entscheidungen. Immerhin sprächen die Zahlen auf der Balkanroute für sich: 70.000 Migranten im Januar, 50.000 im Februar, 30.000 im März, etwa 3000 im April. Die Schließung der Balkanroute Anfang März, die Berlin so bekämpft hat, heißt das, hat funktioniert.
Im Sommer 2015, auf dem Höhepunkt der Krise, hat Europa seine Prinzipien und sein Recht ignoriert und dafür mit Schwäche und Entscheidungsunfähigkeit bezahlt. Das muss uns eine Lehre sein.
Donald Tusk
Drei Entscheidungen seien für die Wende verantwortlich gewesen, erläutert Tusk im Figaro: Im Februar habe der Rat der Regierungschefs beschlossen, die Politik des Durchwinkens mancher Länder zu beenden und zur vollständigen Anwendung der Schengener Regeln zurückzukehren: Die Staats- und Regierungschefs hätten bekräftigt, dass es keine europäische Lösung geben werde ohne Achtung des europäischen Rechts. Dann folgt ein Satz, bei dessen Lektüre Bundeskanzlerin Merkel womöglich geschluckt hat, wenn sie ihn gelesen hat: „Im Sommer 2015, auf dem Höhepunkt der Krise, hat Europa seine Prinzipien und sein Recht ignoriert und dafür mit Schwäche und Entscheidungsunfähigkeit bezahlt. Das muss uns eine Lehre sein.“
Aber in der Politik besteht Verantwortung genau darin, schwierige Entscheidungen zu fällen, eben auch gegen eine feindselige öffentliche Meinung.
Donald Tusk
Die zweite wichtige Entscheidung sei „die dauernde und prioritäre Einbeziehung der Balkanstaaten in die Migrationspolitik der EU“ gewesen. Wer sich an Berlins Wut über die Alleingänge Ungarns, Österreichs, Sloweniens und schließlich deren gemeinsame Schließung der griechisch-mazedonischen Grenze erinnert, erkennt auch hier einen Affront gegen die Bundeskanzlerin. In den kommenden Monaten müsse es bei dieser Unterstützung der Balkanstaaten unbedingt bleiben, warnt Tusk. Er jedenfalls unterstütze diese Vorgehensweise, in vollem Bewusstsein der Risiken und des Streits, den das auslösen könne. Die Zusammenarbeit mit Partnern wie der jugoslawischen Ex-Republik Mazedonien, so Tusk, sei nicht leicht: „Aber in der Politik besteht Verantwortung genau darin, schwierige Entscheidungen zu fällen, eben auch gegen eine feindselige öffentliche Meinung.“ Damit könnte er die Wut der Griechen über die Schließung ihrer Nordgrenze gemeint haben.
Umstrittener Deal mit der Türkei
Der dritte Aspekt sei schließlich die Zusammenarbeit zwischen der EU und der Türkei geworden. Für viele EU-Regierungen sei das „mindestens genauso umstritten“ gewesen, so Tusk: „Ich habe alle Mitgliedstaaten für diese Lösung gewonnen, unter zwei absoluten Bedingungen: dass die Interessen aller Mitglieder unserer Gemeinschaft, und ganz besonders Zyperns, geschützt bleiben; und dass diese Lösung mit europäischem wie internationalem Recht völlig in Einklang ist.“ Merkels türkische Lösung, heißt das, muss im Rat der Staats- und Regierungschefs auf sehr massiven Widerstand gestoßen sein. Und: Betrachtet man bloß französische Stellungnahmen, dann dürfte etwa die Frage der Visafreiheit für türkische Bürger, auf die Erdogan jetzt geradezu erpresserisch pocht, eben noch lange nicht vom Tisch sein. Die Zusammenarbeit mit der Türkei sei ein wichtiges Element der EU-Strategie in dieser Frage, so Tusk weiter, „aber man muss sich bewusst machen, dass sie nur eine Komponente unter anderen ist“. Von der „Lösung auf dem Balkan“ und dem „Abkommen mit der Türkei“ schreibt EU-Ratspräsident im nächsten Satz vielsagend. Entscheidend, heißt das noch einmal, war für Tusk die Schließung der Balkanroute, nicht der Deal mit der Türkei.
Niemand wird für uns unsere Grenzen schützen. Wir können die Schlüssel für unser Territorium und unsere Sicherheit nicht an irgendwelche Drittländer abgeben.
Donald Tusk
Das Modell sei aber nicht übertragbar, etwa auf die Zentralroute über das Mittelmeer, warnt Tusk: „Libyen ist nicht die Türkei.“ Würde die Grenze am Brenner-Pass geschlossen, dann träfe das Schengen ins Herz. Europa werde darum Italien beim Kampf gegen die Schleuser unterstützen müssen, „was sehr wahrscheinlich ein größeres Engagement in Libyen notwendig machen wird“. Tusk verwendet im Figaro den deutbaren Begriff „implication“, der vieles bedeuten kann, von unbestimmtem „Engagement“ bis hin zu „Einsatz“. Er denkt offenbar mehr an letzteres und wird deutlich: „Niemand wird für uns unsere Grenzen schützen. Wir können die Schlüssel für unser Territorium und unsre Sicherheit nicht an irgendwelche Drittländer abgeben. Das gilt für die Türkei wie für die Staaten Nordafrikas.“ Der fast wütende Satz ist wohl die schärfste Abrechnung mit dem Türkei-Abkommen. Weil die Mahnung so selbstverständlich und fast schon banal ist, enthält sie an die Adresse Berlins zugleich den Vorwurf bodenloser Verantwortungslosigkeit.
