Die Ukraine als Auslöser: Krise zwischen der NATO und Russland. (Bild: Fotolia/frizio)
Krieg in der Ukraine

Die Osteuropäer haben die Nato gestürmt

Die Nato habe Russland mit ihrer Osterweiterung provoziert und bedroht, glauben auch im Westen Verteidiger von Präsident Putin. Eine optische Täuschung: Nicht die Nato ist nach Osten vorgedrungen, sondern der Osten hat sozusagen die Nato gestürmt.

Der Westen soll Moskau provoziert haben – die Nato durch ihre angeblich aggressive Ausdehnung nach Osten, die europäische Union durch ihre Osterweiterung und mit dem Versuch, die Ukraine nach Europa zu ziehen und sozusagen altes russisches Kernland aus Russland herauszubrechen. So ähnlich reden nicht nur russische Nationalisten, sondern auch hierzulande Verteidiger von Präsident Wladimir Putin, seiner Annexion der Krim und seiner Kriegs- und Abtrennungspolitik in der Ukraine. Doch wer näher hinschaut und über zeitgeschichtliches Erinnerungsvermögen verfügt, erkennt, dass diese Sichtweise falsch und politisch blind ist.

Nato-Erweiterung: Die osteuropäischen Länder strebten nach Sicherheit vor Russland

Wer auf die Europakarte zeigt und von aggressiver Osterweiterung der Nato spricht, der unterliegt einer politisch-optischen Täuschung. Ja, die ehemaligen Mitglieder des Warschauer Paktes (WP) sind allesamt Mitglieder der Nato geworden und dazu mit den Baltenrepubliken Litauen, Lettland und Estland drei ehemalige Sowjetrepubliken. Aber die Nato ist nicht nach Osten gegangen. Der Osten ist zur Nato gekommen. Nicht die Nato hat sich aufgedrängt, sondern die ehemaligen WP-Länder haben in die Nato gedrängt, haben sie regelrecht bestürmt und gestürmt. Warum? Nach der Auflösung des Warschauer Pakts 1991 und nach 40- bis 50-jähriger sowjetisch-russischer Okkupation strebten die endlich frei gewordenen Ex-Vasallen der Sowjetunion nur nach einem: Sicherheit vor Russland. Bei den baltischen Republiken mit zum Teil starken ethnisch-russischen Minderheiten war dieses Sicherheitsbedürfnis besonders ausgeprägt. Zur Erinnerung: Während des komplizierten politischen Prozesses der Wiedervereinigung Deutschlands war auch in Bonn stets die Sorge groß, Michael Gorbatschow könnte scheitern oder weggeputscht werden – was ja auch fast geschah – und die alten Sowjet-Betonköpfe könnten zurückkehren. Noch größere Angst vor einer sowjetischen oder imperialen Rückkehr Russlands hatten natürlich dessen unmittelbare Nachbarn und erst recht die baltischen Republiken. Erstaunlich ist heute höchstens russische Geschichtsvergessenheit: Die Russen haben sich in Osteuropa 40-50 Jahre lang furchtbar aufgeführt – aber heute wollen sie nicht begreifen, warum sie in Osteuropa kaum jemand mag.

Weil der EU-Beitritt so schwierig war, sollten die Osteuropäer sich zunächst an die Nato wenden

Mitte der 90er Jahre wären die Osteuropäer am liebsten auch so schnell wie möglich der EU beigetreten – des Geldes wegen, das sie sich von einer EU-Mitgliedschaft erhofften. Aber das ging nicht. EU-Beitritte sind kompliziert. Beitrittskandidaten müssen einen langen Verhandlungsprozess durchlaufen und Schritt für Schritt das sogenannte Acquis communitaire übernehmen – das gesamte Gesetzes- und Regelwerk des EU-Binnenmarktes. Die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten waren von EU-Beitrittsreife weit entfernt. Trotzdem wollten die Westeuropäer die postkommunistischen Länder an der östlichen Außengrenze der EU unbedingt stabilisieren. Jedem war klar: Wirtschaftliche Stabilität setzt politische Stabilität voraus – und Sicherheit. Weil der EU-Beitritt so schwierig war, sollten die Osteuropäer sich zunächst an die Nato wenden. Denn für den Beitritt zur Nato mussten nicht Staat und Wirtschaft beitrittsfähig gemacht werden, sondern (fast) nur die Armee. Das war einfacher. Die Nato sollte leisten, was die EU zunächst nicht leisten konnte: politische Stabilität nach Osteuropa exportieren.

