Verdeckter Krieg: Russlands Soldaten operieren in der Ukraine, getarnt als "Freiwillige". (Bild: Fotolia/rangizz)
Ukraine

„Wir schreiben die Krim niemals ab!“

Die Ukraine gehört nicht mehr zu Europas Prioritäten und Europas Solidarität mit dem Land bröckelt. Hinzu kommt: Die Wirren in Kiew verschrecken sogar die Freunde der Ukraine. Mit dem ukrainischen Botschafter in Deutschland, Dr. Andrij Melnyk, führte Andreas von Delhaes-Guenther ein Interview, das in kürzerer Form auch im Bayernkurier-Magazin abgedruckt ist.

Die Wirren in Kiew

mit gegenseitigen Korruptionsvorwürfen, Ministerrücktritten, Regierungskrisen und gescheiterten Misstrauensanträgen verschreckten sogar die Freunde der Ukraine. Die Zahl derjenigen, die wegen der Ukraine keinen anhaltenden Bruch der Beziehungen mit Russland riskieren wollen, wächst trotz dem unerklärten russischen Krieg in der Ostukraine und der anhaltenden russischen Besatzung der zur Ukraine gehörenden Krim – immerhin ein klarer Völkerrechtsbruch. Halbjährlich stehen die Sanktionen gegen Russland zur Verlängerung an, die nächste Entscheidung dazu fällt im Juli. Fast 10.000 Menschen sind seit Beginn des Ukraine-Konflikts getötet und mehr als doppelt so viele verletzt worden. Das teilte UN-Vize-Generalsekretär Zerihoun jetzt dem UN-Sicherheitsrat mit. Bisher seien 9333 Menschen getötet und 21.396 verletzt worden. Die Kämpfe seien in den vergangenen Wochen erneut eskaliert und hätten eine Intensität erreicht, die sie seit August 2014 nicht gehabt hätten.

Das ukrainische Parlament hat nun den 38-jährigen Parlamentsvorsitzenden Wladimir Groisman (Volodymyr Hroisman) zum neuen Ministerpräsidenten gewählt und damit versucht, die monatelange Regierungskrise zu beenden. Der Rücktritt des Vorgängers Arseni Jazenjuk wurde angenommen, das neue Kabinett akzeptiert. Das Programm der neuen Regierung wurde allerdings erst im dritten Versuch bestätigt. Groisman ist auch Wunschkandidat von Präsident Petro Poroschenko, der die zerstrittenen Kräfte im Parlament zu konstruktiver Zusammenarbeit aufrief. Schon mit 28 Jahren war der gelernte Schlosser Groisman Bürgermeister der westukrainischen Stadt Winnyzja. „Der Reformkurs muss jetzt dringend fortgesetzt werden. Die Ukraine hat dabei keine Zeit zu verlieren“, mahnte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD). Auch angesichts des Konflikts im Osten mit den von Russland unterstützten Separatisten sei eine handlungsfähige Regierung nötig.

Bayernkurier: Herr Botschafter, wie ist derzeit die Lage in der Ostukraine?

Melnyk: Im Donbass ist die Situation leider nach wie vor sehr schwierig. Die wichtigste Verpflichtung des Minsker Abkommens, die Waffenruhe sicherzustellen, wird immer noch nicht voll umgesetzt. Es wurde nur wenige Tage kaum geschossen. Das 12. Außenministertreffen im sogenannten Normandie-Format, das am 11. Mai in Berlin stattfand, hat leider keinen Durchbruch in dieser fundamentalen Frage erzielen können. Jeden Tag, besonders jede Nacht fallen Schüsse, und zwar mit schweren Waffen, die längst von den Separatisten hätten abgezogen werden müssen. Am 9 Mai., am Tag des Sieges, haben die Separatisten riesige Militärparaden in Donezk und Luhansk mit modernsten Panzern und anderen russischen Waffen durchgeführt, was die OSZE als klaren Verstoß gegen Minsk bewertete.

Bayernkurier: Wieso nachts?

