Londons früherer Bürgermeister Boris Johnson. (Bild: Imago/ Xi Images)
Brexit-Debatte

Wohin steuert Großbritannien?

Nach dem Kompromiss mit der EU nimmt die Brexit-Debatte in Großbritannien Fahrt auf - und Premier Camerons Hauptgegner kommt aus der eigenen Partei. Mit Londons Bürgermeister Johnson haben die EU-Gegner jetzt einen prominenten Mann an der Spitze. Es könnte der Vorbote eines Kampfes um die Tory-Parteispitze werden und damit auch darum, wer künftig das Land führt.

„Ich glaube, wir haben einen tollen Deal für Großbritannien erreicht – wir haben jetzt das beste aus beiden Welten.“ Mit diesen Worten hat Großbritanniens Premier David Cameron am letzten Wochenende die heiße Phase der Debatte um ein Ausscheiden seines Landes aus der Europäischen Union eingeleitet. Beim Gipfeltreffen in Brüssel war nach der Absage des türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu die vom Vereinigten Königreich angestrebte künftige Sonderrolle in der EU unerwartet auf Position Eins der Tagesordnung gerutscht. Nach stundenlangen Verhandlungen – Teilnehmer sprachen mitunter von einem echten „Drama“, das die Briten aufführten – stellte sich David Cameron vor die Kameras und verkündete einen Kompromiss, dank dem er seinen Landsleuten jetzt empfehlen könne, für einen Verbleib in der Union zu stimmen.

60 Prozent der Unternehmer wollen in der EU bleiben.

Die Unternehmer im Land stehen dabei hinter dem Kompromiss. Die britische Außenhandelskammer begrüßte die ausgehandelten Positionen und sagte dem Premier ihre Unterstützung für dessen Kurs zu. Und laut einer Umfrage will die Mehrheit der britischen Unternehmer beim Referendum im Juni für einen Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union stimmen. Eine am Montag veröffentlichte Erhebung des Unternehmerverbandes IoD ergab, dass 60 Prozent seiner Mitglieder in der EU bleiben wollen. 31 Prozent hätten sich für einen Austritt aus der EU ausgesprochen, neun Prozent seien noch unentschieden. 672 Firmenchefs nahmen laut IoD an der Umfrage teil.

Sogar Regierungsmitglieder wollen für den Brexit stimmen

Wirft man aber einen Blick auf die Reaktion der Medien in Großbritannien, scheint der vieldiskutierte „Brexit“ aktuell der wahrscheinlichere Ausgang des Referendums zu sein, das die konservative Regierung am 23. Juni auf der Insel abhalten will. Denn Cameron kann sich bei seinem Kampf für die EU-Mitgliedschaft nicht einmal auf die MItglieder seiner eigenen Regierung verlassen. Schon wenige Stunden nach dem EU-Gipfel teilten sechs Kabinettsmitglieder mit, gegen den Verbleib stimmen zu wollen.

Johnson sucht die Konfrontation

Der prominenteste Vorkämpfer der Anti-EU-Bewegung – und wahrscheinlich auch der mit der größten Zugkraft – aber sitzt nicht in Camerons Kabinett. Die Ankündigung von Londons Bürgermeister Boris Johnson, für den Austritt zu werben, ist der eigentliche Tiefschlag für den Premier. Die Meinung des Parteifreunds von Cameron wird nicht nur in der Hauptstadt geschätzt: Einer BBC-Umfrage zufolge sind Johnsons Standpunkte im ganzen Königreich geschätzt, nur Camerons Werte waren besser.

Derselben Umfrage zufolge wollen etwa ein Drittel der Wähler in Großbritannien raus aus der EU, ein weiteres Drittel möchte unbedingt in der Union bleiben. Gekämpft wird jetzt um das dritte Drittel – die Unentschlossenen. Doch mit der Positionierung von Boris Johnson gegen David Cameron bekommt der Kampf um die Zukunft des Landes auch noch eine persönliche Note. Denn spätestens seit seiner Wiederwahl als Bürgermeister – und seiner gleichzeitigen Tätigkeit als Abgeordneter im Unterhaus – wird Johnson immer wieder als schärfster innerparteilicher Konkurrent Camerons betrachtet. Im vergangenen Jahr hatte Cameron immer wieder laut darüber nachgedacht, nach dieser Wahlperiode nicht mehr als Parteichef und Premierminister weitermachen zu wollen. Fragt man die Tories nach möglichen Nachfolgern, fällt der Name Boris Johnson erstaunlich häufig. Seit 2008 ist Johnson Bürgermeister von London, seit 2015 sitzt er zusätzlich wieder im Parlament. Der leidenschaftliche Fahrradfahrer ist im ganzen Land beliebt – mit seinen privaten Skandälchen und seiner lockeren Art verkörpert er für viele die andere Seite der Tories – und fungiert als Gegenstück zum mitunter zu perfekt und bisweilen steif wirkenden Cameron.

Die Briten haben die Gemeinschaft stets vor allem als gemeinsamen Markt gesehen.

Professor Iain Begg

Zur weitverbreiteten EU-Skepsis in Großbritannien meinte der Politologe Professor Iain Begg: „Die Briten haben die Gemeinschaft stets vor allem als gemeinsamen Markt gesehen.“ Doch seit dem ersten britischen Referendum 1975 ist die Gemeinschaft immer mehr zur politischen Union geworden. „Eine immer engere Union ist aber nicht das, wofür die Briten gestimmt haben“, erklärte Begg.

Auftrieb für die Anti-EU-Fraktion

Bislang hatten sich Cameron und Johnson bei öffentlichen Statements gegenseitig mitunter etwas aufgezogen, dabei aber stets Respekt und Unterstützung für den jeweils anderen betont. Jetzt werten manche Kommentatoren auf der Insel Johnsons Versuch, sich an die Spitze der Anti-EU-Bewegung zu stellen, als Versuch der Positionierung für den Tag, an dem über die neue Spitze der Tories bestimmt wird – und damit wahrscheinlich über die Position des künftigen Premierministers.

Es gibt zu viel juristischen Aktivismus, es gibt zu viele Gesetze, die von der EU kommen.

Boris Johnson

Das Projekt der politischen Gemeinschaft „ist in Gefahr, außer Kontrolle zu geraten“, sagte Johnson selbst. Der Europäische Gerichtshof etwa spreche für rund 500 Millionen Menschen Recht. „Es gibt zu viel juristischen Aktivismus, es gibt zu viele Gesetze, die von der EU kommen.“ Johnson sagte jedoch ausdrücklich, sein Engagement für den Austritt sei nicht gegen Premierminister David Cameron gerichtet. Den bislang eher profillosen EU-Gegnern gibt Johnson jetzt ein Gesicht, das Sympathien bringt – nicht nur im konservativen Lager. Johnson gilt als liberaler Konservativer, der mit seiner Wahl im eher linken London bewiesen hat, dass er parteiübergreifend Stimmen sammeln kann. Der bislang etwas konfusen „No“-Kampagne dürfte Johnsons Engagement Auftrieb geben. Für Cameron wird es – so die einhellige Meinung der Medien auf der Insel – jetzt noch schwerer, Großbritannien trotz signifikanter Erfolge beim Gipfel in der EU zu halten. Seit Brüssel ist aber auch klar: David Camerons politisches Schicksal ist jetzt untrennbar mit der EU-Mitgliedschaft seines Landes verbunden.

(Quelle: dos/dpa)