Halbzeit in Brüssel: Beim Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union sind die ersten Verhandlungsrunden beendet. Die Bewertung der Ergebnisse fällt allerdings unterschiedlich aus – je nachdem, mit welchem Landesvertreter man spricht. Bundeskanzlerin Angela Merkel etwa bezeichnete die Gespräche rund um eine europäische Lösung der Flüchtlingsproblematik als „zufriedenstellend“, setzt jetzt aber auf das für Anfang März terminierte Treffen mit dem türkischen Premierminister Ahmet Davutoglu, um greifbare Ergebnisse zu erzielen. Die Staats- und Regierungschefs hätten den Ende November gefassten EU-Türkei-Aktionsplan nicht nur bekräftigt, sondern auch zur Priorität beim Umsetzen der gemeinsamen Ziele erklärt. Das seien der bessere Schutz der EU-Außengrenzen, die Bekämpfung der illegalen Migration und dadurch die Reduzierung der Flüchtlingszahlen. Auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker setzt jetzt auf das Treffen mit Ahmet Davutoglu Anfang März. Dieses war überhaupt erst nötig geworden, weil der Premier seine geplante Teilnahme am Brüsseler Gipfel aufgrund des Terroranschlags von Ankara kurzfristig abgesagt hatte.
Um die Kanzlerin wird es einsam
Die Unterstützung für die Kanzlerin aber schwindet zusehends. Nachdem Schweden schon vor einigen Wochen seine Grenzpolitik massiv geändert hat und mittlerweile sogar Flüchtlinge an den Grenzübergängen abweist, hat sich in den letzten Tagen mit Österreich der nächste Verbündete verabschiedet. Stattdessen kommen aus Wien deutliche Töne in Richtung Bundesrepublik.
Im Vorfeld des Gipfels hatte das Land beschlossen, künftig nur noch 80 Asylanträge pro Tag bearbeiten zu wollen. Neben der Obergrenze hatte Wien festgelegt, dass bis zu 3200 Flüchtlinge pro Tag nach Deutschland durchgeschleust werden können. Zumindest dann, wenn die Bundesrepublik zustimmt.
Aber eine Regierung muss mit Blick auf die Realität Beschlüsse fassen, die sie im eigenen Land zu verantworten hat. Das haben wir getan, und da glaube ich, dass wir Schritte gesetzt haben, die Deutschland auch noch setzen wird.
Werner Faymann, SPÖ, Österreichischer Bundeskanzler
Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann sagte im Interview mit den „Salzburger Nachrichten“ vor dem Gipfel in Bezug auf die Flüchtlings-Obergrenze: „Aber eine Regierung muss mit Blick auf die Realität Beschlüsse fassen, die sie im eigenen Land zu verantworten hat. Das haben wir getan, und da glaube ich, dass wir Schritte gesetzt haben, die Deutschland auch noch setzen wird.“ Da weder die Sicherung der Außengrenzen, noch die Verteilung der Menschen mit Asylrecht auf Europa oder eine gemeinsame Organisation der Rückführungen in der EU stattfänden, sei „Österreich gezwungen, auf nationaler Ebene zu handeln“.
Nur die EU-Kommission steht noch hinter Merkel
In Brüssel setzten die Österreicher dann noch eins drauf: Die „Koalition der Willigen“ innerhalb der EU – also jene Staaten, die an der Seite Deutschlands weiter für eine europäische Lösung des Flüchtlingsansturms arbeiteten – „existiert nicht mehr“, stellte Innenministerin Johanna Mikl-Leitner fest. Der letzte treue Verbündete Angela Merkels ist damit die Europäische Kommission um Jean-Claude Juncker. Dieser hatte die Bemühungen der Kanzlerin unlängst als „historisch“ bezeichnet und angekündigt, auf lange Sicht werde die Kanzlerin mit ihrem Kurs Recht behalten. Jetzt nahm Juncker die Österreicher ins Visier: Deren neue, faktische Flüchtlingsobergrenze – bei 80 Asylanträgen pro Tag läge die Einreisezahl jährlich bei unter 30.000 – sei aus europäischer Sicht „rechtswidrig“, so der Kommissionspräsident. Die EU-Kommission hält das Vorgehen für unvereinbar mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Genfer Konvention sowie mit Artikel 18 der EU-Grundrechtecharta.
Wir können getrost allen sagen, dass wir helfen. Wir sind keine Wegdrücker.
Werner Faymann
Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann ließ den Luxemburger aber kühl abblitzen: „Juristische Meinungen werden von Juristen beantwortet. Politisch sage ich: Wir bleiben dabei.“ Sein Land habe bereits im Vorjahr deutlich mehr Asylanträge gehabt als beispielsweise Italien und Frankreich. „Jeder, der schon mal auf der Landkarte nachgesehen hat, weiß, dass zum Beispiel diese beiden Länder größer sind als Österreich und auch mehr Einwohner haben“, sagte er. „Wir können getrost allen sagen, dass wir helfen. Wir sind keine Wegdrücker.“
Großbritannien rückt in den Fokus
Stattdessen rückte in Brüssel das eigentlich zweitwichtigste Thema des Gipfels – die künftige Rolle Großbritanniens in der Union – ins Zentrum der Beratungen. Premierminister David Cameron steht unter Druck – seit Monaten hat er den Februar-Gipfel mit den EU-Kollegen als das Treffen angepriesen, bei dem er seinen propagierten „better deal for Britain“ festzurren will. Seine Forderungen sind weitreichend: Eine Rückführung von Kompetenzen in die einzelnen Landesparlamente, mehr Flexibilität bei Sozialleistungen für EU-Ausländer, ein Mitspracherecht in der Eurozone.
Mitspracherecht bei Fragen der Eurozone?
Und auch wenn zur Halbzeit des Gipfels noch immer keine konkreten Ergebnisse zu vermelden sind, legt sich Cameron zumindest verbal auffällig ins Zeug. Er habe für die Verhandlungen drei Hemden mitgebracht, teilte Cameron mit – „und ich denke, die werde ich auch brauchen“. In den sozialen Netzwerken präsentiert sich der Premier als harter Kämpfer für sein Land. Gut für ihn: Die EU scheint in hohem Maße kompromissbereit zu sein, um das Vereinigte Königreich in dem Verbund zu halten. Schon vorab hatte die EU-Kommission in vielen Bereichen Entgegenkommen signalisiert – einzig hinter dem von London gewünschten Mitspracherecht bei Entscheidungen, die die Eurozone betreffen, verbirgt sich noch echtes Konfliktpotential. Großbritannien ist nicht Mitglied der Eurozone, daher verweigern die Euroländer strikt ein Mitspracherecht für das Land.
Referendum schon Ende Juni
Dennoch erwarten die meisten Beobachter, dass sich die EU und Großbritannien auf eine gemeinsame Linie einigen werden. Das ist für David Cameron wichtiger als für den Rest Europas. Er muss mit konkreten Ergebnissen zurück nach London kommen, um gerade die Europakritiker in seiner eigenen Partei wieder hinter sich zu bekommen. Denn dann könnte auf der Insel alles ganz schnell gehen. Im britischen Parlament wird ein Datum für das geplante EU-Referendum immer heißer gehandelt: Der 23. Juni.