Melnyk: Die OSZE-Beobachtermission hat immer noch zu wenig Personal und kann nur am Tage beobachten. Um 17 Uhr geht es dann ins Hotel. Außerdem kann nachts schwerer geklärt werden, von wo und von wem die Schüsse kamen. Neben unseren Soldaten werden übrigens auch zivile Objekte beschossen. Jeden Tag haben wir Verwundete und Tote. Auch der Abzug der schweren Artillerie und dessen Verifizierung hat nicht ganz funktioniert, weil der OSZE der Zugang zu den okkupierten Gebieten gar nicht gewährt oder erheblich erschwert wird. Insgesamt ist es aber doch besser geworden, auch dank unermüdlichem deutschen Einsatz. Und seit dem 1. Januar hat die Bundesrepublik den Vorsitz in der OSZE. Darum war unser Präsident Petro Poroschenko in Berlin und München, um neue Möglichkeiten für die Friedenssicherung, vor allem einer bewaffneten internationalen Polizeimission im Osten der Ukraine auszuloten. Ohne diese neue OSZE-Mission mit einem robusten Mandat sind die Lokalwahlen nicht durchzuführen. Alles andere wäre eine Farce. Hauptsache aber ist, dass der politische Druck auf Russland aufrecht erhalten werden muss. Wir beobachten leider in den letzten Monaten im Westen gewisse Tendenz, diesen Druck abbauen zu wollen, ohne dass Moskau geliefert hat. Das wäre sehr gefährlich. Die EU-Sanktionen gegen Russland müssen daher im Juli diesen Jahres unbedingt fortgesetzt werden. Wir hoffen, dass die Bundesregierung diese klare Linie auch weiterhin verfolgen und die anderen EU-Staaten überzeugen wird.

Bayernkurier: Und wie ist die Situation auf der Krim?

Melnyk: Die Lage ist ganz anders, aber ebenfalls sehr kompliziert. Zwei Jahre sind seit der völkerrechtswidrigen Annexion vergangen, bis jetzt konnten wir leider keinen politischen Prozess in Gang setzen. Es gibt viele praktische Fragen, die Handel, Verkehr, Wasser- und Energieversorgung, aber auch Militarisierung, Enteignung und vor allem die Menschenrechtslage betreffen, aber Russland weigert sich, einem internationalen Format für Gespräche zuzustimmen. Keine ausländischen Beobachter werden zugelassen. Wir hoffen, dass die Bundesregierung uns aktiver unterstützen wird, auch hier einen Gesprächskanal zu eröffnen. Dazu waren die Russen bis jetzt leider gar nicht bereit, aber es ist an der Zeit. Die Situation mit den Menschenrechten ist dort nach allen Informationen sehr bedenklich und prekär. Und man muss festhalten: dort leben immer noch unsere Staatsbürger, unsere Landsleute! Was oft vergessen wird: vor der Okkupation waren zwar über 50 Prozent ethnische Russen auf der Krim. Aber fast ein Viertel der Bevölkerung sind ethnische Ukrainer, die dort auch geblieben sind, wir müssen uns um sie besonders kümmern. Dazu kommen noch 13 Prozent Krimtataren. Sie wurden unter Stalin vor 72 Jahren schon einmal nach Zentralasien deportiert, erst die unabhängige Ukraine hat über 200.000 Krimtataren wieder aufgenommen. Das steckt ihnen immer noch in den Knochen, für sie ist die Lage also besonders hart und bedrohlich. Sie schreien Alarm, haben aber Angst, zu protestieren, weil die Aktivisten verhaftet und verfolgt werden. Das sind zugleich unsere Quellen und die berichten, dass die Lage immer schwieriger wird, es bestehen kaum Zukunftschancen. Sie alle können ihre Sprache nicht mehr sprechen. Es gibt heute 576 Schulen auf der Halbinsel und keine einzige ukrainische! Investitionen und Tourismus finden wegen dem unsicheren Status der Krim praktisch nicht mehr statt. Auch Moskau will dort nicht investieren. Man tut also nur noch das Nötigste, um das Leben dort aufrecht zu erhalten – aber eben nicht mehr. Die Perspektiven für die Menschen auf der Krim sind alles andere als rosig.

Bayernkurier: Wird die Krim eines Tages wieder zur Ukraine gehören, wie es das Völkerrecht gebieten würde?