Erdogan wie Gaddafi, Merkel wie Berlusconi
Europäische Machtlosigkeit würde überall nur die Versuchung wecken, Europa zu erpressen, fährt Tusk in gleicher Tonart fort: „Ich habe schon zu oft unsere Nachbarn sagen hören, Europa müsse nachgeben, sonst würde es von Migranten überflutet werden.“ Mit diesem Satz zeiht er den türkischen Präsidenten Erdogan, der jetzt in der Visa-Frage genau solchen Druck macht, ziemlich offen der Erpressung. Und Merkel erscheint als jemand, der schon so weit ist, dass er sich erpressen lässt. Für Leser mit Gedächtnis stellt Tusk außerdem Erdogan in eine Reihe mit dem ermordeten libyschen Diktator Gaddafi. Denn der hatte 2010 bei einem grotesken Italienbesuch gegenüber Italiens damaligem Premier Silvio Berlusconi genau diese Erpressung ausgesprochen und von der EU fünf Milliarden Euro verlangt – „sonst wird das christliche weiße Europa schwarz werden“. Erdogan wie Gaddafi und Merkel wie damals Berlusconi – nach Lob für das Urteilsvermögen der Bundeskanzlerin klingt das nicht.
Nur starke Staaten sind in der Lage, in großem Stil in Not geratene Bevölkerungen zu helfen ohne dabei Gefahr zu laufen, sich selbst zu zerstören.
Donald Tusk
Kein Wunder: Tusk will mit Merkels Migrations- und Asylpolitik brechen und Europa eben nicht länger den Erpressungsmanövern der Erdogans und Gaddafis in der europäischen Nachbarschaft aussetzen: „Ich habe darum verstanden: Wenn wir eine Zusammenarbeit unter Partnern haben wollen, dann muss es uns erst wieder gelingen, die Einwanderung unter Kontrolle zu kriegen.“ Nur starke Staaten seien in der Lage, so der Pole weiter, in Not geratenen Bevölkerungen in Not in großem Stil zu helfen – „ohne dabei Gefahr zu laufen, sich selbst zu zerstören“. Auch das darf man zweimal lesen: Tusk wirft hier Merkel implizit vor, eine Politik zu betreiben, die auf die „Selbstzerstörung“ Europas hinausläuft. Wer das liest, ahnt, welche Stimmung in den vergangenen Wochen und Monaten im Rat der Staats- und Regierungschefs geherrscht haben muss.
Zuallererst: Schutz der Außengrenzern
Feste Politik, fährt Tusk fort, schließe humanitäre Ziele nicht aus – ganz im Gegenteil: Denn nur entschlossene Maßnahmen erlaubten es, humanitäre Ziele ins Werk zu setzen. „Wenn wir wollen, dass Europa offen und tolerant bleibt, dann können wir uns nicht länger erlauben, ohne Verteidigung zu sein“, fordert der EU-Ratspräsident. Jetzt sei darum die Solidarität und Entschlossenheit aller Mitgliedsstaaten in allen Aspekten der Migrationspolitik notwendig. Tusk zählt sie auf: Umverteilung von Migranten, humanitäre Hilfe, Handeln nach außen – „und über allem der Schutz unserer Außengrenzen“. Und weiter: „Auf dem Spiele steht nicht nur die Zukunft Schengens, sondern die unserer Gemeinschaft an sich.“
Unsere Freiheiten, einschließlich der Meinungsfreiheit, werden nicht Teil irgendeines politischen Handels sein mit welchen Partnern auch immer.
Donald Tusk
Die jüngsten Erfahrungen mit der Türkei hätten gezeigt, so der EU-Ratspräsident, dass Europa für seine Zugeständnisse klare Grenzen setzen müsse: „Wir können über Geld verhandeln, aber niemals über unsere Werte.“ Tusk weiter: „Wir wollen dem Rest der Welt nicht unsere Regeln auferlegen; aber genauso können auch die anderen nicht uns ihre Normen aufzwingen.“ Tusk, das darf man hier herauslesen, muss Bundeskanzlerin Merkels Bereitschaft, sich etwa in der Affäre Böhmermann von Empfindlichkeiten Ankaras beeindrucken zu lassen, unangenehm berührt haben: „Unsere Freiheiten, einschließlich der Meinungsfreiheit, werden nicht Teil irgendeines politischen Handels sein mit welchen Partnern auch immer.“ Noch so ein impliziter, aber umso bitterere Vorwurf an Berlin. Tusks letzter Satz am Tag vor seinem Besuch mit Merkel in Ankara: „Diese Botschaft muss auch Präsident Erdogan verstehen.“ Man darf davon ausgehen, dass er neben Erdogan auch Bundeskanzlerin Merkel gemeint hat.