Brexit-Dämmerung über Westminster? (Bild: HM)
Brexit

Europäisches Mobile in Gefahr

Über die Folgen des "Brexit" für Großbritannien wird viel geredet und geschrieben. Über die Folgen für die Europäische Union viel weniger. Ein Fehler. Denn die EU wäre von einen Tag auf den anderen eine ganz andere: weniger transatlantisch, dafür kontinentaler, deutscher. Ohne die Briten wäre die EU kleiner und schwächer − ausgerechnet in einer Zeit wachsender Gefahren von Osten und Süden.

Wer die Europäische Union verstehen will, der sollte in einem ruhigen Augenblick einmal an einer Kinderzimmer-Decke ein Mobile studieren. Beobachten, wie alle Teile nah und fern miteinander zusammenhängen, mit einander verbunden sind. Wie sie ausgewogen und gegeneinander austariert und plaziert sind. Wie ein Gleichgewicht entsteht, in dem alle Teile einander scheinbar schwerelos schwebend umkreisen, berühren oder auch nicht berühren. Ein kleines Kunstwerk der Balance und des Gleichgewichts.

Preisfrage: Was passiert mit einem Mobile, wenn man ausgerechnet eines seiner größten und schwersten Teile einfach abschneidet?

Wie die Europäische Union. Denn auch die EU ist im Grunde ein Mobile. Ein sehr großes, sehr kompliziertes Mobile aus 28 unterschiedlich großen und unterschiedlich schweren Teilen. Die auch alle miteinander verbunden und gegeneinander austariert sind, einander berühren und umkreisen – vielleicht nicht immer ganz so schwerelos schwebend wie im Kinderzimmer. Trotzdem: Auch das 28-teilige EU-Mobile ist ein feines Kunstwerk, ein Kunstwerk großer Politik und Strategie. Preisfrage: Was passiert mit einem Mobile, wenn man eine Schere nimmt und ausgerechnet eines seiner größten und schwersten Teile, das noch dazu nicht in der Mitte, sondern am Rande aufgehängt ist, schnipp-schnapp, einfach abschneidet?

Nach dem Brexit wäre die Europäische Union eine andere – strategisch, politisch, wirtschaftlich.

Denn genau das würde der Brexit – der britische Ausstieg aus der Europäischen Union – für das EU-Mobile bedeuten. Das schwebende Gleichgewicht wäre zerstört, alles hinge schief, die übrigen 27 Teile stießen hart aneinander. Nichts bewegte sich mehr, schon gar nicht schwerelos schwebend. Die EU an sich wäre plötzlich eine andere, stünde ganz anders da – strategisch, politisch, wirtschaftlich.

Weniger transatlantisch, mehr kontinental

Ohne die Briten verlöre die EU etwa zum guten Teil ihren euro-atlantischen Charakter, beobachtet der französische Ex-Diplomat und renommierte geopolitische Denker Franςois Heisbourg. Die EU würde von einem euro-atlantischen zu einem eher kontinentalen System – mit Deutschland als Mittelpunkt. „Ein Europa ohne die Briten würde viel deutscher“, erklärte kürzlich ebenso der britische Politikexperte Robin Nibbet in der Pariser Tageszeitung Le Monde.

Deutschland: Zu schwer für das Gleichgewicht, zu leicht für die Hegemonie.

Ein deutscheres Europa – das wäre für niemanden in Europa komfortabel, am wenigsten für Deutschland. Denn die Deutschen fänden sich in ihrer alten misslichen Lage wieder, erinnert wieder Heisbourg: „zu stark, um nicht kulturell, strategisch und politisch dominant zu sein, aber nicht stark genug, um seinen Partnern seine Wünsche aufnötigen zu können.“ Zu schwer für das Gleichgewicht, zu leicht für die Hegemonie.

Noch unbequemer wäre es für Frankreich: Neue Zeiten brächen an mit neuen, anderen politischen Verbindungen und diplomatischen Achsen in Europa: Die Osteuropäer würden sich auf Deutschland als politischem und wirtschaftlichem Zentrum ausrichten, andere vielleicht auch. Frankreich fände sich in geringerer Minderheitenlage wieder, an den westlichen Rand einer mitteleuropäischeren, gar östlicheren EU gedrängt.

Schwer vorstellbar, dass Frankreich einen Rollentausch im couple franco-allemand akzeptieren würden.

Noch sieht sich das wirtschaftliche schwächere Frankreich gegenüber Deutschland auf Augenhöhe. Das hängt auch mit seiner britischen Verbindung zusammen: Die beiden arbeiten etwa militärisch eng zusammen. Das verleiht Frankreich zusätzliches strategisches und politisches Gewicht. Ohne den britischen Partner wird auch Paris schwächer in Europa. Das hätte Folgen für das „couple franco-allemand” – das französisch-deutsche Ehepaaar, wie die Franzosen gerne sagen, und in dem sie sich gerne als dominanter Partner sehen. Schwer vorstellbar, dass Frankreich einen Rollentausch im „couple franco-allemand” so ohne weiteres akzeptieren würden. Während des Kalten Krieges funktionierte die Mobile-Balance zwischen Frankreich und dem halben Deutschland auch ohne Großbritannien. Im wiedervereinigten Europa mit dem wiedervereinigten Deutschland nicht mehr.