Melnyk: Wir machen uns keine Illusionen über eine baldige Reintegration, wir sind Realisten. Aber wir müssen uns mit der Krim auseinandersetzen, auch die deutsche und europäische Politik, sonst droht dort ein schwarzes Loch, ein schwelender Konfliktherd. Aber um es klar zu sagen: Wir schreiben die Krim niemals ab und werden den Status quo niemals anerkennen. Wir wollen unseren Menschen dort zeigen, dass sie für die Ukraine wertvoll sind. Wir hoffen und setzen dabei auch auf unsere deutschen Partner, dass die Krim-Frage auf der Tagesordnung bleibt und dass die Sanktionen gegen Russland weiter bestehen. Und erinnern Sie sich, auch an die deutsche Wiedervereinigung hat doch Jahrzehnte lang niemand ernsthaft geglaubt, bis zum Vorabend des Mauerfalls nicht! Oder an den Zusammenbruch der Sowjetunion und eine eigenständige Ukraine! Das schien allen – auch mir – unmöglich bis zum Tag der Wiederherstellung der Unabhängigkeit am 24. August 1991 und doch kam es so … Wir wollen mit diplomatischen Mitteln den Prozess der Reintegration gestalten und werden sie herbeiführen, auch wenn das heute für manche gerade utopisch erscheint.

Bayernkurier: Wenn der Ölpreis noch weiter fällt beziehungsweise länger nicht mehr steigt, befürchten Sie dann nicht, dass Putin sich zur Ablenkung der eigenen Bevölkerung wieder in ein außenpolitisches Abenteuer stürzen wird? Wieder in der Ukraine?

Melnyk: Seine Abenteuer haben ja nie aufgehört. Der fallende Ölpreis hat in der Tat verheerende Folgen für die marode russische Wirtschaft. Wir müssen daher nach wie vor auch mit irrationalen Schritten von Putin rechnen. Darum verlangen wir, die Sanktionen in Bezug auf Russland aufrecht zu erhalten. Zumindest, bis es fundamentale Fortschritte im Donbass gibt, die wir sehen können. Bis einschließlich des Abzugs russischer Truppen und einer ukrainischen Grenzkontrolle. So wie das die Minsker Vereinbarung vorsieht.

Bayernkurier: Es sind also russische Truppen in der Ostukraine?

Melnyk: Ja, natürlich. Dafür gibt es bereits Tausende Beweise. Nur der Blinde kann das nicht sehen.

Bayernkurier: Zurück zu den Sanktionen …

Melnyk: Wir beobachten in letzter Zeit deutlich und mit Sorge, dass der politische Druck auf Russland nachlässt. Klar, keiner gewinnt durch Sanktionen, auch die Ukraine nicht. Russland war schließlich unser größter Handelspartner. Wir tragen die schmerzhaften Folgen dieser Politik. Aber sonst haben wir kein politisches Druckmittel mehr, keinen Einfluss und keinen Trumpf mehr, um auf die 100prozentige Umsetzung des Minsker Abkommens zu drängen. Wir hoffen, dass die Politik in Deutschland konsequent bleibt, weil die Frage nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Europa und die gesamte internationale Gemeinschaft lebenswichtig ist.

Bayernkurier: Warum?

Melnyk: Es besteht die Gefahr eines eingefrorenen Konflikts wie in Transnistrien, Abchasien oder Südossetien (Anm. d. Red.: abtrünnige Provinzen von Moldawien und Georgien, die von Russland mehr oder weniger annektiert wurden). Aber der Donbass ist praktisch das ukrainische Ruhrgebiet mit immerhin über 3 Millionen Einwohnern, das ist keine Agrarregion wie Transnistrien, die über 20 Jahre überleben konnte. Eine stillgelegte Fabrik im Donbass bedeutet 10.000 Arbeitslose, die dann unter Umständen nur noch Geld damit verdienen können, wenn sie aus Verzweiflung eine Kalaschnikov in die Hand nehmen. Deswegen lässt sich der Konflikt in der Ostukraine gar nicht einfrieren. Falls keine Lösung jetzt erreicht würde, wird die Lage permanent brandgefährlich bleiben. Außerdem gibt es schon jetzt offiziell 1,7 Millionen Binnenflüchtlinge innerhalb der Ukraine, die immer noch die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr in ihre verlassenen Wohnungen haben. Würde sich der Status Quo verfestigen, wäre das eine Katastrophe, übrigens auch für Europa. Es könnten neue gewaltige Flüchtlingswellen entstehen.