So haben sich das die Westeuropäer damals gedacht. Das hat auch funktioniert: 1999 wurden zunächst Polen, Tschechien und Ungarn Nato-Mitglieder. Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und das post-jugoslawische Slowenien, befanden sich im Aufnahmeprozess – was auch zu ihrer politischen Stabilisierung beitrug – und wurden März 2004 in das Bündnis aufgenommen. Ebenfalls 2004 waren acht ehemals kommunistische Staaten soweit, dass sie auch der EU beitreten konnten.

Garantie für Russland 1990? Das hätte an Jalta erinnert – oder an den Hitler-Stalinpakt

Von der Nato ist seit dem Ende des Kalten Krieges nie eine Bedrohung für Moskau ausgegangen. Im Gegenteil. Die Nato-Länder haben ihre Armeen reduziert und ihre Verteidigungshaushalte beschnitten. Bis heute. Ganz anders Russland, das schon seit Jahren massiv aufrüstet. Seit 2007 hat sich Russlands Militärhaushalt fast verdreifacht. Moskau leistet sich gerade ein zehnjähriges Waffenmodernisierungsprogramm, das 300 Milliarden Dollar kostet. Russlands Ausgaben für Verteidigung und Sicherheit werden dieses Jahr um 30 Prozent wachsen und dann ein Drittel des Staatshaushaltes ausmachen, berichtet die Londoner Wochenzeitung The Economist. Immer häufiger veranstaltet die russische Armee nahe der Grenzen von Nato-Mitgliedern große und oft überraschende Manöver. 2013 wurde innerhalb eines solchen Manövers sogar ein Nuklearschlag gegen Warschau geübt.

Bei der deutschen Wiedervereinigung sei den Russen zugesichert worden, die Nato würde sich niemals nach Osten ausdehnen und ehemalige WP-Mitglieder aufnehmen. So lautet eine andere Behauptung der Putin-Versteher. Aber das ist ein Mythos und kein intelligenter. Bei der Wiedervereinigung Deutschlands betrafen alle Zusicherungen immer nur das Territorium der DDR. Die Bundesrepublik und die Nato haben sich auch daran gehalten: Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR wurden keine Nato-Truppen dauerhaft stationiert und erst recht keine US-Atomwaffen.

Absprachen über die Zukunft der Staaten des Warschauer Paktes waren 1990 völlig ausgeschlossen. Den Warschauer Pakt gab es noch. Kaum jemand hätte die Vorhersage gewagt, dass er und die ganze Sowjetunion sich innerhalb wenig mehr als eines Jahres auflösen würden. Völlig undenkbar wäre es für Washington, London und Paris gewesen – erst recht für Bonn –, sich mit den Russen zusammenzusetzen und Vereinbarungen zu treffen über die Zukunft Polens oder anderer osteuropäischer Länder. Das hätte an Jalta erinnert, wenn nicht gar an den Hitler-Stalin- Pakt. Wer von einer Garantie der Nicht-Ausdehnung der Nato fabuliert, der unterstellt, die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges hätten Europa noch einmal aufgeteilt – und Moskau eine osteuropäische Einflusssphäre garantiert. Absurd.

Boris Jelzins große Friedenstat bei der Auflösung der Sowjetunion 1991: Die Grenzen der Sowjetrepubliken bleiben!

Für die Ukraine war alles noch viel schlimmer. Sie hatte nicht nur 45, sondern 70 Jahre sowjetkommunistischer Despotie zu ertragen. Stalins Zwangskollektivierung der ukrainischen Landwirtschaft kostete viele Millionen Ukrainer das Leben. Gegenüber dem britischen Premier Winston Churchill sprach Stalin im Oktober 1943 von zehn Millionen Toten. Stalin wörtlich (so berichtet es jedenfalls Churchills Leibarzt Lord Moran): „Was ist schon eine Generation?“

Bei der Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 fasste Russlands damaliger Präsident
Boris Jelzin eine dramatische Friedens-Entscheidung, erinnerte jüngst US-Präsident Bill Clintons Vize-Außenminister Strobe Talbott im Washingtoner Politico Magazine: Die Grenzen der alten Sowjetrepubliken sollten unverändert auch die der souveränen postsowjetischen Länder in der neuen Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) bleiben. Problem: Damit fanden sich von einem Tag auf den anderen etwa 25 Millionen ethnische Russen außerhalb Russlands wieder. Aber die Alternative wäre ein jugoslawisches Szenario gewesen: Ein Bürgerkrieg um ethnische Grenzen in einem Riesenland mit elf Zeitzonen – und weitläufig verstreuten Atomwaffen. Boris Jelzin mag ein Alkoholiker gewesen sein und korrupt. Aber diese Entscheidung war eine große, große Friedenstat, für die ihm die Welt dankbar sein muss.