Kleinere, schwächere EU

Ohne die Briten würde die EU kleiner und schwächer – strategisch, politisch, wirtschaftlich. Und das ausgerechnet in einer Zeit wachsender geopolitischer Gefahren von Osten wie von Süden. Mit 440 statt 500 Millionen EU-Europäern bliebe die Europäische Union zwar immer noch die größte Wirtschaftsmacht der Welt, versichert Robin Niblett: „Aber sie verlöre eines ihrer dynamischsten Mitglieder, mit Sitz im UN-Sicherheitsrat, einen ihrer stärksten militärischen Akteure und einen ihrer glühendsten Befürworter internationaler Handelsabkommen.“ Ohne die Briten würden die Europäer verwundbarer für Druck von Russland und für die neuen Gefahren, die von den Brandherden eines zerfallenden Mittleren Ostens ausgehen, warnt Heisbourg.

Die EU verlöre eines ihrer dynamischsten Mitglieder, mit Sitz im UN-Sicherheitsrat, und einen ihrer stärksten militärischen Akteure.

Robin Niblett

Was bedeutet: Die Europäer wären noch mehr auf Amerika angewiesen als zuvor. Zu einem Zeitpunkt, in dem die Amerikaner sich sichtbar von Europa und von als rein europäisch empfundenen Problemen abwenden. Die verkleinerte und geschwächte EU wäre für die USA zudem ein uninteressanterer, unattraktiverer Partner. Was Washingtoner Abwendungstendenzen noch verstärken würde. Auch das hätte weitere Folgen für das EU-Mobile: Osteuropäische Mitgliedsländer auf der Suche nach Sicherheit vor Russland würden sich von Brüssel ab- und Washington weiter zuwenden.

Europa würde deutscher – oder südeuropäischer

Ohne die Briten würde Europa deutscher. Wirtschaftlich auf jeden Fall. Der deutsche Anteil am Gesamt-Bruttosozialprodukt der Rest-EU würde schlagartig wachsen. „Der Ausstieg der Briten könnte das Gewicht Deutschlands nur verstärken, zum Besseren oder zum Schlechteren“, schreibt wieder Franςois Heisbourg: Die Wertschöpfungskette, die die deutsche Industrie mit den kontinentaleuropäischen Partnern verbindet, würde wichtiger. Mit Blick auf die Wettbewerbsfähigkeit und die Arbeitsplätze würde sich darüber niemand beschweren, meint Heisbourg und fährt dann fort: „Wir müssen uns aber klar machen, dass das auch Folgen für unsere politischen Margen und unseren Spielraum hätte. Was Tschechien, Österreich oder die Slowakei ohne große Schwierigkeit akzeptieren könnten, würden Frankreich und Italien nicht so ohne weiteres hinnehmen.”

Wie würde Paris, wie würden die Franzosen darauf reagieren, wenn stärkerer Reform-Leidensdruck ausgerechnet von Deutschland käme?

Ohne die Briten würde sich für die Franzosen auswirken, was aufeinanderfolgende Regierungen in Paris versäumt haben: schmerzhafte Reformen, die das Land in Europa und weltweit wettbewerbsfähiger machen. Frankreich, das sich zu solchen Reformen erst noch entschließen muss, fände sich wieder neben einem Deutschland, das schon erfolgreich reformiert hat. In dem ungleichen Wettbewerb der ungleichen Partner würde Deutschland wirtschaftlich weiter gewinnen und Frankreich weiter verlieren.

Was Tschechien, Österreich oder die Slowakei ohne große Schwierigkeit akzeptieren könnten, würden Frankreich und Italien nicht so ohne weiteres hinnehmen.

Franςois Heisbourg

Der Reformdruck auf Frankreich würde steigen. „Was vielleicht der notwendige Schock wäre, damit in Frankreich endlich Reformen umgesetzt würden“, mein Niblett. Mag sein, dass für Frankreich der Leidensdruck tatsächlich noch steigen muss, bis es Reformen anpackt. Nur: Wie würde Paris, wie würden die Franzosen darauf reagieren, wenn dieser Leidensdruck ausgerechnet von Deutschland käme?

Berlin würde einen wichtigen Partner verlieren

Ohne die Briten würde Europa deutscher. Das fürchten die Franzosen und würden sich darum mit anderen zusammen tun, die das ebenfalls fürchten – mit Italien und Spanien etwa. Europa würde dann südeuropäischer. Das fürchten jedenfalls die Deutschen und andere nördliche und östliche Europäer. Was zu neuen Spannungen führen würde, die dem EU-Mobile auch nicht gut täten.

Ein Brexit wäre auch für Deutschland eine Katastrophe, denn das marktwirtschaftliche Lager in der EU würde stark an Einfluss verlieren.