Bayernkurier: Hat Putins Krieg vielleicht sogar etwas „Gutes“? Hat der Konflikt die Ukraine stärker zusammengeschweißt als 25 Jahre Unabhängigkeit, den Riss zwischen Ost und West verringert?

Melnyk: Das Wort „Gutes“ würde ich in diesem Zusammenhang nicht benutzen, aber es ist durchaus so, dass gerade die Menschen in der Ostukraine, die den Atem des Krieges am eigenen Leib gespürt haben und wo die meisten Vertriebenen aus dem Donbass sind, ihre Heimat Ukraine schätzen gelernt haben. Sie tragen die größte Last der russischen Aggression, haben die meisten Opfer und Zerstörungen und erlebten oder erleben die Kriegsfolgen hautnah. Sie sehen die Ukraine nun als etwas Wertvolles an – und sind sogar patriotischer geworden als die Menschen in der Westukraine. Auch unsere Zivilgesellschaft ist „dank“ Putin aufgeblüht, der Zusammenhalt in der Bevölkerung ist viel größer, egal ob in Charkiw, Saporischja oder Dnipropetrowsk. Nichtregierungsorganisationen sind jetzt dort überall tätig und üben verstärkt Einfluss auf die Politik aus.

Bayernkurier: Und wie ist die wirtschaftliche Lage der Ukraine, bedingt auch durch die Kriegskosten?

Melnyk: Sehr schwierig, aber wir haben die Talsohle der Krise durchschritten. Heuer rechnen wir mit einem bescheidenen Wirtschaftswachstum, ein bis drei Prozent. Auch dank der deutschen, der bayerischen Unternehmen, die in der Ukraine tätig sind – das sind immerhin etwa 2000. Noch ist keine echte Aufbruchsstimmung zu erkennen, aber die Regierung und auch die Privatwirtschaft sehen viele Chancen, gerade bei der Zulieferbranche. Dieser Bereich ist am stärksten gestiegen, auch während der Krise. Um neue Möglichkeiten zu zeigen, haben wir am 18. Februar in der IHK Niederbayern in Passau einen ukrainischen Wirtschaftstag durchgeführt, am 6. Juni ist der Ukraine-Tag in der IHK München geplant.

Bayernkurier: Und die drohende Staatspleite?

Melnyk: Die Bankrottgefahr für das Land konnte 2015 durch eine Einigung mit den Privatgläubigern, durch einen Schuldenschnitt, abgewendet werden. Offen bleiben nur die drei Milliarden US-Dollar, die aus Russland während der Maidan-Proteste an die Regierung des Ex-Präsidenten Viktor Janukowitsch geflossen sind. Das ist ein sehr strittiger Punkt. Wir versuchen, mit den Russen zu verhandeln. Wenn das nicht gelingt, wird ein Schiedsgericht den Rechtsstreit entscheiden müssen.

Bayernkurier: Hat eigentlich mal irgendjemand in der Ukraine die Gegenrechnung aufgemacht, was Russland alles an ukrainischem Eigentum enteignet oder besser gestohlen hat? Allein die ukrainische Flotte auf der Krim dürfte doch Milliarden wert gewesen sein?

Melnyk: Es waren aber nicht nur Kriegsschiffe und weitere Militärtechnik, die während der Annexion widerrechtlich enteignet wurden, auch über 4000 staatliche Unternehmen, Eisenbahnen, Ölplattformen, Gasfördergebiete und vieles mehr hat Russland sich völkerrechtswidrig angeeignet. Hier laufen bereits mehrere Verfahren vor internationalen Schiedsgerichten. Der durch Moskau entwendete ukrainische Besitz wurde derzeit auf über 30 Milliarden Euro geschätzt, die Bodenschätze und entgangenen Gewinn aber ausgenommen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt den genauen Schaden, den Russland verursacht hat, um dann Klagen einzureichen.