Die für so viele Russen bittere Jelzin-Garantie war Voraussetzung dafür, dass die Ukraine zusammen mit Weißrussland und Kasachstan 1994 die auf ihrem Territorium befindlichen Atomwaffen aufgab. Im Memorandum von Budapest wurde der Ukraine dafür territoriale Integrität garantiert – von Moskau, Washington und London. Wladimir Putin hat jetzt nicht nur das Memorandum von Budapest geschreddert, sondern zugleich Jelzins Friedens- Entscheidung, dass Russland die Grenzen der ehemaligen Sowjetrepubliken nicht anrühren wird. Das betrifft und bedroht alle postsowjetischen Staaten – und kann noch gefährlich werden.

Tauziehen um die Ukraine? Die Bedeutung der Fußball-EM 2012

Die EU liefere sich mit Russland ein unverantwortliches Tauziehen um die Ukraine, das nun zum Bürgerkrieg geführt habe. So lautet eine andere These der Putin-Versteher. Doch bei der Krise um die Ukraine geht es allein um die Wünsche der Ukrainer – und Russland will sie ihnen verbieten. Die meisten Ukrainer haben Ende 2013 einfach nur entschieden, dass sie lieber leben wollen wie die Polen und nicht wie etwa die Weißrussen. Kein Wunder: Den Ukrainern ist etwas ganz Simples klar geworden. 1990 waren sie reicher als die Polen. Aber heute ist Polen drei oder vier Mal so reich wie die Ukraine. Weil Polen sich für wirtschaftliche und politische Reformen entschieden hat, für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und den Weg nach Europa. Die Ukraine ist nach 1991 dagegen einen russischen Weg gegangen: Kaum Reformen, keine Rechtsstaatlichkeit, Oligarchie statt Demokratie.

Die Fußball EM 2012, die von Polen und der Ukraine gemeinsam ausgetragen wurde, hat das alles den Ukrainern drastisch vor Augen geführt – Bulgariens Präsident Rossen Plewneliew hat es auf der vergangenen Münchner Sicherheitskonferenz schön beschrieben (Bayernkurier vom 14. Februar, Seite 9). Zigtausende ukrainischer Schlachtenbummler konnten im Nachbarland mit eigenen Augen sehen, wie weit es die Polen gebracht haben – und wie wenig Fortschritt sie selber in zwanzig Jahren gemacht haben. Millionen Ukrainer mehr haben das gleiche auf ihren Bildschirmen zuhause gesehen – das hatte Wirkung. Seit 2008 verhandelte die Ukraine mit der EU um ein Assoziierungsabkommen. Jetzt wurde es für die Ukrainer zur großen Hoffnung auf eine bessere, polnische Zukunft. Als Präsident Viktor Janukowitsch das Abkommen im November 2013 auf Moskauer Druck dann doch nicht unterzeichnen wollte, haben die Ukrainer ihn schließlich davongejagt. Das ist die Geschichte der Maidan-Revolution, nichts anderes.

Präsidentschaftswahl 2014: Auch die Mehrheit der Ostukrainer wählt Europa

Aber Moskau will den Ukrainern die Abwendung vom russischen Modell nicht erlauben. Die Ukrainer sollen nicht leben dürfen wie die Polen. Nur darum führt Wladimir Putin Bürgerkrieg in der Ukraine. Und wie in jedem Bürgerkrieg geht es für ein ganzes Volk um die große existentielle Frage: Welche Zukunft sollen das Land und seine Menschen haben? Die Ukrainer haben sich eindeutig entschieden: gegen Russland, gegen Kleptokratie, gegen Stagnation und wirtschaftlichen Abstieg – für Reformen, für ein Leben wie es die Polen haben. Die Präsidentschaftswahlen am 25. Mai vergangenen Jahres und die folgenden Parlamentswahlen haben das sichtbar gemacht: Auch im russischsprachigen Osten und Südosten der Ukraine haben absolute Mehrheiten für west-orientierte Parteien gestimmt.

Putin will an der Ukraine ein Exempel statuieren, überlegt The Economist: Russlands Nachbarn sollen sehen, was passiert, wenn sich ein Land von Russland ab- und dem Westen zuwendet. Die Europäer dürfen nicht erlauben, dass er damit durchkommt.