Neue Zürcher Zeitung

Sicher ist, dass den Deutschen die Briten fehlen würden. Denn wirtschaftlich stehen die Briten den Deutschen näher als die Franzosen. „Ein Brexit wäre auch für Deutschland eine Katastrophe, denn das marktwirtschaftliche Lager in der EU würde stark an Einfluss verlieren“, warnt denn auch die Neue Zürcher Zeitung. Briten und Deutsche stehen in der EU für Liberalismus und soziale Marktwirtschaft. Franzosen und etwa Italiener – der notorische Club Med – stehen dagegen für zentralistische Staatswirtschaft, Staatsintervention, hohe Verschuldung und noch höhere Staatsquote.

Das ist kein bloßer wirtschaftsphilosophischer Konflikt. Es gibt wirklich etwas zu verlieren: Großbritannien gehört mit 2,2 Prozent Wachstum in Europa zu den wachstumsstärksten Partnern. Deutschland hält sich mit 1,5 Prozent halbwegs gut. Frankreich und Italien liegen mit schon lange niedrigen Werten nahe Null und jetzt 1,1 und 0,7 Prozent sehr viel schlechter. Bei der Arbeitslosigkeit sind Briten und Deutsche mit 5,1 und 6,2 Prozent die Musterschüler. Frankreich und Italien stecken mit 10,2 und 11,4 Prozent Arbeitslosigkeit tief in anhaltender Krise. Die hochverschuldeten Südländer wollen die Umverteilungsunion. Die Deutschen wollen das nicht, und die Briten, erinnert die NZZ, sind dabei ihre stärksten Verbündeten.

Die Wirkung des Brexit wäre dramatisch. Er würde all jene Parteien anstacheln, die Nationalismus und Rette-sich-wer-kann predigen. Das Risiko des Zerfalls würde sich vervielfachen.

Robin Niblett

Und schließlich: Wenn die Briten gingen, verlöre die EU nicht nur ein großes, wichtiges Mitglied, sondern überhaupt zum ersten Mal ein Mitgliedsland. Für die EU – und für ihren europäischen Prozess – wäre das der erste große Rückschlag und ein viel gravierenderer, als es eine Euro-Pause für die Griechen je hätte sein können, so Heisbourg. Und das ausgerechnet zu einer Zeit, zu der populistische Stimmungen ohnehin Oberwasser haben. Niblett in Le Monde: „Die Wirkung des Brexit wäre dramatisch. Er würde all jene Parteien anstacheln, die Nationalismus und Rette-sich-wer-kann predigen. Das Risiko des Zerfalls würde sich vervielfachen.“ Unbegreiflich wäre auch: Um die Griechen im Euro zu halten, haben die Europäer jahrelang gekämpft und Hunderte von Milliarden investiert. Und dann sollen sie die unendlich viel wichtigeren Briten einfach so gehen lassen? Und das soll dann keine Folgen haben?

TTIP könnte die Briten halten

Viele Europäer, viele Deutsche verlieren mit den britischen Euroskeptikern allmählich die Geduld. „Sollen sie doch endlich gehen, dann sind wir endlich unter uns”, sagen manche – und sind unvorsichtig mit ihren Wünschen. Denn die könnten in Erfüllung gehen. In Umfragen lagen die EU-Befürworter vor einer Woche mit 51 gegen 49 Prozent nur noch knapp vorne. In einer neuen Umfrage für die Tageszeitung The Independent steht es schon 52 zu 48 für den Brexit. So könnte es weiter gehen: In einer YouGov-Umfrage für die Tageszeitung The Times waren 56 Prozent der Befragten der Auffassung, die Zugeständnisse, die Premierminister David Cameron für Großbritannien herausschlagen wollte, genügten nicht. Wenn es um Europa geht, liegen optimistische Umfragen auch gerne gefährlich falsch: 2005, Monate vor der Abstimmung über den Europäischen Verfassungsvertrag, sahen Umfragen das „Ja“ mit 70 Prozent vorne. Trotzdem stimmten die Franzosen dann mit 54,7 und die Niederländer gar mit 61,6 Prozent dagegen.

Wenn die Briten sich je entscheiden müssen zwischen Amerika und Europa, dann werden sie sich immer für die USA entscheiden.

Was könnte die Briten, die über der anhaltenden Eurokrise und angesichts europäischer Hilflosigkeit gegenüber der wachsenden Migrantenkrise immer euroskeptischer werden, noch umstimmen? TTIP, meint Heisbourg. Denn beim Transatlantischen Freihandelsabkommen würden die Briten unbedingt dabei sein wollen. Umgekehrt kann europäische TTIP-Ablehnung den Europa-Unwillen der Briten nur verstärken. Denn den Briten ist ihre alte Sonderbeziehung zu den USA wichtig, ein bisschen als Ersatz für das verlorene Empire. Man muss befürchten: Wenn die Briten sich je entscheiden müssen zwischen Amerika und Europa – sei es, weil die Europäer sich von Amerika entfernen, sei es, weil die Amerikaner, wie sich derzeit in Washington anbahnt, von Europa abwenden – dann werden sie sich immer für die USA entscheiden.