Bayernkurier: Was muss die Ukraine denn im Wirtschaftsbereich noch besser machen?

Melnyk: Wir haben in zwei Jahren mehr reformiert, als in 23 Jahren zuvor. Allerdings immer noch nicht genug, das ist klar, der Reformstau bleibt noch gewaltig. Aber viele – auch deutsche – Unternehmen spüren schon Erleichterungen, beispielsweise beim Bürokratieabbau. Es gibt gute Fortschritte bei der Transparenz der Verwaltung, die korrupten Machenschaften entgegenwirkt. Die Deregulierung ist sehr erfolgreich. Und es wird noch viel schwieriger werden, Schmiergelder anzunehmen, auch da haben wir die Spielregeln verändert. Es gibt spürbare Verbesserungen im Vergaberecht durch die Einführung von E-Government. Ausschreibungen, die früher ohne Konkurrenz verliefen und als Bereicherungsquelle dienten, wurden komplett transparent gemacht. Im Bereich Korruptionsbekämpfung wurde sehr viel erreicht, noch mehr steht bevor. Trotz aller Rückschläge konnte die notwendige politische Stabilität bewahrt werden. Denn nur mehrheitsfähige Koalitionen können notwendige Reformgesetze beschließen. Leider ist die Regierungskoalition verloren gegangen.

Bayernkurier: Sie haben es angesprochen: Die Regierungskoalition in der Ukraine ist vor kurzem zerfallen, der Ministerpräsident zurückgetreten. Der Wirtschaftsminister hatte schon vorher die Regierung verlassen, weil er keine Reformen durchsetzen konnte. Der Abgeordnete des Poroschenko-Blocks, Sergej Leschtschenko, früher ein bekannter Journalist, nannte den Zerfall eine „Konterrevolution der Oligarchen“, denen der Ex-Premier Arseni Jazenjuk nahestehen soll. Leschtschenko sagte, leider gehe es in der Ukraine immer noch nicht um Programme der Parteien, sondern um die Personen, die hinter den Parteien stünden. Woran krankt die Ukraine Ihrer Meinung nach im politischen Bereich?

Melnyk: Die Lage war ziemlich ernst, ich würde sie aber nicht dramatisieren und schon gar nicht das Wort „Konterrevolution“ in den Mund nehmen. Das wäre übertrieben. Der Zusammenbruch der Koalition hat aber vor Augen geführt, wie massiv der Widerstand von alten Strukturen gegen die Reformen ist. Angesichts des andauernden Krieges im Osten und wirtschaftlicher Herausforderungen ist die politische Stabilität für die Ukraine lebenswichtig. Daher konnte im Parlament eine neue reformorientierte mehrheitsfähige Koalition aus den zwei größten Fraktionen – Block Poroschenko und Volksfront – zügig geschmiedet werden. Der neue Premierminister Volodymyr Hroisman, der trotz seines Alters (38) als Bürgermeister, Vizeminister- und Parlamentspräsident eine erfolgreiche Bilanz vorweisen kann, ist voller Tatendrang und willens, die Reformen viel vehementer voranzubringen. Eine vorgezogene Parlamentswahl wäre sicherlich auch eine legitime Option, würde aber bedeuten, dass der Reformkurs mindestens ein halbes Jahr nicht fortgesetzt wird. Diesen Stillstand kann sich das Land gerade heute gar nicht leisten! Und was Ihre Frage betrifft, wo es krankt, kann ich nur sagen: es fehlt oft an politischer Kultur, Kompromisse zu suchen. Außerdem bleiben viele politische Kräfte auch nach dem Majdan populistisch und stellen ihre egoistischen Interessen oft vor das Wohl des Volkes, wollen die Verantwortung für notwendige, sehr oft unpopuläre, Entscheidungen nicht übernehmen. Insgesamt waren die letzten Ereignisse ein Weckruf für die Gesellschaft, der zu einer Genesung beitragen wird.

Bayernkurier: Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer hat zuletzt in einem 3-Punkte-Plan davor gewarnt, der Ukraine Visaerleichterungen zu geben, weil er ähnliche Folgen wie bei den Balkanstaaten befürchtet: Eine weitere Massenflucht von Wirtschaftsflüchtlingen.

Melnyk: Unser Präsident war auch deswegen zu Besuch in Deutschland und hat das Treffen mit dem Chef der bayerischen Staatsregierung angeregt. Ich hoffe, Sie verstehen das: Wir wollen nicht Verhandlungsmasse in der deutschen Innenpolitik werden. Die Europäische Kommission hat unserer bisherigen Hausarbeit eine positive Note gegeben und die Abschaffung der Visa empfohlen. Und wir hoffen, auch die bisher skeptischen bayerischen Abgeordneten im Bundestag und Landtag sowie die Staatsregierung mit unseren Argumenten überzeugen zu können. Die Sorge vor einer Masseneinwanderung aus der Ukraine ist absurd und unbegründet, auch wenn die Zahl der Asylanträge von Ukrainern in Deutschland leicht gestiegen ist. Im Vergleich zu anderen Nationalitäten und zu den gesamten Zuwanderern ist das jedoch nicht relevant, wir sind nicht mal unter den Top 20. Zudem wurden hier in Bayern weniger als ein Prozent der Anträge bewilligt, die Chance auf Asyl liegt also praktisch bei Null. Das hat also keine Signalwirkung auf unsere Bürger.

Bayernkurier: Aber das Problem ist ja, es kommen auch die Menschen, die keine Chance auf Asyl haben.

Melnyk: Ja, das ist klar. Wir nehmen die Befürchtungen der Deutschen sehr ernst, dass ihr Sozialsystem missbräuchlich in Anspruch genommen werden könnte. Deshalb kooperieren wir bei den Abschiebungen vollumfänglich, nehmen unsere Bürger wieder zurück – das Rückführungsabkommen mit der EU besteht seit 2008 und wird von der Ukraine reibungslos umgesetzt. Wir stellen verlorene Reisedokumente innerhalb eines Tages neu aus. Natürlich können auch wir Asylmissbrauch nicht ganz ausschließen, wenn die Visafreiheit eingeführt wird. Aber diese wird es nur für Staatsbürger mit biometrischen Pässen geben, von denen derzeit nur rund 700.000 erteilt wurden. Wir schaffen es auch nicht, mehr pro Jahr auszugeben. Für alle anderen besteht weiter Visumspflicht. Aber die Ukrainer hätten ja schon lange in Massen nach Europa, auch nach Deutschland kommen können: einfach zur polnischen Grenze fahren und Asyl beantragen. Sie haben es nicht getan. Wie ich schon sagte, haben wir seit knapp zwei Jahren über 1,7 Millionen Binnenflüchtlinge. Sie bleiben, weil sie ihr Land lieben und die Hoffnung auf baldigen Frieden im Osten nicht verloren haben.

Bayernkurier: Sie fordern also Visafreiheit für Ukrainer?

Melnyk: Ja! Unbedingt! Das würde die lebendige Zivilgesellschaft unterstützen und die Bemühungen der Ukrainer würdigen, die ihren Verpflichtungen gewissenhaft nachgekommen sind. Wenn Deutschland diese Entscheidung nur wegen der innenpolitischen Überlegungen sowie schlechten Erfahrungen mit den Balkanstaaten aussetzen würde, wäre das ein fataler Fehler und großer Rückschlag für die Ukraine. Das wäre ein absolut falsches Signal, dass wir nicht dazugehören, die Vertröstung auf später einmal. Das ist aber einer der wenigen Hoffnungsschimmer, den unsere Bevölkerung in Krieg und Krise hat: engere Annäherung an Europa, die vor allem Reisefreiheit bedeutet. Aber nicht nur aus politischer Solidarität, nein! Wir haben auch alle technischen Voraussetzungen und Forderungen dafür erfüllt. Allein das sollte anerkannt werden. Visafreiheit ist kein „Freifahrtschein“, wie es die CSU befürchtet. Noch ein Punkt: Polen allein stellt pro Jahr rund eine Million Visa für Ukrainer aus. Es gäbe also auch hier genügend Wege, um nach Deutschland zu kommen. Aber das passiert nicht. Reisefreiheit ist doch vor allem für junge Menschen und für die Unternehmen wichtig. Es würde unsere Wirtschaft ankurbeln. Enttäuschen Sie uns bitte nicht!

Bayernkurier: Die Niederländer haben gerade das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine abgelehnt, auch wenn das Votum eher ein Zeichen gegen die „übermächtige EU“ war. Dennoch ein herber Rückschlag?

Melynk: Auf jeden Fall, ein sehr bitterer Tag für alle Ukrainer, die buchstäblich einen hohen Blutzoll für das Assoziierungsabkomen auf dem Majdan bezahlt hatten. Der Schock sitzt immer noch tief in den Knochen. Wir respektieren das Votum der Niederländer, denn ein Referendum ist untrennbarer Bestandteil jeder lebendigen Demokratie. Was wir allerdings nicht verstehen können und nicht hinnehmen wollen, ist, dass 2,5 Millionen Niederländer, das sind 19 Prozent aller stimmberechtigten Wähler, die gegen diesen historischen Vertrag gestimmt haben, das Schicksal von 500 Millionen EU-Staatsbürgern und 45 Millionen Ukrainern in Frage stellen können. Wir hoffen daher, dass die Regierung in Den Haag eine Salomonische Lösung finden wird. Das Referendum hat nämlich keine rechtlich bindende Wirkung. Trotz diesem Rückschlag wird die Ukraine den Weg der Annäherung an die Europäische Union unbeirrt fortsetzen. Punkt. Das Abkommen ist am 1. Januar provisorisch in Kraft getreten. Das bedeutet, dass schon jetzt von der Freihandelszone nicht nur die Ukraine, sondern alle EU-Mitglieder profitieren. Nur ein Bespiel: im Januar-Februar 2016 sind die deutschen Exporte in die Ukraine zum ersten Mal seit 32 Monaten wieder gestiegen, und zwar um satte 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Wir glauben, dass auch die Niederlande, die immer auf freien Handel setzten, diesen Vorteil sehr bald erkennen werden.

Aufregung beim europäischen Song Contest

Russland sprach natürlich mal wieder von einer „Provokation“: Die Ukraine trat beim Eurovision Song Contest in Stockholm mit Jamala an. Die 32-jährige Sängerin verarbeitet in ihrem Lied „1944“ die Deportation der Krimtataren durch den sowjetischen Diktator Stalin nach Zentralasien – und das Schicksal ihrer Urgroßmutter. Fast die Hälfte der 240.000 Deportierten kam damals ums Leben. Erst in der eigenständigen Ukraine durften die Überlebenden in ihre Heimat zurückkehren. Russland protestierte nun offiziell, das Lied sei politisch und verletze deshalb die Regeln des Wettbewerbs. Die Europäische Rundfunkunion in Genf prüfte das Lied und kam zu dem einzig vernünftigen Schluss, dass weder Titel noch Text eine politische Botschaft enthielten. Die Krimtataren sind nach der russischen Invasion Putin und seinen Schergen ein Dorn im Auge, weil sie sich in Erinnerung an 1944 fast ausnahmslos gegen den völkerrechtswidrigen Anschluss an Russland ausgesprochen hatten. Viele krimtatarische Aktivisten wurden seitdem verhaftet, diskriminiert, enteignet, schikaniert und eingeschüchtert. So ist Putins Russland zu seinen Gegnern.

Jamala gibt in ihrem selbst komponierten Lied die Geschichte ihrer Urgroßmutter Nasylchan wieder, die am 18. Mai 1944 mit ihren fünf Kindern von der Krim deportiert wurde. Die einzige Tochter starb während der Deportationsfahrt, ihre Leiche wurde vor den Augen der Mutter „wie Müll“ aus dem Zug geworfen. Die vier Söhne und Nasylchan überlebten, doch nur die Söhne sahen die Krim wieder. Jamalas Urgroßmutter starb 1992. Auf jedem ihrer Alben hat die Sängerin ein Lied auf Krimtatarisch eingesungen. Sie selbst sah Mitte 2014 die Krim zum bisher letzten Mal. Auch in Stockholm wird sie einen Teil ihres Liedes auf Krimtatarisch singen.